Home Verworfene Aphorismen

 

Hebst 1966

 

 

Der Mensch

 

Der Mensch ist Aufgabe, (für) sich selbst, dem Mitmenschen, der Welt.

 

Der Mensch ist (unlösbares) Problem.

 

Aufgabe lässt sich definieren: als Forderung einer spezifischen Tätigkeit, durch die ein bestimmten Ziel erreicht werden soll; ist nicht klar, wie dieses Ziel erreicht werden kann, liegt ein Problem vor.

 

Der Mensch ist sich selbst und der Welt Aufgabe, Auftrag, Bestimmung, Ziel, Sinn.

 

Der Mensch ist sich selbst anheimgegeben: er ist einer, der sein Leben selbst zu führen hat: sein Lehn ist ihm als Vollzug überergeben, einerseits als Vorhandensein, anderseits als Auftrag, es sein zu müssen; sein Leben vollzieht er ständig und hat es dauernd zu vollziehen, zu bestehen. Der Mensch unterliegt also

1. einer Exzentrizität zum Vitalen, Animalen, kurz Naturhaften,

2. einer reichen Bedingtheit und Verpflichtung.

 

Menschsein ist: sich selbst zum Vorwurf - im Sinne von Entwurf wie Kritik, Anklage - werden, sich selbst vorgegeben sein. Der Mensch ist ein Geworfener, aber in seiner Geworfenheit ein sich selbst entwerfender Entwurf. Das Geworfensein findet in die offene unbegrenzte Situation der Möglichkeit und Möglichkeiten statt; der Mensch ist die Potentialität zum unendlichen Raum von Möglichkeiten. Somit ist der Mensch: ein vorgreifender auf sich zurückbezogener Bezug: er hat ein Verhältnis zu seinem Leben in seinem Leben. Das bedeutet, dass er sich ein- und ausrichten muss, auf angemessene Ziele, also Richtung nehmen und das Richtige finden, was sich als Um- und Fürsorge für sein Leben kennzeichnet. Dieser Zwiespalt in der Vor- und Rückbezogenheit des menschlichen Seins ist Ausdruck der Befähigung und zugleich Nötigung des Menschen.

 

 

Die Tugenden

 

Die Aufstellung der vier Tugenden bei den alten Griechen ist gar nicht so blöde und veraltet, wie man in der Schule als junger Mensch unseres Jahrhunderts wagte glauben zu müssen.

 

Es waren doch die dianoetische:

  • Weisheit (Einsicht und Klugheit),

und die ethischen:

  • Tapferkeit (Mut),
  • Besonnenheit (Einhalten der Mitte und Mässigkeit ; Wachheit),
  • Gerechtigkeit (Gleichgewicht, Billigkeit);

alle vier in einer bestimmten Hierarchie - das war vermutlich der schwache Punkt - und in einem abgewogenen Verhältnis zueinander (Hauptpunkt: tapfer und weise).

 

Eine Zusammenstellung aus meinen Tagebuchaufzeichnungen des letzten Jahres ergibt ganz ähnliche vier Tugenden - man könnte sie auch Ideale nennen - in anderer Gewichtung allerdings, nämlich gleichwertig. (Der Zusammenhang mit den vier erwähnten Kardinaltugenden ist offenbar; diese bilden den tragenden, allesdurchwirkenden Hintergrund.)

Es sind:

  • Natürlichkeit,
  • Anstand,
  • Gelassenheit,
  • Besonnenheit.

 

Jede davon ist in der heutigen Zeit paradoxerweise die wichtigste. Eine stichwortartige Aufzählung dazu:

 

Fröhliche, unbeschwerte Natürlichkeit (sonny minded) ergibt oder beruht auf Zufriedenheit einerseits, Vertrauen (mit Glaube, Liebe, Hoffnung und Demut) andererseits.

Tragend ist dabei die Geschmeidigkeit (Schmiegsamkeit) und Eleganz.

Dazu noch: a man needs some madness.

 

Anstand, Höflichkeit, Sauberkeit und Lauterkeit, Redlichkeit, Geradlinigkeit, also Gesittetheit aus Gesinnung - welche sich aus allen erwähnten und noch zu erwähnenden Punkten zusammensetzt, eine Weltanschauung oder Welt-sicht darstellt - schafft oder ist bedingt durch Nächstenliebe, Toleranz und Achtung.

