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                     Eine Rosette als Weltmodell

 

Eine Skizze, März 1974

 

 

Wer sich die zeichnerischen Darstellungen der enorm komplizierten "Weltmodelle" von Jay W. Forrester ("Der teuflische Regelkreis") und Dennis Meadows ("Die Grenzen des Wachstums") mit ihren 43 resp. 99 "Grössen", "Zuständen", "Raten" und "Variablen" vor Augen hält, gerät ob der vielen Vierecke, Kreise, Ventile, Pfeile und Linien in nicht geringe Verwirrung. Eine Gliederung scheint da nicht ausfindig gemacht zu werden können.

 

Wer weiter bedenkt, einen wie kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit, in der wir leben, diese angeblichen "Gesamtmodelle" erfassen, der verspürt den Wunsch nach einer gegliederten Übersicht, welche Anschaulichkeit mit Vollständigkeit vereint.

 

John McHale hat vor einigen Jahren mit seinem "globalen Ecosystem" den Anfang gemacht. Der Kybernetiker Karl Steinbuch referierte darüber am internationalen Symposium "System 69" in München. Doch auch dieses Modell mit fünf Kästchen, welche die primäre und sekundäre Umwelt, den biophysikalischen, technologischen und psychosozialen Bereich repräsentieren und durch neun kantige Pfeile in Beziehung zueinander gebracht werden, vermag das Auge nicht zu erfreuen. Zudem entbehrt es ebenfalls der Vollständigkeit.

 

 

Prägnanz und Vollständigkeit

 

Aus den Ansätzen der Systemtheorie lässt sich jedoch ein Weltmodell entwickeln, das sowohl den Forderungen nach gestalthafter Prägnanz als auch nach Berücksichtigung aller Bereiche nachkommt. Wie jedes Modell dient es der Orientierung, und zwar in diesem besonderen Fall dem Bürger wie Politiker, dem Fachspezialisten wie dem Forscher, kurz allen Fragenden und Suchenden.

Dieses Weltmodell ist die Karte, nach der sich das "Raumschiff Erde" durch die tausendfältigen Probleme und Fährnisse auf die notwendige "planetare Gemeinschaft", auf das Bewusstsein und Ziel der "One World" hin manövrieren lässt - bevor alles vom Strudel des Ungenügens und der babylonischen Verwirrung verschlungen worden ist.

 

Die gewissermassen synoptische Vergegenwärtigung dieses Musters, das an Bedeutung etwa mit dem Bohrschen Atommodell verglichen werden kann, befriedigt das Bedürfnis nach Zusammenschau. Sie beugt der Gefahr vor, dass wesentliche Zusammenhänge und gegenseitige Abhängigkeiten aus dem Blick verloren und die "Einbettung in das Ganze" nicht mehr gesehen werden; anderseits ermöglicht sie die sinnvolle Einordnung von Problemkomplexen wie Einzeltätigkeiten.

Freilich haften diesem Schema ähnliche Mängel wie dem Bohrschen Modell an: Es ist wie jedes Modell eine Simplifikation und entspricht nur bedingt den Gegebenheiten. Sein Vorteil liegt jedoch ebensosehr im Prinzipiellen: Es lässt sich damit arbeiten.

 

 

Strukturierte Einheit

 

Dieses nun im einzelnen vorzuführende Modell geht davon aus, dass wir uns mit einem Pluralismus von Supersystemen abfinden müssen, dass eine "letzte Einheit" zwar anzustreben, aber nie zu erreichen ist. Nur von Einheit zu sprechen, ohne sie zu strukturieren, ist wenig fruchtbar. Meist läuft es ohnehin darauf hinaus, dass irgendwann beliebige Bezirke ausgegrenzt werden müssen, die dann in mehr oder weniger grosser Isolierung der amorphen Masse anderer Objekte und Ereignisse entgegenstehen, wobei zwar nicht die Bezüge zum Einen, wohl aber zum Ganzen verloren gehen.

 

Ebenso unergiebig ist es, von der Tatsache auszugehen, dass "alles mit allem zusammenhängt". Auch hier müssen früher oder später Beziehungen herausgerissen werden, und der Rest bleibt unberücksichtigt. Dieser Sachverhalt ist schon lange als Aspektivität oder Perspektivität bekannt. Es gelingt dabei nie, eine Gesamtheit zusammenzuflicken.

 

Also gilt es, eine sinnvolle Mitte zwischen dem "Einen" - beispielsweise "Welt" oder "Wirklichkeit" - und dem unendlich "Vielen" und Vielfältigen zu finden, mithin die Gesamtheit der Phänomene so zu strukturieren, dass die Vollständigkeit bei gleichzeitiger Übersichtlichkeit gewahrt blieb.

