HomeDie biozentrische Weltanschauung

 

 

Zusammengestellt im Herbst 1972

 

Siehe auch:   Weltanschauung und Weltbild - Begriffsklärungen und Beispiele

 

 

Die "biozentrische" Gesamtansicht, -schau oder -auffassung von der Welt und der Stellung des Menschen in ihr sowie ihrer beider Wesen, Sinn, Bedeutung, Wert, Geschichte und Bestimmung ist eine Weltanschauung.

 

Weltanschauung wozu?

 

Und sie scheint nun, wie wenige andere sonst, berufen:

·        Orientierungshilfe in "bedrängter Zeit" zu leisten,

·        zur kritischen Besinnung anzuhalten sowie

·        ein Fundament interdisziplinären Studiums und Zusammenarbeitens zu bilden,

also die Lebensgestaltung wie den Fortgang wissenschaftlichen Forschens zu befruchten, indem sie

·        Begriffe klärt und eine homogene Terminologie anbietet

·        Entscheidungskriterien, nämlich Werte und ihre Rangordnung an die Hand gibt und

·        im Aufstellen von Korrektiven Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen Arten menschlicher Erkenntnis und Daseinsbewältigung zeigt.

 

Definitionen von "biozentrisch"

 

Es hat den Verfasser erstaunt, in den massgeblichen Wörterbüchern und Lexika den Begriff "biozentrisch" zu finden.

 

· "Von Klages eingeführter Begriff, der dem Begriff des Logozentrischen entgegengesetzt ist. Damit ist biozentrisch dasjenige Denken, das vom Leben und vom Seelischen ausgeht und im Gegensatz zu einem rationalen Denken mehr symbolisch und verstehend ist" (F. Dorsch, 1963, 55).

 

· "nennt man eine Lehre, die den Begriff 'Leben' in den Mittelpunkt stellt, besonders etwa die Auffassung von L. Klages" (W. Hehlmann, 1968).

 

· Die "Brockhaus Enzyklopädie" (1967) schloss sich hier an: "eine das Leben in den Mittelpunkt stellende Anschauung oder Lehre vorn Menschen, so nach H. Prinzhorn, die Lehre von L. Klages";
und 1970 über "logozentrisch":

"philosophischer Bergriff, der eine Weltanschauung bezeichnet, die den Geist als logisch-ethisch-metaphysisch ordnendes Prinzip in den Mittelpunkt stellt. In dualistischer Entgegensetzung vertritt L. Klages aus lebensphilosophischer Sicht ein biozentrisch bestimmtes Weltbild."

 

· "(vom griechischen 'bios', 'Leben', und lateinischen 'centrum', 'Mittelpunkt') heisst ein Denken, das vom Leben und der Seele, nicht vom Geiste und von der Vernunft ausgeht und daher im Sinne jener symbolisch und hinweisend, nicht im Sinne dieser erklärend und rational verallgemeinernd gerichtet ist; auch Klages" (H. Schmidt, 1951, 63;1969).

 

· "das Leben, seine Erhaltung und Steigerung in den Mittelpunkt (lateinisch 'centrum') stellend und zum Wertmassstab machend, Erkenntnis und Sittlichkeit aus ihm herleitend und ihm unterstellend; Gegensatz: logozentrisch [= im Gegensatz zu biozentrisch die Weltanschauung, bei der nicht das Leben im Sinne des Vitalismus, sondern der Geist im Sinne der ordnenden Weltvernunft ('nous') den Vorrang hat]"

Literaturangaben: R. H. Francé: Zoësis (1920), Die Welt als Leben (1926); L. Klages: Der Geist als Widersacher der Seele (1929-32, 2. Aufl. 1954)

(J. Hoffmeister, 1955, 128, 386).

 

·Das ''Grosse Duden-Lexikon"(1964) schloss sich dieser Formulierung an:

"(gr.) Bezeichnung für eine geistige Haltung, die das Leben, seine Steigerung und Erhaltung in den Mittelpunkt stellt", sowie "logozentrisch" (1966):

"(gr.; lat.) auf den Geist als Mittelpunkt bezogen (z. B. logozentrische Weltanschauung); Gegensatz biozentrisch."

 

· Auch das "Fremdwörterbuch" (1954) des Bibliographischen Instituts Leipzig übernahm diese Kennzeichnungen:

"(Fachgebiet Philosophie) das Leben zum Wertmassstab machen, seine Erhaltung und Steigerung in den Mittelpunkt stellend <griech.> Gegensatz logozentrisch (Fachgebiet idealistische Philosophie): den logos (die ordnende Vernunft) in den Mittelpunkt einer Weltanschauung stellend <griech.>."

