Zirkuläres Fragen nach dem Anfang
Eine Zusammenstellung von Skizzen aus dem Frühling 1974 in Zusammenhang mit der „Systemik“
siehe auch: Die Schwierigkeit, einen Anfang zu finden
Inhalt Die Schwierigkeit des Anfangs Das Denken als Problem Die Zirkularität des Denkens Ich und Welt entspringen einander Ein „Kreis von Kreisen“ Das Denken vermag das Denken nicht einzuholen Regelkreise Wenn der Mensch die Voraussetzungen seiner Existenz und seines Tuns hinterfrägt ... Steinzeit: Die Menschwerdung begann mit der Technik Frühe Hochkulturen: Was ist der Anfang? Rigveda: Wo ist der Ursprung?
Die Schwierigkeit des Anfangs
Sinnvoll zu beginnen, ist kein leichtes Unterfangen. Das hat viele Gründe:
1. Es ist immer schon etwa da, und es hat eine Geschichte. Die Welt hat eine Geschichte, das Leben, die Menschheit, die Sprache, die Wissenschaft, der einzelne Wissenschafter. 2. Schreibend und sprechend, lesend und hörend bewegt sich der Wissenschafter immer schon in der Sprache. Will er erläutern oder verstehen, wovon die Rede ist oder was es mit der Sprache auf sich hat, muss er immer schon die Sprache benützen und kennen. 3. Da Äusserung und Aufnahme von Sprache sich in der Zeit ereignet, ist es unmöglich, die Fülle des Vorhandenen und seiner Geschichte, die FüIle der Probleme und Lösungsversuche auf einen Schlag darzustellen und zu erfassen. 4. Deshalb enthüllt das Anfangen in besonderem Masse das anscheinend Unvermeidliche: das Auswählen. 5. Auch dieses Auswählen hat Geschichte. Und die Darstellung und Erfassung des Auswählens und des Ausgewählten mittels der Sprache ist ein zeitliches Ereignis, mithin wiederum Geschichte. Es ist ein Ereignis, das immer schon begonnen hat und nur mit dem Tod des einzelnen ein Ende findet. 6. Die Entwicklung der Welt, des Lebens, der Menschheit, der Sprache, der Wissenschaft und des Wissenschafters bis zu seinem Tod ist also nicht abgeschlossen. 7. Eine noch grössere Mühe als das Erfassen der Fülle des Vorhandenen bereitet mithin das Erfassen, wie es dazu kam und kommen konnte. 8. Die Fülle ist also immer schon da. Sie beruht auf einer Fülle von Entwicklungen. Sie entwickelt sich aber auch in einer Fülle von Entwicklungen weiter.
Das Denken als Problem
Mit der "Schwierigkeit des Anfangs“ begonnen zu haben, bedeutete bereits die Auswahl eines Problems; es ist damit aber ein Anfang gesetzt. Probleme stellen sich in besonderem Masse dem menschlichen Denken. Und dieses Denken ist nun selbst ein Problem. Das hat viele Gründe:
1. Das Denken hat eine Geschichte, eine menschheitliche, eine wissenschaftliche, eine individuelle. 2. Das Denken ist aufs engste verknüpft mit der Sprache, mit Vorstellungen und Erfahrungen, mit Leistungen des Gehirns. Was Denken ist, lässt sich aber nur im Denken erörtern. Als denkender ist der Mensch immer schon im Denken. 3. Denken wie Sprache sind Ereignisse in der Zeit. Daher kann die Fülle des Denkbaren nie auf einen Schlag präsent sein. 4. Also ist auch im Denken das Auswählen unvermeidlich. 5. Dieses Auswählen hat Geschichte. Und das Fortschreiten im Denken und Auswählen ist Geschichte. Es sind Ereignisse, die immer schon begonnen haben und erst mit dem Tod des einzelnen enden. 6. Auswählen und Denken sind also bis zum Tod dessen, der auswählt und denkt, nicht abgeschlossen. 7. Eine noch grössere Mühe als das Denken der Fülle des Denkbaren bereitet das Erfassen, wie sich das Denken entwickelt hat und stets neu ereignet. 8. Das Denken ist also immer schon da. Es beruht auf eine Fülle von Entwicklungen. Es entwickelt sich aber auch in einer Fülle von Entwicklungen weiter.
