Home Aphorismenversuche I

 

geschrieben September – Mitte Oktober 1966

 

siehe auch: Verworfene Aphorismen

 

 

1.

Es gibt nichts, das es nicht gibt. Es gibt alles. In Gedanken, Tun und Lassen, Abscheuliches und Edles, längst Vergangenes und noch nie Dagewesenes, Unenträtselbares und Durchschaubares, Unbegreifliches und durchsichtig sich Offenbarendes - aber nichts Neues?

 

2.

Alles schon dagewesen? Warum nicht. Ist die Bejahung oder Verneinung schon ein Vorurteil? War der ungeschiedene Ursprung vor der zersplitterten Entfaltung, die Vergangenheit vor der Zukunft? Ist, war und wird alles gleichzeitig und überall sein?

 

3.

Schwarzblau mit flimmernden sternförmig erscheinenden Punkten durchwirkt. Die Erde davon einer. Welt. Meine - und die aller Menschen. Dennoch bin ich Ich. Nicht ein anderer. Die Frage nach dem "Warum gerade ... kein anderer?" ist demnach falsch, erübrigt sich.

 

Statthaft, doch unbeantwortbar das "Woher?" Leichter zu fassen das "Wozu?", der Sinn. Der bin ich durch mich für mich selbst. Und dadurch erst bin ich und kann ich Er sein für die Welt und meine Mitmenschen. In zweiter Linie ist der Sinn erst das Du - die Eltern, unwiderruflich abgelöst vom Lebenspartner. Für Eltern sind Kinder erst der dritte Sinn, keineswegs alleiniges Ziel und das Liebste.

 

4.

Welt: Vielheit (Vielfalt) und Einheit (Ganzheit), Wandel (Entwicklung) und Dauer (Stetigkeit) in und von Lebendigem, Unbelebtem und Unstofflichem. Das umfasst alles - ausser dem Einen, Umgreifenden, Gott, das Ganze aus den Gegensätzen, aus dem ewigen Wechsel, dem pulsierenden Atem der Welt.

 

Welt: Letztliche Ambivalenz in der komplementären Polarität einer endlosen Dynamik eines nicht disparitären (oder disparaten), sondern verzahnten Pluralismus? Unentwirrbare gegenseitige Verschränkung alles mit allem im Sinne von Bedingung und Ermöglichung? Ruhender Pol: der Mensch; wach und offen, sprachlos staunend und scharf denkend alles zu durchdringen versuchend, auf dass es in Wahrheit transparent schimmere - in gesetzmässiger Harmonie? Durch das sich selbst durchsichtig Werden in Er-innerung und Entäusserung, in Wahr-geben und Wahrnehmen wird die Welt durchsichtig - und unfassbar.

 

5.

Alles Grosse und Wesentliche lässt sich in einer Handvoll Sätze sagen. Enzyklopädien zeigen nur Unfähigkeit.

 

Die unbegrenzte Vielfalt kann nicht mit Monumentalem, Breitangelegtem und dickbändig Verworrenem eingefangen werden, das ist, wie schon die Absicht, es zu beginnen, nur ein hilfloses Stammeln in einem grossen Irrtum und ergibt ein blasses unvollständig Nachgemachtes, ein mangelhaftes, wenn auch möglicherweise beeindruckendes Abbild. Die Vielfalt ist nur mit äusserster, durchdachter Einfachheit und Klarheit zu fassen - wenn auch diese oft den Weg durch das Leiden des unfasslich Vielschichtigen und Verwickelten nehmen muss.

 

Einfachheit, Konzentration und Schlichtheit ist das Schwierigste und Schönste. Es ist erstaunlicherweise alles so leicht und angenehm, wenn man nach dem Grundsatz lebt, alles möglichst einfach anzupacken, zu gestalten, zu tun und zu verstehen. Es erfordert und stellt eine Anstrengung dar - aber man kann sich darin üben. Kompliziertheit ermöglicht nie Zufriedenheit und Beglückung. Beschränkung indes wohl.

 

Das Leben ist trotz dem Tendieren auf Einfachheit - nicht Vereinfachung, noch Vereinheitlichung - verwirrend, vielfältig, zerrissen und schwer genug; der Ausgleich von aussen kommt schnell. Er wird aber untragbar, wenn das innere Bestreben um und teilweise Erreichen einer Einfachheit nicht vorhanden ist. Allerdings scheint es, dass es einige dabei sehr schwer, andere viel leichter haben.

