Sein, Wahrheit, Ursprung
Aus einem Text über die „Grundthesen von Ludwig Klages“, Herbst 1972
Die Philosophie kreist um das „Sein“
"Sein" ist ein ebenso fundamentaler wie ständiger Erörterung unterliegender Begriff der Geistesgeschichte seit den alten Griechen, er ist "das Zentrum der Philosophie überhaupt" (Olof Gigon, 1968, 27). Von Parmenides bis zu Martin Heidegger (1927), Nicolai Hartmann (1935), Jean-Paul Sartre (1943) und Günther Jacobi (1925 und 1955) hat er die Philosophen nicht mehr aus seinem Bann entlassen. Die Parmenideische Auffassung, dass allein das Sein ist, nie nicht sein kann und keine Bewegung und Veränderung duldet, ist "ein bleibender philosophischer Grundgedanke, mit dem es ein jedes Denken aufzunehmen hat", meint Hans-Georg Gadamer; Parmenides’ Worte sind "von keinem späteren Denken je ganz überholt worden". Ähnliches gilt für Heraklit: "Die grössten Denker des Abendlandes haben seiner Tiefe ihren Tribut gezollt" (Gadamer, 1965, 17 und 19).
Beim Eleatenproblem kommt Klages erstmals auf Parmenides zu sprechen, der bereits Wirklichkeit und Sein aufs strengste auseinandergehalten habe. Parmenides sichere "gleichwie mit mächtiger Umwallung gegen jede Vermischung mit dem Geschehen das Sein" (W. 49). Parmenides setzt das Sein als einziges unteilbares und unbewegtes allumfassendes Ganzes dem Nicht-Sein gegenüber, von dem er sagt, dass man es weder sagen noch denken könne und dürfe; es sei nicht. Zum Nicht-Sein zählen Entstehen und Vergehen. Was die menschlichen Sinne als Veränderung und Bewegung gewahren ist blosser Schein, da hier der Blick auf Einzelnes, Vieles gerichtet ist. Die "geistige Schau" (theoria) aber gibt uns das Ganze des Eines Seins.
Gilt Parmenides als Begründer der Lehre von Wahrheit und Schein, so sein Zeitgenosse Heraklit als derjenige vom unaufhörlichen Werden und der Einheit der Gegensätze, ihrer Verwandlung und ihres Umschlagens ineinander. Heraklit richtet sein Augenmerk auf die sinnebeglaubigte Wirklichkeit, Parmenides auf das Denken. Dennoch sind beide nicht einsinnig: Obwohl Heraklit Gesehenes, Gehörtes und Erfahrenes vorzieht (Fr. 55), preist er das gesunde oder vernünftige Denken als höchste Tugend, grösste Vollkommenheit. Und obwohl Parmenides das Denken des Seins als einzige Wahrheit betrachtet, weiss er, dass für den Menschen die sinnliche Wahrnehmung Evidenzcharakter hat, glaubhaft, wahr-scheinlich ist.
Ein Pferdegespann zieht und zum Höheren
Schon die Vorsokratiker pflegten also zwischen Sinnlichkeit und Verstand und damit einer sinnlichen und einer geistigen Welt zu unterscheiden. Und ebenfalls schon vor Platon wird ein Aufschwung des Menschen von der niederen zur höheren Schicht, zur Wahrheit gefordert, man denke nur an Parmenides' Schilderung, wie Sonnenmädchen (Göttinnen) die Fahrt seines Pferdegespanns aus dem "Haus der Nacht" zum Licht lenkten. Ein ähnliches Bild des Wagenlenkers kommt auch bei Platon vor, und wie weit beide auf den Erlösungsmysterien der früheren religiösen Kulte beruhen, ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen. Das Bild des Himmelswagens findet sich auch bei Hesekiel (ca. 580 v. Chr.), und im 2. Buch der Könige (Entrückung Elias), ja auch im Gilgameschepos, Mahabharata, Ramayana usw. - was Phantasten wie Robert Charroux und Erich von Däniken Anlass zu den bekannten gewagtesten Spekulationen gab, die in schlichtester Form etwa lauten, der Pegasus sei "eine Art Sportflugzeug" gewesen (Karl F. Kohlenberg, 1970, 293).