Die Zirkularität des Denkens
Was sind Entwicklungen des Denkens? Ausgehend von einem ausgewählten Problem, dem Anfang beispielsweise, schreitet es fort: Es baut auf dem Anfang auf und wählt die Bausteine dazu aus der Geschichte des menschheitlichen, wissenschaftlichen und individuellen Denkens aus.
Was ist ein Problem? Das Denken selbst, seine Verknüpfung mit anderem, die Fülle, die Geschichte, das Auswählen, das Problem selbst. Es scheint, als ob wir mit dem Denken in eine Fülle von Kreisen gelangten: Problemkreise, Denkkreise, Entwicklungskreise,
Der Schein trügt nicht: Das Denken ist zirkulär. Das hat viele Gründe:
1. Das Denken ereignet sich in besonderem Masse als Fragen und Antworten, als Wechselspiel von Beantwortung und Infragestellung. 2. Dass das Denken unabgeschlossen ist, heisst, dass der Denkende immer nochmals fragen, immer nochmals eine Antwort zu geben versuchen kann. Er kann sogar fragen, was jeweils vor dem Anfang war und nach dem Ende kommt usw. 3, Nicht nur die Fragen Wie? Warum? und Wozu? sind für den Wissenschafter wichtig, sondern ebensosehr: Stimmt das überhaupt? und: Anhand wovon kann ich beurteilen, ob das stimmt (beispielsweise das bisher Geschriebene)? Weiter: Gibt das einen Sinn, ist es verständlich, einleuchtend usw.? Und wiederum: Was heisst Sinn, verständlich, einleuchtend? 4. Alle Antworten können nur innerhalb des Denkens gefunden werden. Das heisst zweierlei: Es sind immer nur vorläufige Antworten möglich, und es gibt keinen archimedischen Punkt, von dem aus das Denken betrachtet (genauer: gedacht) werden könnte. Mit dem Denken ist aus dem Denken nicht herauszukommen.
Ich und Welt entspringen einander
Fs ist sinnlos, von Ich ohne Ansehung der Welt zu reden. Es ist sinnlos, von der Welt ohne Ansehung des Ichs zu reden. Der da redet und ansehen muss, ist der Mensch. Der Mensch ist das Wesen, das von sich selbst als "ich ..." redet. Er sieht sich und die Welt an. Sehen erfordert Augen, Blick, Aufmerksamkeit. Reden erfordert Mund, Stimme, Sprache.
Ich habe bereits unterschieden Ich und Welt, Reden und Sehen. Ich betrachte mich als Menschen. Also unterscheidet der Mensch zwischen sich und der Welt, zwischen Reden und Sehen und - Unterscheiden. Noch mehr: Ich behaupte, dass Ich und Welt einander entspringen, dass es sinnlos sei von Ich ohne Ansehung der Welt, und umgekehrt, zu reden. Gewagte Behauptungen? Wer findet sie gewagt? Jemand, der sie liest - ein Mensch. Statt behaupten kann ich fragen: "Ist es möglich, dass Ich und Welt einander entspringen?" "Wäre es sinnvoll, von der Welt ohne Ansehung des Ichs zu reden?" Wem stelle ich diese Fragen? Einem Menschen. Dieser Mensch kann fragen: "Was verstehen Sie unter 'entspringen', unter 'Ich' und 'Welt', unter 'sinnvoll' und 'Ansehung'?" Dieser Mensch, oder ein andrer, kann aber auch behaupten: "Diese Sätze, die ich eben gelesen habe, sind Rabulistik, sinnloses Gerede!" Weder diese Fragen noch Behauptungen vermögen jedoch etwas daran zu ändern, dass wir Menschen sind.
Ist das denn so wichtig? Ist das für die Wissenschaft von Belang? Ich behaupte: Es ist für eine Betrachtung, welche den Grundlagen der Wissenschaft gilt, unabwendbar. Nicht nur weil sich wissenschaftliche Publikationen nicht von selbst schreiben, sondern weil ausser dem Menschen überhaupt niemand oder nichts Wissenschaft betreibt.
Wissenschaft ist also eine Betätigung des Menschen. Es ist nicht die einzige, und sie wird auch nicht von allen Menschen ausgeübt. Aber sie wird von Menschen ausgeübt, nicht von der Gesellschaft und nicht von Apparaten, nicht von der Logik und nicht von Ideen.
Was aber ist der Mensch? Auf diese Fragen gibt es Antworten von Philosophen und Theologen. Aber auch heilige Schriften und unheilige Taten geben darüber Auskunft. Diese Antworten und Auskünfte sind nicht nur unvollständig, sondern auch verschieden interpretierbar. Es gibt keine allgemeingültige oder umfassende Beschreibung, Definition oder Wesensbestimmung des Menschen. Auch die Wissenschaft versagt hier.