 

In der Verdichtung auf das Wesentliche schimmert Ruhe und Erhabenheit durch. Auch das Höchste - oder gerade (nur) es - lässt sich schlicht und klar ausdrücken. Was aber wesentlich ist, ist sinnvoll; das andere ist vielleicht möglich, aber nicht notwendig. Oder doch. Man könnte jedoch darob die Hauptsache aus den Augen verlieren. Sich selber. Das Leben, die Welt, Gott.

 

6.

Die eindrücklichsten Aussprüche.

 

Einstein, 1952: Wenn ich rechne und sehe so ein winziges Insekt, das auf mein Papier geflogen ist, dann fühle ich etwas wie: Allah ist gross, und wir sind armselige Tröpfe mit unserer ganzen wissenschaftlichen Herrlichkeit.

 

Kant: Die Einheit des Lebens, die auch das Hervorgehen des Lebens aus dem Leblosen begreifen liesse, liegt, wenn sie ist, unerreichbar im Unendlichen. Die neuen Erkenntnisse vertiefen mit ihren erstaunlichen Ergebnissen im Besonderen nur das Geheimnis im Ganzen.

 

Jung: Ganzheit haben, heisst voll Widerspruch sein.

 

7.

Milliarden: Menschen, Defizite. Viereinhalb oder zwölf an Jahren. Zwölf an Lichtjahren. Je Hunderte davon an Sternen in Hunderten davon an Sternsystemen, Nebeln.

Der milliardste Teil eines Millimeters. Der zehnmilliardste Teil eines Milliardstelgramms, sechseinhalbmal der tausendmilliardste Teil eines Milliardstels.

Irgendwo ein einzelner Mensch, jetzt ... dazwischen. Grenzenlose Offenheit - wohin weist sie? Auf das Zwischen. Auf das Ich, das mit dem Selbst, in ihm, über alles hinauswächst - zu Gott hin und hinein.

 

8.

Es wird vermutlich recht viel gedacht, aber zu oft am falschen Ort, dort wo es gar nicht notwendig, wo alles selbstverständlich sein sollte und einfach ist, im Bereich des Herzens nämlich; aber dort wo es unabdingbar, da macht sich selten jemand ernsthafte Gedanken.

 

9.

Zum Lügen braucht es zweierlei: keine Achtung vor sich selbst und den Mitmenschen - und ein ausgezeichnetes Gedächtnis.

 

10.

Es gibt und braucht immer überall beides: Sitzen und Reisen, Tat und Besinnung, Anstrengung und Erholung, Eifer und Bummelei, Kleinigkeiten und Grosses, Konsequenzen und Inkonsequenzen, Freiheit und Bindung, Einigung und Zerrissenheit in freiem Wechselspiel, teils gleichzeitig, teils einander ablösend.

 

Notwendig, wie in der Liebe, ist aber die gleichzeitige Durchdringung und Aktivität von Gefühl und Verstand, von Seele (Natur) und Geist. Viele Dichter sind nur Gefühlsmenschen, viele Denker nur Philosophen. Es braucht aber den ganzen Menschen - zum alltäglichen Leben wie zum Schaffen von Unvergänglichem.

 

11.

Die Mitte: Sie ist im Pendeln zwischen dem einen und dem andern Pol, zwischen zwei Paradoxa zu treffen. Die einzige Lösung, sie zu festigen ist: die Extreme nicht zu stark werden zu lassen.

 

Das Einhalten dieser Mitte, die Einigung der Gegensätze auf einem mittleren Weg (Kompromiss?), ist so erstrebenswert wie unerreichbar. Man kann im weiten Bereich der Mitte mehr zum Guten oder mehr zum Schlechten hinneigen. Bildlich gesprochen: In der Mitte einer Verbindungslinie zwischen zwei einander ausschliessenden Gegensätzen, von denen aber der eine ohne den andern nicht zu bestehen vermag, in diese Mitte gestellt kann man seinen Blick zum einen oder, um hundertachtzig Grad gedreht, zum andern Pol richten. Von entscheidender Bedeutung ist also nicht der genaue Ort, sondern die Blick-Richtung.

 

Das letzte Paradoxon: die Mitte ist steril, fad und lau, tot. Nur aus Gegensätzen entsteht Spannung für die Schaffung von allem. Je stärker und extremer die Gegensätze, desto grösser die Energie, desto grösser aber auch die Gefahr des Zerrissenwerdens. Also: pendeln zwischen dem Anstreben der Mitte und dem schöpferischen Aufrechterhalten der Gegensätze.

 

12.