Ein Leitgedanke bildete hierbei die Gliederung nach Integrationsniveaus, von denen sich in erster Annäherung etwa neun unterscheiden lassen. Sie hängen am ehesten zusammen mit den akzidenziellen Bestimmungen in der Kategorie Raum:

 

1. Elementarteilchen - Atome

 

2. Elemente – Moleküle - Verbindungen

 

3. Stoffgemenge

 

4. Geräte – Maschinen - Möbel - Textilien

 

4. Zellbestandteile - Zellen

 

5. Bauten – Anlagen - Netze

 

6. Tellbestandteile - Zellen

 

7. Gewebe – Organe - Glieder

 

8. Organismus

 

9. Gemeinschaften – Herden - Stöcke

 

10. Gemeinschaftsleistungen

 

11. Geo-, Biosphäre

 

12. Sterne -. Planetensysteme

 

13. Galaxien

 

14. All

 

 

Visualisierung

 

Wie Forrester selbst schreibt, liegt es "in der Natur unserer Sprache und damit der Art und Weise unserer Wirklichkeitsbetrachtung, einen Situationsbericht in der Form einer in Kategorien geordneten Aufzählung von Problemen zu erstatten".

Er meint damit wohl, dass, wie in obigem Fall, der Mensch dazu neigt, Gruppierungen in Form von untereinander geschriebenen Wörtern, hintereinander geschriebenen Sätzen, also mit Listen und Tabellen, Reihen und Katalogen vorzuführen. Glücklicherweise ist der Mensch aber nicht nur ein Wesen der Sprache, sondern auch eines des Sehens. Wir leben heute unbestreitbar in einem zunehmend visuellen Zeitalter, man denke nur an den Siegeszug der Illustrierten und Comic-Strips, des Films und Fernsehens, und nicht zuletzt des Hobbyphotographierens und -filmens. Audiovisuelle Lehrprogramme halten schrittweise in Industrie, Schule und Verwaltung Einzug, Bücher werden zunehmend mit Photos angereichert, mit graphischen Darstellungen und gar farbigen Schemata und Zeichnungen aufgelockert.

 

Eine erste Form wissenschaftlicher Visualisierung war das  Schichtmodell, nahegelegt unter anderem durch die schriftliche Fixierung von Gedanken in Zeilen - freilich auch in Analogie zu geologischen Schichtungen und Sedimenten.

Eine andere Form waren die synoptischen Tabellen, die sich zu gewissen Zeiten grosser Beliebtheit erfreuten. Davon gehalten hat sich etwa der "Kulturfahrplan".

 

Doch diese Visualisierungen bleiben weitgehend eindimensional: Schicht ruht auf Schicht, Jahr folgt auf Jahr. Wichtige Zusammenhänge geraten so unters Eis, auch bei Zwiebelmodellen oder Matrizen.

 

 

Welt als Rosette

 

Das Weltmodell der Systemtheorie ist im vierdimensionalen Raum angesiedelt. Dies freilich cum grano salis, da es sich in beachtlichen Abstraktionshöhen bewegt.

 

Kurz: In der Aufsicht präsentiert es sich als Rosette (Integrationsniveaus 10 und 11) mit vier Dreier-Satelliten (die andern 12 Integrationsniveaus). In der Seitenansicht präsentieren sich die Satelliten als eine Art Kugelhaufen, die Geo-Biosphäre als Kugel und die zehn ihr angeschmiegten Systeme als Kuchen; die Schichttheorie Nicolai Hartmanns hat hier Eingang gefunden.

In jedem dieser zehn menschlichen "Kultur"-Systeme lassen sich nämlich vier bestimmende Aspekte aufweisen, nämlich:

  • geistige,
  • seelische,
  • organische,
  • anorganische.

 

Die zeitliche Dimension ist für alle 23 Supersysteme bedeutsam, desgleichen die räumliche. In besonderem Masse ist sie bei den zehn überindividuellen Human-Systemen der Rosette zu beachten, wo sie vorwiegend geographisches Gepräge hat, verquickt freilich häufig mit wirtschaftlichem, politischem, kulturellem, usw.

 

Werden unter dem Zeitaspekt hauptsächlich Entstehung, Fortentwicklung, Lebensdauer, Epochen und Verfall untersucht, so spielen unter dem Raumaspekt die politischen und administrativen Grenzen eine Hauptrolle. So haben wir etwa Nationen, Bundesländer (Bundesstaaten, Kantone), Bezirke oder Kreise und Gemeinden (Dörfer, Städte), aber auch Rassen, Völker, Stämme und Kulturen, Gaue, Regionen und Agglomerationen sowie Institutionen und Gruppen.