Wahrheit ist mit einer Einbusse an Fülle verbunden
Doch zurück zu Wahrheit und Schein. Das Homerische Epos, schreibt Olof Gigon, ist für die griechische Philosophie “das Urbild und der mächtigste Repräsentant dessen ..., was nicht Philosophie ist: Die bunte Vielgestaltigkeit des menschlichen Meinens überhaupt, das der Wahrheit täuschend ähnlich sieht und gerade darum ihr gefährlichster Gegner ist" (1968, 14). Hesiod nun wurde von den Musen, den Töchtern des Zeus, der Auftrag übergeben, die Wahrheit zu lehren. Daher betrachtet Gigon nicht Thales (600 v. Chr.), sondern bereits Hesiod (2. Hälfte 8. Jh. v. Chr.) als ersten Philosophen. ...
Der Weg der Griechen führt also vom Mythos zum Logos (Wilhelm Nestle, 1940), ohne dass freilich der Mythos entbehrlich oder ausschaltbar würde. Dass die Alternative von Wahrscheinlichkeit und Wahrheit nur von den Musen, die Hesiod Beistand gewähren und in des Dichters Worten sprechen, aufgestellt werden kann, bedeutet, dass auch die Wahrheit nur von Göttern gesagt werden kann. "Was Wahrheit heissen soll, das muss eine Gottheit geben" (Olof Gigon, 1968, 18). Dieses Motiv ist nun wiederum äusserst weit verbreitet: Es taucht wieder bei Parmenides auf und bestimmt in anderer Form die ganze christliche Philosophie wie vorher schon die jüdische Überlieferung vgl. z. B. den Sündenfall (Gen. 3, 22) oder "Gott gab Salomo Weisheit und hohe Einsicht und einen Verstand so weitreichend wie der Sand am Gestade des Meeres" (1. Könige 4, 9).
Der Mythos bietet eine Welt der "trügerischen Wahrscheinlichkeiten", der "wandelbaren Bilder" (Gigon, 1968, 14 und 15), der Logos die Welt der Wahrheit. "Das Verhältnis dieser beiden Teile ist eines der umstrittensten Probleme der antiken Philosophie" (Gadamer, 1965, 17). Das Neue bei Hesiod ist nun, dass Wahrheit etwas "Besseres" (Gigon, 1968, 17) sei als die Wahrscheinlichkeit der Homerischen Epen. Und gerade dies ist es, was Klages beargwöhnt, auch wenn er selbst dem "Willen ... zur Wahrheit" (Gigon, 1968, 21) nachgibt und ihn sogar fordert. Das Erreichen der Wahrheit ist jedoch mit einer Einbusse an Fülle verbunden: "Nur Wahrheit statt Wirklichkeit - das ist der geringste, darum nicht minder schmerzliche Preis, den wir dafür bezahlen müssen, dass wir dank dem Einbruch des Geistes ins Leben zur Haltung sachlich urteilender Besinnung ... befähigt wurden" (W. 1419).
Unterschiedliche Bilder für den Ursprung
Ein Zweites ist bei Hesiod die Frage nach dem Ursprung. Wie bei allen Griechen nach ihm gibt es keinen "Schöpfer" der Welt, sondern alles entsteht "von selbst" (Gigon, 1968, 33), eine Auffassung die auch die Kosmologie und Evolutionslehre von Jean-Baptiste Lamarck, Friedrich Wöhler, Julius Robert von Mayer, Charles Darwin und Edwin Hubble bis heute bestimmt. (Daher gelten die Griechen zu Recht als Begründer der Natur-Wissenschaft.)
Selbst der Demiurg des Platonischen "Timaios" ist nicht Weltenschöpfer, sondern nur Ordner, ganz ähnlich wie der Hesiodsche “kosmogonische Eros" die Kraft ist, welche das Werden der Welt (und der Götter) aus dem Chaos (der "Höhlung" - später bei Anaximander präziser als das "Unbegrenzte" gefasst) in Gang bringt. Auch Anaxagoras' (460 v. Chr.) und Aristoteles' Nus sind nur "erste Beweger". Eine andere Auffassung, die noch in diesem Bereich liegt, ist das Entwicklungsprinzip, das erstmals durch Anaximenes (550 v. Chr.) eingeführt wurde als Verdünnung und Verdichtung, also als qualitative Veränderung und zwar der Luft oder des Dampfes. (Noch Goethe äusserte sich am 11. April 1827 zu Eckermann mit den Worten: "Ich denke mir die Erde mit ihrem Dunstkreise als ein lebendiges Wesen, das im ewigen Ein- und Ausatmen begriffen ist.") Bei Anaximander hingegen ist schon im Ursprung die Vielheit - zuerst als Gegensatz von Nacht und Licht - angelegt und wird nur mechanisch ausgesondert.