Die Psychologie ist die universale Wissenschaft, weil das, womit sie sich beschäftigt, der Schnittpunkt von Stoff und Geist, die lebendige Seele ist, welche alle unsere Erfahrungen und Erlebnisse gebiert, wohin alle Lebenserscheinungen münden und sich selbst offenbar werden.

 

Stimmt das? Oder fehlen hier Philosophie und Theologie?

 

13.

Die Psychologie ist die Wissenschaft, welche in Verbindung mit allen andern dem Leben in seiner Einheit und Gegensätzlichkeit (Ich und Welt) vielleicht gerecht zu werden vermag.

 

14.

Über Geschmack reden kann nur, wer keinen hat. Den Besitzer verblüfft er dadurch, dass er ihm Hand und Auge führt und ihn sich nicht erklären lässt.

 

15.

Gibt es überhaupt unlösbare Probleme? Ist die Art derer, die wirklich unlösbar sind, nicht schon dadurch bewältigt, dass man sie als unlösbar erkannt?

 

Tröstlich: Probleme, Unerledigtes, neu in Angriff zu Nehmendes und Unbewältigtes gibt es immer. Wenn es nicht mehrere sind, so ist es wenigstens ein grosses.

 

16.

Es gibt weniger Gesetzmässigkeiten des Lebens im tragischen Sinn - sonst schon - als man denkt. Man kann sich darüber zu leicht betrügen. Fatalismus ist nicht das richtige; er ebnet den Weg zur Melodramatik und Sentimentalität, die selten stimmen. Sich selbst und dem Schicksal einen Stupf zu geben, darauf kommt es an. Warum nur verstricken sich soviele Menschen anscheinend offenen Auges in ihr Unglück?

 

17.

Viele Menschen scheinen das Talent zu haben, sich alles möglichst schwer und drückend zu gestalten, ja sie erleben erst in ihrem selbstgewählten Unglück und (krankhaften) Unglücklichsein etwas wie Glück und Notwendigkeit. Sie können sich nicht aufraffen und dazu entschliessen, sich und dem Schicksal einen Stups zu geben. Ist daraus der Schluss gerechtfertigt, dass es Menschen geben kann, die eine Gabe - in seltener Begnadung - zum unbeschwerten Glück in Zufriedenheit besitzen, Sonntagskinder sind, die alles leichter zu haben scheinen?

 

18.

Ständig den Blick aufs Ganze gerichtet und ihn geöffnet zu halten für Unbekanntes, Unfassliches, Unglaubliches, Unerklärbares, Widersprüchliches und Unnennbares, das ist die Forderung an den Menschen.

 

19.

Was den heutigen Menschen fehlt ist Systematik und Klarheit. Angst, Unwissenheit und Unsicherheit erzeugen einen Wust von angehäuften Gedanken und Meinungen.

 

20.

Eine schier unlösbare Aufgabe für einen jungen Menschen: Vollständigkeit mit Kürze zu vereinen und dabei Verallgemeinerungen zu vermeiden.

 

21.

Eigentlich richtig, aber schwierig: zu tun, was man "eigentlich" tun sollte.

 

22.

Weshalb müssen fast alle Schriftsteller dokumentieren, wieviel sie wissen?

 

23.

Die Gefahr beim Aphorismen-) Schreiben: in ein zweitrangiges Geplauder und Witzeln zu geraten, das Vergessen der Konzentration auf das Wesentliche. Vielen Menschen fällt zu vielem recht Treffliches und überraschend Geistreiches ein. Die harte Beschränkung aber ist anstrengend.

 

Zwar ist wenig überflüssig, meist ist es aber doch zuviel.

 

24.

Halt! Viele, die für eine Öffentlichkeit schreiben, täten gut daran, statt Überlegungen, Abhandlungen und Aphorismen hinzuwerfen, ab und zu ein Buch zur Hand zu nehmen, um festzustellen, dass so ziemlich alles von anderen auch schon gedacht und formuliert worden ist - meist besser. Man kann darauf entgegnen, dass man all dies eben auch einmal selbst durchgedacht und in Worte gekleidet haben müsse. Man bleibt aber meist schon bei diesen Hinweisen stecken.

 

Fortschreiten kann man nur in Anknüpfung an bereits Bestehendes; man ist immer überrascht, wieviel Wertvolles und Weises es schon gibt. Genau wie im Leben des einzelnen besteht aber die Neigung, Vorhergegangenes zu überschütten, zuzudecken und der Vergessenheit anheimfallen zu lassen - von niederreissen und zertrümmern nicht zu reden. - Es ist eine sehr grosse Anstrengung, sich ständig möglichst viel bewusst zu halten.

 



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