 

Damit gelangen wir zu den Beziehungen zwischen den Systemen. Zwischen den Supersystemen bestehen prinzipiell 253 solche. Für ein einziges der zehn Human-Supersysteme beläuft sich, so man es beispielsweise räumlich nach den auf der Erde vorhandenen Staatsgebilden spezifiziert, die Anzahl der Beziehungen auf über 10 000.

Das erhellt deutlich, was für ein komplexes Geflecht nur schon z. B. die internationale Diplomatie bildet. Der gesamte "Kulturaustausch" in den zehn Supersystemen umfasst so der Möglichkeit nach weit über 100 000 Ströme, wohlverstanden immer noch innerhalb so undifferenzierter Systeme wie "Kunst" oder "Wissen" oder "Wirtschaft", freilich in globaler Sicht.

 

(Für eine andere Art von Beziehungen, siehe z. B. Diagramm II).

 

 

Aufgliederung der Supersysteme

 

Desungeachtet müssen die Supersysteme in je etwa ein bis drei Dutzend Hauptsysteme aufgegliedert werden, wobei dies weder für jedes System auf dieselbe Weise zu erfolgen hat, noch bereits bestehende und bewährte Unterteilungen - wie z. B. in "Wirtschaft" oder "Politik" oder "Organismus" - über den Haufen geworfen werden. Manche lassen sich sinnvoll ergänzen.

 

Das Supersystem „Kunst“ enthält beispielsweise die elf Hauptsysteme Theater, Musik, Literatur, Plastik, Architektur, Malerei, Graphik, Kunstgewerbe, Volkskunst, Film, Photographie, aber auch Radio und Fernsehen, Unterhaltung und Vergnügen, Freizeit, Erholung, Spiel, Sport, Reisen, ferner Ausübung und Interpretation, Betrachtung und Konsum, Kritik und Erforschung, Ausstellung und Handel, Festspiele und Auszeichnungen, usw.

 

 

Demokratie

 

Subsumierungen dieser Art haftet selbstredend stets eine mehr oder minder grosse Künstlichkeit oder gar Beliebigkeit an. Man stelle sich vor: Goethe und ein Vereinsabend, Caruso und Eile mit Weile, chinesisches Porzellan und Fussball in einem Topf!

 

Doch geht es hier eben gerade nicht um Gefässe, in die man kunterbunt etwas hineinstopft, sondern um Systeme. Und solche zeichnen sich durch grösstmögliche Neutralität aus. Wenn man so will, sind es Verdichtungsstellen von Beziehungsgeflechten; man kann sie auch als Komplexe Knäuel, Knoten oder Kerne sehen. Wichtig ist jedenfalls, dass sie in Analogie zum Weltmodell als Karte grösseren Massstabs der Wegleitung in einem der Supersysteme dienen, so dass kein bedeutsamer Aspekt aus den Augen verloren wird.

 

Diese Systembetrachtung hat den Vorteil, dass sie Super- und Hauptsysteme als untereinander völlig gleichberechtigt betrachtet. Da wird nicht Picasso gegen Industriewerbung, ein Aubusson gegen eine Spitzenbluse, Hamlet gegen Fasnacht oder Margot Fonteyn gegen Tango tanzende Tanten ausgespielt. Es geht vielmehr um Zusammenhänge, um Einsicht in Abhängigkeiten und Verständnis von Bedingungsgefügen, um Orientierung im Alltag und in der Forschung.

 

 

Fliessende Übergänge

 

Diese "demokratische" Betrachtung bedeutet auch, dass ein Hauptsystem durchaus in mehreren Supersystemen angetroffen werden kann, was sogar beinahe die Regel ist. Der Aspektivität ist damit auf neue Weise Rechnung getragen.

 

Hinzu kommt, dass die Hauptsysteme nicht nur noch weiter in eigentliche Systeme und diese bedarfsweise in Teil- und Subsysteme gegliedert werden, sondern dass es kaum feste Grenzen gibt. Zwischen den meisten Gebilden und Ereignissen bestehen fliessende Übergänge, und es ist, wie bei allen Gliederungen und Abgrenzungen, eine Frage der Praktikabilität, wo man scheidet. Hierbei fliessen gewiss häufig, mehr oder weniger unbewusst, Wertungen ein. Doch die kritische Besinnung, der ein Schritt zurück, um Distanz zu gewinnen, respektive der Blick auf die Karte jeweils kleineren Massstabs, gute  Dienste tut, vermag manche anfänglich schiefe oder einseitige Strukturierung in ein ausgewogeneres Mass zu rücken.