Die meisten dieser Begriffe oder Bilder sind uns heute fremd geworden. Wir sprechen von Urknall und Ursuppe, von Bauplan und System-Gleichgewicht - doch sind das nicht auch recht seltsame Ausdrücke? Gigon zeigt, woher das kommt. "Alles Fragen ... heftet sich an das Unvertraute, das die Aufmerksamkeit des Fragenden auf sich zieht. Die Aufgabe des Nachdenkens ist es, das Unvertraute auf irgendeine Weise vertraut zu machen ... Unvertraut ist dem Griechen das seine Verfügung und Anschauung Übersteigende im Leben selber. Dies muss zur Anschaulichkeit gebracht und dadurch geistig bewältigt werden ... Die Erklärung durch die Analogie, die Sichtbarmachung des Unanschaulichen durch das Anschauliche... ist die älteste Form philosophischer Welterklärung" (Gigon, 1968, 37).
Zwei Analogien bei den Alten Griechen
Den Griechen kreidet man diese Veranschaulichung nicht an, auch nicht einem Redner, der ständig "gleichsam", "wie wenn", "als ob" verwendet, Klages jedoch hat man seine bilderreiche, oft dichterische Tiefe erreichende Sprache vorgeworfen, dabei kann niemand ohne diese Analogisierungen auskommen, bestehe sie nun in einer Personalisierung der Wesen und Mächte oder Versachlichung durch einen Beizug von Vorgängen und Gebilden aus der vertrauten, alltäglichen Umgebung des Menschen. ...
Bereits die Milesischen Philosophen haben sich vor 2600 Jahren für die Sach-Analogie entschieden. Die erste, von Thales, lautet bekanntlich, inspiriert von Homerischen Gleichnissen, die Erde schwimme auf dem Meer "wie ein Stück Holz"; bei Anaximenes schwimmt sie auf dem Luftmeer. Von Anaximander oder einem andern Naturphilosophen ist bei Aristoteles überliefert: Das Unbegrenzte (Apeiron) umfasse und steuere alles. Dieses "kybernan", das Steuern eines Schiffes, hat der heutigen Kybernetik ihren Namen gegeben. Es taucht dann wieder bei Heraklit (Fr. 41 und 64; das Feuer steuert das Weltall) und Diogenes von Apollonia (Fr. 5, die Luft, die Geisteskraft hat, steuert alles) auf.
Wer sich durchsetzt, wird überheblich und muss dafür büssen
Eine ganz andere Steuerung geschieht bei Anaximander durch "Strafe und Busse". Wie Gigon erläutert, gelten hier Entstehen und Vergehen als eine Abfolge von Unrecht und Busse. Jedoch ist nicht das Entstehen an sich Unrecht. "Dass die Individuation an sich Sünde ist, ist ein indischer aber kein griechischer Gedanke. Griechisch ist der Gedanke, dass das Dasein unvermeidlich Verfehlung mit sich bringt, dass wer sich durchsetzt, auch der Überhebung, der Hybris verfällt und schuldig wird ... Jedes Sich-Durchsetzen führt zum Übermass, und jedes Übermass muss wieder ausgeglichen werden" (Gigon, 1968, 81f). Dieser Gedanke gehört, wie wir noch sehen werden, zu den zentralsten bei Klages und nimmt in der gegenwärtigen "Umweltschutz"-Diskussion einen immer breiteren Raum ein.
Diese Busse für das Unrecht ist notwendig. Es ist aber nicht eine personifizierte Zeit Richter, sondern "Anaximander will sagen, dass der Ablauf des Werdens von selbst nach bestimmter Frist zum Untergang führt. Die Überhebung hat ihre Zeit, und die Busse hat ihre Zeit, die unausweichlich kommt" (Gigon, 1968, 82). Dieses Unrecht und das Untergehen daran ist ein Hesiodsches Motiv; der Geschlechterfluch (Uranos – Kronos - Zeus) gelangt dann in der attischen Tragödie zur vollen Entfaltung. Auch bei Heraklit findet sich dasselbe: "Für Seelen ist es Tod, Wasser zu werden, für Wasser aber Tod, Erde zu werden. Aus Erde aber entsteht Wasser und aus Wasser Seele" (Fr. 36). Wen erinnert das nicht an den Sündenfall (Gen. 3, 19)? In der Formulierung von Xenophanes: "Denn aus Erde ist alles und zu Erde wird alle am Ende (Fr. 27).
Die Pythagoräer entdecken die Autonomie der Seele
Die ersten, die nach dem Schicksal der Seele fragten, waren die vorwiegend in Unteritalien lebenden Pythagoräer (6. und 5. Jh. v. Chr.), die mit dieser Frage diejenige nach dem Wesen der Gottheit verknüpften. Die Pythagoräer waren auch die ersten, die einen eigenen Lebensstil pflegten und sich zu Gruppen zusammenschlossen.
