Home Skizze der noetischen Optik II

 

Ein Brief, 18. April 1973

 

siehe auch: Skizze der noetischen Optik

 

 

Lieber Herr S.,

wie versprochen sende ich Ihnen einige skizzenhafte Unterlagen zum "Welt-System". Die Sache ist natürlich recht kompliziert - wie könnte es auch anders sein -, dennoch aber versuchte ich, einen strengen Schematismus auszuarbeiten, der freilich manchem darin Eingepressten Zwang antut. Im Hintergrund rutscht die Sache zudem häufig ins Philosophische ab (z. B. Erkenntnistheorie), was sich ebenfalls kaum vermeiden lässt.

 

Das Hauptstück, das ich Ihnen schicke, ist mein (abgelehntes) Projekt für den Nationalfonds, von der ich eine englische Fassung für Prof. Howard Raiffa, Int. Inst. für angewandte System-Analyse bei Wien, herstellte. Dem möchte ich hier noch folgendes vorausschicken:

 

Tragende Prinzipien sind:

  • die Perspektivität des menschlichen Denkens und Tuns, d. h. das Betrachten und Behandeln von Sachen unter bestimmten Aspekten;
  • ein Dreierschematismus, d. h. eine höhere Stufe der Komplexität gegenüber Gegensatz, Polarität, Dichotomie, usw.;
  • grösstmögliche Allgemeinheit, Universalität und Übersicht.

 

 

Nun beginne ich etwa folgendermassen:

 

Die Welt (oder: "was es so alles gibt") lässt sich unter drei Perspektiven betrachten:

 

1.a. Gleich ursprünglich existiert eine Fülle von Sachen, d. h. Gebilden (figures) in einem verwirrenden Geflecht von Sachverhalten. "Sachverhalt" heisst: Die Gebilde haben allerlei Bestimmungen (categorial conditions) und stehen bezüglich einzelner Bestimmungen zu anderen Gebilden in Beziehung (relation). Ihre Bestimmungen erfahren Veränderungen (changes), und damit auch ihre Beziehungen, usw. (Diagramm Ia)

 

1.b. Eine besondere Art von Beziehung (nämlich eine "noetische"), die das Gebilde "Mensch" zu andern Gebilden hat, ist die Hinsicht oder Perspektive, "unter" der diese Gebilde gesehen werden. Diese Hinsicht bestimmt u. a. die "Alsheit“ von Gebilden, z. B. System oder Element, Ursache oder Wirkung, Mittel oder Zweck, Bedingung oder Bedingtes (Diagramm I; näheres im Text)

 

2. Betrachte ich die Fülle von Gebilden und Sachverhalten so, dass ich ein Individuum (Organismus, Maschine, Unternehmen) aus seiner Umgebung oder Situation heraushebe (was bereits Voraussetzung für 1.b. war), dann ergibt sich Diagramm II. Die In- und Outputs dieser je 5 untereinander zusammenhängenden Systeme (=Aspekte) "bestehen“ aus Materie oder Energie, mit Sach- und Informationswert, die zusätzlich (bei Organismen) mit seelischem Wert „aufgeladen“ werden können.

 

3. Da der "noetische Blick“ verschiedene Distanzen durchmisst, ist es sinnvoll, etwa 10 Superniveaus zu unterscheiden (Diagramm IIIa). In der Aufsicht lassen sich diese Niveaus mit den zugehörigen Supersystemen als Rosette „anschaulich“ darstellen (Diagramm III), wobei das Supersystem „gemeinschaftliche Leistungen“ in 10 oder 12 "Kultur"-Systeme ausgefächert werden kann: ein Kranz von 10 Hauptsystemen gemeinschaftlicher Leistungen auf dem „Stern“ Erde (Geo- und Biosphäre).

 

Jedes dieser 10 Hauptsysteme lässt sich in verschiedenen Kategorien bestimmen resp. unterteilen, z. B.

 

a) Raum (geographisch): global, national, regional, kommunal;

 

b) Zeit (genetisch): Vergangenheit, Gegenwart; kurz-, mittel-, langfristige Entwicklung.

 

Alle diese 3 Betrachtungsweisen dürften für Sie interessant sein:

 

1. zeigt, was es so alles „gibt“, ferner, dass ein System und seine Elemente (je als Gebilde) in verschiedenen Kategorien bestimmt werden können (eben: Raum, Zeit sowie Qualität, Funktion Struktur, Gestalt, Modalität, usw.), dass bezüglich dieser kategorialen Bestimmungen Veränderungen erfolgen und Beziehungen zu andern Systemen resp. Elementen bestehen.

 

2. zeigt die grundsätzliche Individuum-Umwelt-Beziehung, wobei als Individuum nicht nur ein Organismus, sondern auch eine Maschine (ohne psychisches System selbstverständlich) oder ein Unternehmen gelten kann.

 

3. zeigt, z. B. wovon eines der 10 Hauptsysteme (etwa „Kommunikation“) abhängig ist, nämlich von allen andern 9 Hauptsystemen, der Geo- und Biosphäre (z. B. Topographie), von Maschinen, Netzen aber auch Organismen (z. B. der Mensch) von chemischen Substanzen (z. B. Beton) und astronomischen Einflüssen (z. B. Tag-Nacht).

 

Nun sind die Fragen: Wie lässt sich damit arbeiten und wie lassen sich die Diagramme II und III sinnvoll miteinander in Beziehung setzen?

 

Das „Gesamtverkehrssystem der Schweiz“ ist sicher

 

a) eingebettet in das globale Verkehrssystem (z. B. Flugverkehr und

 

b) ein Teilsystem (des Hauptsystems „Kommunikation“) neben

personaler Kommunikation (persönlicher Kontakt) und

technischer Kommunikation (Nachrichtenübertragung) via Telephon, Telegraph, Briefpost, Fernsehen, aber auch Zeitungen, Bücher, usw.