 

R. H. Francé ?

 

Neben Klages ist der Name von R. H. Francé gefallen. In Rudolf Eislers "Wörterbuch der Philosophischen Begriffe" (1927) heisst es unter "Biozentrisch" recht dunkel:

 

"Vom Standpunkt des Lebens aus (Vgl. Goldscheid: Entwicklungsök. [1908], S 168). 'Biozentrisch' ist die Philosophie von R. H. Francé ('Biozentrische', 'Zoëtische' Ordnung der Erfahrung, des Erlebens als des einzig Gegebenen); biozentrische oder 'objektive' Philosophie als eine Art des Relativismus, der alles auf den menschlichen Intellekt bezieht, nur das der 'Zoësis', dem Erlebnismöglichen Angehörende untersucht. Die Erscheinungen werden 'biozentrisch', d. h. relativistisch und teleologisch geformt, aber in Abhängigkeit von einer Ganzheit, der der Mensch angehört (Zoësis, 1920, Die Welt als Erleben, 1923)".

 

Es geht wieder um Leben und Seele

 

Das Kennzeichnende der biozentrischen Weltanschauung ist damit genannt. Es geht wieder um das Leben und die Seele.

Selbstverständlich standen diese im Laufe der Menschheitsgeschichte bereits mehrmals im Mittelpunkt, zuletzt in der Romantik und im Jugendstil. Heute nun regt sich erneut der Wunsch, "der Mechanisierung des Weltbildes" (D. J. Dijksterhuis, 1950; dt. 1956) entgegenzuwirken und Herz und Gemüt wieder vermehrt zu ihrem Recht zu verhelfen.

 

Der "Mechanisierung des Weltbildes" entgegenzuwirken

 

Die Indizien sind so zahlreich, dass sie gar nicht vollständig aufgezählt werden können, reichen sie doch von der Forderung nach Demokratisierung, Humanisierung des Städtebaus oder der Arbeitsplatzgestaltung und energischen Teuerungsbekämpfung bis zu einer globalen Abrüstung und ökologischen Moral und kommen immer mehr Politiker und Wirtschaftstheoretiker zur Einsicht, "dass es so nicht mehr weitergeht".

 

Das "Unbehagen in der Kultur", von Sigmund Freud vor über 40 Jahren bereits beschworen, ist manifest geworden, die Ratlosigkeit offensichtlich (vgl. "Gespräche mit Ratlosen", Eugen Löbl, 1970 oder den Film Alexander Kluges: "Artisten unter der Zirkuskuppel: ratlos").

 

Der Ruf nach Umdenken und Besinnung, ja Verzicht und Umkehr gehört zur Tagesordnung. Bürger wehren sich gegen Abbruch- und Baumfällaktionen, Strassenbauten und neue Flugplätze. Die Verschandelung von Stadtzentren und -randgebieten, dörflichen Siedlungen, Erholungsgebieten, Seeufern und Meeresstränden mahnt zum Aufsehen, stets neue Produkte werden dem Käufer angepriesen (vgI. "Die geheimen Verführer", "Die grosse Verschwendung" und "Die wehrlose Gesellschaft" von Vance Packard, 1957, 1961 und 1964), dennoch strömt männiglich in die gigantischen Einkaufszentren am Stadtrand, mietet sich in schreckliche Wohnsilos ein und verstopft durch die Benützung seines Autos die Stadtzentren.

 

Die Haltung des modernen Menschen liegt also ganz in Richtung einer "Schizophrenie": Auflehnung gegen den Wachstumsfetischismus, aber dennoch muntere Teilnahme am Rennen um immer mehr (Lohn, Freizeit, soziale Sicherheit, Güter, Eigentum, Ansehen). Die linke Hand darf nicht wissen, was die rechte tut.

 

Zeitungen, die gegen Motorfahrzeuge, Alkohol, Zigaretten, teure Ferienwohnungen und Grossüberbauungen wettern, bringen seitenweise Anzeigen für solche; Angestellte der Grossindustrie machen ihren Arbeitgeber für die Umweltverschmutzung verantwortlich, greifen aber noch so gerne zur Kopfwehtablette, oder dem Rasierapparat und dem Mixer, die in ebendemselben Betrieb hergestellt werden.

Die Kinder sollen spielen, nur nicht auf dem eigenen Rasen, die "Alten" sollen integriert werden, und dennoch isoliert man sie in Heimen.