Die pythagoräische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele setzt diese Seele als das Höhere, Vollkommene in schroffen Gegensatz zum Leib als des Gemeinen. Dahinter steckt eine religiöse Leidenschaft, welche die bloss schattenhafte Abbildexistenz Verstorbener im Hades nicht akzeptiert. "Mit Pythagoras tritt die Autonomie der Seele, ihr Sein als Negation des Körpers und der Körperlichkeit in das griechische Denken ein ... Es ist unendlich wichtig zu erkennen, dass in einer religiösen Verkündigung dieser Gegensatz zum ersten Male unter den Griechen auftauchte; nicht als anthropologische Feststellung, dass es auch Seele gebe, sondern als Aufforderung des Glaubens, den Leib als ein Gefängnis der Seele zu verachten und die Reinheit der Seele zu gewinnen. Allerdings hat dieser Gegensatz in der spekulativen Forschung die ungeheuerste Entwicklung veranlasst. Er ist der Ausgangspunkt aller antiken Bemühung um den Begriff des Geistes als eines allem materiellen Sein ausdrücklich Entgegengesetzten" (Gigon, 1968, 133).
Die Seele soll reiner werden
Der Unterschied Seele-Geist wird uns später noch beschäftigen. Wichtig ist vorderhand nur, dass die in ihrer Unsterblichkeit gottähnliche Seele sich in den verschiedensten Leibern verkörpern kann und muss: Es gibt keine Seele ohne Leib, und dieser, im Lauf der Zeit erfolgende Gestaltwandel der Seele geht entweder in die Richtung des Unreinerwerdens (Sturz aus der reinen Feuerregion der Gestirne) oder des Reineren (Aufstieg zu den Göttern).
Der Reinigung können Medizin und Musik dienen. "Der Begriff der katharsis ist eigentümlich pythagoräisch. Er verbindet die Diätetik der Seele mit derjenigen des Leibes" (Gigon, 1968, 143). Die "Reinigung von den Leidenschaften" ist seither ein Bemühen, das in allen Variationen die erzieherischen Anstrengungen der Menschen prägt. Welch bedeutende Rolle die "Katharsis" in der Psychoanalyse seit Freud spielt, ist bekannt.
Vollkommene Götter – unvollkommene Menschen
Mit Pythagoras beginnt auch eine Revision der Göttervorstellungen. Bei Homer und Hesiod waren die Götter "mehr" als die Menschen. Pythagoras lehrt nun den Einen Gott, der die Welt in Gerechtigkeit zusammenhält und allein weiss. Demgegenüber ist der Mensch unvollkommen und ohnmächtig; Er verharrt im Vermuten und Meinen und kann nur vom Sichtbaren auf das Unsichtbare schliessen. Der Mensch unterscheidet sich seinerseits vom Tier (das nur Wahrnehmungen hat) durch das Begreifen. Diese bedeutsame Feststellung stammt von pythagoräischen Mediziner Alkmaion, der als erster Sektionen vorgenommen hat und das Gehirn als Zentralorgan der Wahrnehmungstätigkeit betrachtet und in Zusammenhang mit dem Rückenmark und dem Samen (Geschlechtlichkeit) brachte. Heute sprechen wir von "Genom und Gehirn" (so z. B. ein Buchtitel von Wolfang Wieser, 1970).
Xenophanes geht einen Schritt weiter, wenn er die Götter oder die Gottheit als ungeboren und unsterblich bezeichnet, während sie früher als zwar unsterblich aber geboren gefasst wurden. Xenophanes Intention geht "auf ein absolutes Sein jenseits von Geborenwerden und Sterben, jenseits des Werdens" (Gigon, 1968, 187).
Literatur
W. = Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele. 1929-32. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann
Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Reinbek: Rowohlt, rowohlt klassiker, 1957. Hans-Georg Gadamer (Hrsg): Philosophisches Lesebuch. Bd. 1: Parmenides bis Cusanus. Frankfurt am Main: Fischer-Bücherei 1965. Olof Gigon: Der Ursprung der griechischen Philosophie. Von Hesiod bis Parmenides. Basel: Schwabe 1945, 2. Aufl. 1968. Karl F. Kohlenberg: Enträtselte Vorzeit. Tatsachen – Utopien – Deutungen. München: Langen Müller 1970. Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. Stuttgart: Kröner 1940; mehrer Aufl. bis 1975.
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