Noch schlimmer: Eine Betrachtung der Grundlagen der Wissenschaft erforderte ein Wissen um den Menschen als desjenigen Wesens, das Wissenschaft betreibt, aber erst am "Ende der Wissenschaft" wüsste der Mensch, was er ist.
Das ist ein Circulus vitiosus, der uns dreierlei enthüllt:
Rabulistik? Unlogik? Auch sinnvolles Reden ist eine Forderung von Menschen an andre Menschen. Auch Logik ist eine Schöpfung des Menschen.
Was gibt es denn, was nicht vom Menschen ist? Natur? Leben? Welt? Gott?
Die Frage nach dem Menschen und dem, was er tut, weiss und glaubt, was er zu wissen glaubt und was er zu glauben ablehnt, führt stets in philosophische und religiöse, weltanschauliche oder ideologische Bereiche. Sicher scheint nur zu sein, dass es Menschen gibt, dass der Mensch behaupten und fragen, reden und glauben, tun und lassen kann.
Auch der Wissenschafter kann die Frage nach dem Menschen "lassen", nach der Wissenschaft, nach ihren Grundlagen. Genauso kann der gläubige Mensch auf die Wissenschaft verzichten, der Handwerker auf die Philosophie, der Philosoph auf die Kunst, der Ingenieur auf den Sport, der Verkäufer auf die Religion.
Dennoch braucht jeder Mensch, der sich seinen Lebensunterhalt verdienen will, eine Ausbildung, eine Grundlage. Er muss etwas wissen und einiges können. Er muss auch wollen. Gewiss gibt es Menschen, die nicht können, und solche, die nicht wollen. Aber etwas wollen die meisten: Leben, Geborgenheit, Ruhe, Ordnung, Anerkennung, Auskommen, Besitz, Macht, Erlösung, Erkenntnis. Auch das kann die Wissenschaft untersuchen, heisse die Disziplin nun Psychologie, Soziologie oder Ethnologie, Geschichte, Archäologie oder Politologie.
Wäre also der Mensch ein fragendes und sich fragliches Wesen, ein verzichtendes und strebendes, ein untersuchendes und darüber redendes Wesen?
„Ein Kreis von Kreisen“
Wenn die Systemik sich als Nachfolgerin der Philosophie betrachtet, muss sie auch manches von deren Problemschatz übernehmen. Einer davon ist das Denken, der Anfang, der Kreis. Der Regelkreis hat auch keinen Anfang und kein Ende - nur eine Richtung.
Das hat wohl niemand ausführlicher analysiert und vorgeführt als Hegel in seiner "Wissenschaft der Logik" (1812/16). Im letzten Kapitel dieses (in der Ausgabe der Philosophischen Bibliothek, Hamburg: Meiner) über 900 Seiten umfassenden Werks schreibt er: "Vermöge der aufgezeigten Natur
der Methode stellt sich die Wissenschaft als einen in sich geschlungenen Kreis
dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittelung das Ende zurückschlingt;
dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne Glied,
als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion in-sich, die, indem sie in den
Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist.
Das Denken vermag das Denken nicht einzuholen
Ob dieses Fragen das Wie, Was und Womit des Denkens betrifft oder das Woraus und Wozu der Wissenschaft, ob die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt oder den Sinn des Lebens, immer ergibt sich das Seltsame, aber anscheinend Unumgängliche: dass das Denken das Denken nicht einzuholen vermag, dass daher auch der Anfang nicht einzuholen ist.
Das beschrieb wohl niemand deutlicher und ausführlicher als Hegel in seiner "Wissenschaft der Logik" (1812/16). Wenn er dieses Werk einmal als "die Gedanken Gottes vor der Schöpfung" bezeichnete, dann erhellt das deutlich, wie wichtig ihm das Problem des Anfangs war. Und was in dieser Logik entfaltet wird, ist nichts anderes als die Selbstentfaltung des Geistes, und zwar als Weltprozess in einer unendlichen Dialektik des rückwärts gehenden Begründens des Anfangs und des vorwärts gehenden Weiterbestimmens desselben (V, 350). Deshalb ist die Wissenschaft, sofern sie Aufgabe und Ergebnis des Denkens ist, ein "in sich geschlungener Kreis", ja ein "Kreis von Kreisen" (V, 351). Heraklit beschrieb das noch lakonischer: "Der Weg hinauf hinab einer" (Glockner, 1958, 769; Heraklit, Fr. 60).