 

Am deutlichsten zeigt sich der Teufelskreis in der Weisheit letzter Schluss: Um die Umweltforschung finanzieren und die technischen Mittel für die Sauberhaltung der Umwelt bereitstellen zu können, müssen wir noch mehr (Maschinen, Güter, Chemikalien, Energie) produzieren: Umweltschutz darf nicht auf Kosten des Wohlstandes und der Wirtschaftsexpansion gehen...

 

Immerhin war das Fazit des "Tages der wissenschaftlichen Begegnung", den die Philosophisch-Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Basel im Herbst 1970 veranstaltete, die fast einstimmige Forderung: "Wir sollten wieder Herzensdenker werden!".

 

Was ist die "biozentrische" Weltanschauung?

 

Ist oder bietet nun die biozentrische Weltanschauung so etwas wie eine "neue Weltschau" (1952) im Sinne Jean Gebsers oder einen "Beitrag zu einem modernen Weltbild" (Karl Saur, 1965), ein "neues universelles Weltbild" (Leobrand, 1969), ein "neues Menschenbild" (Arthur Koestler, John Raymond Smythies, 1970) oder "alternatives Lebens- und Bewusstseinsmodell" ("Zero", 1971), eine "Metabiologie und Wirklichkeitsphilosophie" (Erich Heintel, 1944), eine "Psychobiologie" (Hans Lungwitz, 1925ff) oder "Pathosophie" (Viktor von Weizsäcker, 1956) oder "Biophilosophie auf erkenntnistheoretischer Grundlage" (Bernhard Rensch, 1968)?

 

Vertritt sie einen "integralen" (Jacques Maritain, 1936), "universalen" (Arthur Liebert, 1946), "modernen" (Adolf Bohlen, 1957), "atheistischen" (Hans Pfeil, 1959, Wilhelm F. Kasch, 1964, Karl Stürmer, 1964) oder "evolutionären" Humanismus (Julian Huxley, 1964)?

Will sie eine "biologische Anthropologie" (Hans-Georg Gadamer/ F. Vogler, 1972), einen "neuen Glauben an die Schöpfung" (Rupert Lay, 1971), ein "Evangelium für Atheisten" (Josef Luki Hromádka, 1958) oder gar die "Grundlegung einer Ethik der Gesellschaft" (Gibson Winter, 1970) anbieten?

 

Steht sie in der Nachfolge der "magischen Weltlehre" Edgar Dacqués (1926), der "organismischen Auffassung des Lebens" (Armin Müller, 1938, Arno Bendmann 1964 und 1967), des "biomagischen" (Walther Kröner, 1939), "organischen" (J. Friedrich Hartung, 1924, Paul Krannhals, 1928 und 1936, Matthias Reis, 1934), "organisch-funktionellen" (Dominik Schausberger, 1965), "organologischen" (Oscar Feyerabend, 1939), "vitalistischen" (Hans von Wilucki (1935), "physiognomischen" (A. Kassner, 1930), "humanistischen" (H. Fischer, 1932) oder "morphologischen" (Fritz Zwicky, 1966) Weltbildes oder einer "organischen Weltanschauung" (M. Krewer, 1912, John Friedrich Hartung, 1925, Paul Krannhals, 1936)?

 

Bietet sie damit eine" Überwindung des Massenmenschen durch echte Philosophie" (Hans Pfeil, 1956), den "Entwurf eines philosophisch-naturwissenschaftlichen Gesamt-Weltbildes" (W. Sydow, 1961), "Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre" à la Leo Frobenius' "Paideuma" (1921) oder ganz einfach "ein Weltbild für moderne Menschen" (Rolf Dörge: "Mensch und Natur", 1970)?

 

Nein. Es ist ganz einfach die Weiterentwicklung der bereits unter dem Stichwort "biozentrisch" erwähnten Lehre des Menschen und der Welt des Philosophen und Psychologen Ludwig Klages.

 

 

Literatur

 

Friedrich Dorsch: Psychologisches Wörterbuch. Hamburg: Meiner; Bern: Huber 1963.

Wilhelm Hehlmann: Wörterbuch der Psychologie. Stuttgart: Kröner 1959, 5.-10. Aufl. 1968.

Johannes Hoffmeister: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner 1955.

Georg Klaus, Manfred Buhr (Ed.): Philosophisches Wörterbuch. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1964, 6. erweiterte ed. 1969;
Lizenzausgabe u .d. T.: Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie. 3 Bde, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1972

Heinrich Schmidt/ Georgi Schischkoff: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner 11. Aufl. 1951, 18. Aufl. 1969.

 




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