Wasser-Leitung (Bewässerungsanlagen)

Wärmetransport (Heizwasser)

Elektrizitäts-Leitung

Erdöl- und Erdgas-Leitung

Kapital (Geld-)Verkehr.

 

Die Teilsysteme hängen eng zusammen, beispielsweise da:

a) der persönliche Kontakt oft erst nach einer „Reise" möglich ist,

b) Fernsehen, Zeitungs- und Büchertransport z. T. auf die Post angewiesen sind, und

c) die PTT auch Bahn und Auto, Flugzeug und Schiff ja sogar Fahrräder (=Verkehrsmittel) benützt.

 

Viele altbekannte Fragen spielen da herein:

 

Was wird warum, von wem, wozu wovon, wohin transportiert?

 

Warum „reist" der Mensch, warum "konsumiert“ er die Massenmedien?

 

Gerade das  „Warum“ ist sicher eine Hauptfrage: Warum Pendelverkehr (zum Arbeitsplatz und zurück), warum Ausflugsverkehr, warum Geschäfts- und Konferenzreisen (statt Telephon oder Post), warum „Reparatur“-Verkehr (Handwerker), „Lieferungs“-Verkehr (z. B. von einzelnen Büchern!), warum Einkauf in Shopping-Centers (statt im Quartierladen), usw.?

 

Gehört die Frage nach dem "Warum“ mit vielen andern (z. B. Sinn, Ziel, Funktion) in den sog. Sinnbereich, so fallen andere in den sog. instrumentellen Bereich sowie in den Gegenstandsbereich.

 

Der instrumentelle Bereich betrifft das „Wie" (Methoden und Vorschriften), das „Womit“ (die Mittel und „Wege“) und das „Wodurch“ (Organisation).

 

Der Gegenstandsbereich betrifft naheliegenderweise das „Was“: also die Transportobjekte:

Menschen (gesunde/ kranke/ verunfallte; Berufsleute/ Ausflügler/ Einkäufer mit und ohne „Waren“, usw.)

„Güter“: „Produkte" wie Apparate, Kabel, Medikamente,

„Geschenke“;

Nahrungsmittel;

Rohstoffe;

Energieträger (Kohle Öl, Benzin, Gas)

Informationsträger (Briefe, Zeitungen, Prospekte),

Tiere;

Altwaren, Abfall, usw.

 

Je nachdem, wie weit man „Verkehr“ oder „Transport“ - stets ausser „Nachrichtenübertragung" - fasst, musste man folgende Extremfälle berücksichtigen:

- Pipelines, Förderbänder, Rolltreppen, Lifte, Hubstapler;

- Skilifte, Luftseilbahnen, Kutschen und Schlitten (z. B. in Kurorten);

- Traktoren, Landmaschinen;

- Strassenreinigungsmaschinen;

- Transportanlagen in grossen Unternehmen, an Messen und Ausstellungen;

- Ballone, Segelflugzeuge, neuerdings „Delta“-.Flieger;

- Helikopterrettungsaktionen und -transporte;

- Invalidenfahrzeuge;

- Fussgänger mit Handwagen oder Kinderwagen;

- Kinder mit Dreirädern und Trottinetts, Kindervelos;

- Reiter, Maultiere, Ponys;

- Fahrradwege, Wanderwege;

- Autorennen, Motocross;

- Skifahren, Rollschuhlaufen, Wasserski, Wellenreiten, Eislauf, Eissegeln;

- Militär, Kavallerie, Panzerverlegung, usw.

 

Die Transportobjekte (Menschen, Güter) einerseits und die eben aufgezählten Transport- „Mittel“, nämlich Verkehrsmittel (Exterme: per pedes bis zur Rakete) und Wege (Extreme: Luftstrassen, querfeldein bis unter Wasser) anderseits könnten als konstituierende Inputs des Systems „Verkehr" betrachtet werden. Sie flössen, wenn man dieses System analog den 5 Aspekten des „Individuum“ (oder Unternehmen, Maschine) gliederte, dem Verfügungs-System (Disposal System), zu. Sie bildeten die Gruppe des „materiell/ technischen“ Inputs.

Nun kommen aber weitere 5 wesentliche Inputs dazu (wie bei einem Unternehmen):

  • Energie (Elektrizität, Treibstoffe)
  • Personal (auch Berater und Vermittler)
  • Finanzen (Tarifgestaltung)
  • juristische und politische Einflüsse sowie
  • die zur Verfügung stehende Zeit.

 

Die Verfügbarkeit oder Beschränkung dieser Inputs kann man auch zu den „Rahmenbedingungen“ zählen.

 

Was die andern vier Aspekte betrifft, so könnte dies in Stichworten etwa so aussehen:

 

Ergonomisches System:

a) Leistung von Personal und Verkehrsmitteln,

b) Kapazität der Wege,

c) Arbeitsplatzgestaltung (Sitze, usw.);

 

Biophysikalisches System:

a) Einflüsse von Tageszeit, Klima, Wetter,

b) Gesundheit des Personals,

c) Abgase, Staub, Abrieb; Lärm, Vibrationen;

 

Informationelles System:

a) Informationen,

b) Organisation(en),

c) Verkehrspolitik;

 

Seelisches System:

a) Arbeitsfreude,

b)  Arbeitsklima,

c) Motive, Bedürfnisse (Sinnbereich).

 

Ich breche hier ab. Indem ich hoffe dass diese fragmentarische Skizze und die Diagramme Ihnen einige Anregungen zu geben vermögen, verbleibe ich mit der Bereitschaft, gerne einmal zu einem Gespräch zu kommen.

 


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