 

 

Einander bedingende Komponenten

 

Die Schichtung schliesslich weist darauf hin, dass es, um beim Supersystem „Kunst“ zu bleiben, auch da mehrere Komponenten zu berücksichtigen gilt, man denke nur an die Bühnentechnik und die Musikinstrumente, an Hämmer und Öfen, Kleider und Kameras. Die physiologischen Bedingungen für Ballett oder Bildhauerei sind etwa Gewandtheit, Kraft und Ausdauer; dass der Pinsel auch mit Mund oder Füssen geführt werden kann, ist bekannt, ebenso wie wichtig die Stimme ist.

Der Problemkreis des Seelischen besteht wie in zahlreichen andern Supersystemen in Arbeitsklima und Einsatz, Vertrauen und Hilfsbereitschaft, Ausdruckskraft und Geschmack; der geistige Bereich umfasst nicht nur Inspiration und Berechnung, sondern auch Organisation, Planung, Zielsetzung, usw.

 

Räumliche und zeitliche Bestimmungen spielen selbstverständlich auch in den Hauptsystemen eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Hinzu kommen freilich wie schon bei den Supersystemen etwa 20 weitere Arten von .kategorialen Bestimmungen, von denen sich die meisten schon bei Aristoteles finden. Die Reihe reicht von Qualität und Quantität über Struktur und Funktion, bis zu Privation und Negation.

 

 

Pluralismus der Ziele

 

Dieser skizzierte Systemapparat gibt dem Suchenden und Fragenden ein Gerüst an die Hand, mit dessen Hilfe er sich in der Fülle der Gebilde, Geschehnisse und Relationen zurechtfinden kann.

 

Es bleibt noch die Frage der Ziele. (Die Werte gehören primär ins Supersystem "Weltanschauung", die Normen zur "Gesellschaft“.)

Mit der Anerkennung eines Pluralismus der Systeme ist auch die Anerkennung des Pluralismus der Ziele verbunden. Wie die Projektion der "Einheit" gibt auch etwa diejenige der "One World" oder des "Punktes Omega" (Teilhard de Chardin) wenig her. Wie wäre sie mit Inhalt zu füllen, mit Massnahmen auszukleiden?

 

Alle "obersten" Ziele decken überdies nie das ganze Spektrum der Supersysteme ab. Ob Erhaltung der Menschheit und der Ökosphäre, ob Selbstverwirklichung und Wohlstand, Glück und Friede, Gleichgewicht und Leistungsoptimierung, Anpassung und Freiheit oder "das Gute, Schöne und Wahre" - stets bleibt manches Supersystem unberücksichtigt.

Und wie diese Aufzählung zeigt, besteht tatsächlich bereits ein Pluralismus der Ziele. Es wäre nun sinnvoll, diese Ziele den Supersystemen zuzuordnen unter Verzicht auf das "eine" Ziel.

 

Das vorgeführte Weltmodell könnte mithelfen, desungeachtet wenigstens die Harmonisierung der divergierenden Zielsetzungen voranzutreiben. Das ist eine Aufgabe, die in jüngster Zeit an Aktualität gewonnen hat. Inflationsbekämpfung und optimale Rohstoffversorgung, Altersvorsorge und Chancengleichheit im Bildungswesen, Garantie von Leben und Eigentum, ausreichende Information und Mitbestimmung, Vollbeschäftigung und Recht auf ein Leben frei von Angst und Druck, Integration von Minderheiten, Gerechtigkeit und Forschungsförderung, Sicherheit und Anpassung, Gleichgewicht und Selbstverantwortung, Anregung und Wohlfahrt lassen sich nicht so leicht unter einen Hut bringen.

 

Wenn jedoch anhand einer genauen Betrachtung dieser Rosette unter Berücksichtigung der tausendfältigen Beziehungen zumindest ein Verständnis dafür geweckt wird, dass enge Blickwinkel und partikuläre Interessen überwunden werden müssen, damit echte Demokratie in Wissenschaft und Wirtschaft, Politik und Weltanschauung, bei jedem einzelnen wie in Gruppen, möglich wird, dass hat dieses systemtheoretische Modell sein Nützlichkeit erwiesen.

Wenn dies in ein nüchternes und gesamthaftes Abwägen von Prioritäten ausmündet, indem sinnvolle Kompromisse transparent gemacht werden, dann könnte manches, was uns heute bedrängt, leichter und leichter werden.

 


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