 

Gelassenheit setzt sich aus Musse, Zeithaben und Grosszügigkeit zusammen und erlaubt das Geniessen, das carpe diem und die Anpassung. Grundsätze sind: Alles nehmen wie es kommt (be quiet, take it easy, relax), Gelöstheit, es eilt nichts, man verpasst nie etwas, abwarten, sich freuen auf nachher; Verzichten-können, Geduld und Rücksicht ergeben sich daraus. Zwischen Gelassenheit und Besonnenheit steht: Jede Minute leben (live now), Jetzt (every day a new day, every minute a new begin).

 

Besonnenheit: Überlegungen ernsthafter Natur, als abwägender Ausgleich: Der Mensch ändert sich, aber er bleibt immer derselbe. Sub specie aeternitatis, post mortem, memento mori. Weiter gehören dazu: Wahrhaftigkeit, Beherrschung, Entschiedenheit, Standhaftigkeit, Härte, Beharrlichkeit und die Einsicht, etwas zu tun (do it now), numme nit gschprängt, aber immer gäng hü, eile mit Weile, Tatkraft also und Mut: man muss in Vorsicht und Umsicht etwas wagen, erst das Eingehen eines Risikos bringt die Aussicht auf Gewinn. Immer dabei: Kürze und Prägnanz, nüchternes scharfes und klares gedankliches Überlegen und Durchdringen (more thinking before less words and critizising) - und: vorausschauen.

 

Dies alles (als: recte agas), gegenseitig verschränkt und in einander entgegenlaufender innerer Widersprüchlichkeit (Musse - Tat; unbeschwert - ernsthaft; gelassen - hart; tolerant - entschieden; jetzt - abwarten), welche erst das Leben ausmacht, ergibt: to thine own self be true.

 

Aus diesen Gegensätzen, bei ständiger Wachheit und unter dem steten elastischen Hintendieren auf das Einhalten der Mitte (Masshalten) - Vermeidung von Extremen und damit des Fanatismus; verantwortliches Abwägen von Risiken, unter Wahrung von Sitte und Schlichtheit -, daraus also ergibt sich Befreiung und Erfüllung, Zufriedenheit und Glück, Geborgenheit, Ruhe, Erholung und Liebe - und ist erst dadurch möglich. - Vielleicht ist staunende Ehrfurcht über allem.

 

Das ist so einfach. Mehr kann man gar nicht wollen, mehr kann es gar nicht geben. Dass man strebend darum ringen muss, in oft grossem Leiden, das ist das Fatum des Menschseins, die Schlinge der Lebensbewältigung. Aber das Ziel ist immer ganz nah. Auch wenn es sich oft verliert, ist es immer gegenwärtig; es zeigt sich im Aufleuchten der "Augenblicke" - sie können Tage und Jahre dauern.

 

 

Die Liebe

 

Liebe ist etwas, worüber auch sonst sehr gescheite Leute äusserst dumm zu schreiben imstande sind. Liebe ist eine gleichzeitige, unlösbare Verquickung und Durchdringung von sinnlicher Begierde, Vertrauen, Achtung und Geborgenheit. Es wirken mit sowohl Herz als auch Verstand, nicht aber was man. Erfahrung nennt. Treue, Toleranz und Verzeihen sowie Offenheit gehören unter Achtung.

Bei Kinder- und Mutterliebe fehlt wohl einzig die sinnliche Begierde - eine jegliche Liebe ruht aber in Gott.

 

Liebe ist ohne Schuld. Liebe ist das grösste Rätsel und die grösste Gnade. Liebe ist, worüber und wovon man weder sprechen noch schreiben sollte - und kann. Sie ist, wenn sie da ist, einfach da, unnennbar.

 

Liebe und Verliebtsein ist einunddasselbe.

 

 

Der Mann

 

Eigenartig, dass ein Mann nicht realisiert, wie er genau zum Mann wird; erst wenn er es richtig geworden ist, stellt er erstaunt fest: jetzt bin ich ja erwachsen, ein Mann, eigenartig …

Dasselbe gilt von der Frau.

 

Tröstlich daran: dass man das Erwachsensein nicht mehr so schnell verliert.

 

 

Die edelste Tat?

 

Die edelste Tat: ohne Eitelkeit Menschen den Weg zum Guten und Schönen zu zeigen, wie man ihn selber gefunden?

 


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