Aus diesem Grund ist auch der Kreis, genauer der "Regelkreis", eines der zentralsten Probleme der Systemik. Auch er ist ohne Anfang, ein Ereignis des Begründens und Weiterbestimmens in einem.
Regelkreise
Die Frage nach dem Anfang, und zwar die Frage nach der Schöpfung wie nach dem was "vor der Schöpfung" war, hat den Menschen beschäftigt, seit er ins Licht der dokumentierten Geschichte eingetreten ist. Sie ist ein Zurückfragen hinter das Denken, da dieses ja ein Wesen voraussetzt, das sich bereits zu einem denkenden Wesen entwickelt haben muss. Woher kommt dieses Wesen und woher das, woran sich dieses Denken entzündet? Die Kosmologie ist ein Thema des Mythos, der Philosophie und der Wissenschaft; und die Frage ist bis heute nicht so gelöst, dass sie alle Menschen zufriedenstellte.
Mehr noch im philosophischen Sinne wird vom Griechen Demokrit überliefert: "Man könne nicht sagen, dass jede Vorstellung wahr sei. Denn dann wird das Urteil, dass nicht jede Vorstellung wahr ist, das auf einer Vorstellung fusst, auch wahr sein, und so wird das Urteil, dass jede Vorstellung wahr ist, falsch" (Sext. Emp. adv. math. VII, 389f). Noch grundsätzlicher zeigt sich der Circulus vitiosus in einer Bemerkung, wo Demokrit die Sinne des Menschen zum Verstand des Menschen sagen lässt: "Armer Verstand, von uns nahmst du die Beweisstücke und willst uns damit niederwerfen? Ein Fall wird dir der Niederwurf" (Fr. 125). Also bleibt nur die Bescheidung. "Nicht alle Dinge verlange zu wissen, dass du nicht aller Dinge unkundig wirst" (Fr. 169). Oder gar: "In Wirklichkeit aber wissen wir nichts; denn in der Tiefe liegt die Wahrheit" (Fr. 117). Deshalb können wir auch anerkennen: "Das Nichts existiert ebenso wie das Ichts" (Fr. 156).
Freilich kann der Mensch bei Demokrit doch etwas tun, nämlich lernen und im übrigen sein Leben wohlgemut verbringen, indem er seinen Sinn auf das Mögliche richtet und in allem Mass hält.
... Ein ähnlicher Regelkeis bei der Methode ("Technik"): Ich muss sie anwenden, um zu sehen, ob ich sie richtig anwende, also um sie zu bestätigen oder verbessern. Ich muss verstehen, wie etwas gemacht wird, um es besser machen zu können. Oder: Ich muss die Handlung ausführen, um sie zu verbessern.
... Anderer Regelkreis: Menschen erziehen einander.
Das heisst zugleich, dass zirkuläre Regelung keineswegs nur im menschlichen Denken stattfindet, sondern auch in den meisten kulturellen wie natürlichen Bereichen: Deshalb hat die Erkenntnis der auf Grund von Rückkoppelung gesteuerten Regelkreise auch in nahezu allen Wissenschaften zumindest Fuss gefasst, in den Ingenieurwissenschaften ebenso wie in der Psychologie und Physiologie, in der Ökonomie wie in der Politik und sogar in der Religionsphilosophie (Hans F. Geyer), womit auch der Kreis von den altorientalischen Mythen, der griechischen Philosophie und jüdisch-christlichen Theologie zur Gegenwart geschlossen wäre.
Der Circulus vitiosus zeigt die Grenze des menschlichen Denkens und Strebens auf, innerhalb dieser Grenzen ist aber auch eine ständig wachsende Fülle möglich (vgl. Demokrit: "Der Geist, der sich gewöhnt, aus sich selbst die Freuden zu schöpfen." Fr. 146, 194). Sie beruht auf dem Vorgang des Ausdifferenzierens. Auch er findet sich in den ältesten Mythen, in Philosophie und Religion. Er ist eines der zentralsten Themen, das den Menschen über Jahrtausende beschäftigte.
Wenn der Mensch die Voraussetzungen seiner Existenz und seines Tuns hinterfrägt ...
Systemik ist die Wissenschaft von den Systemen. Wie jede Wissenschaft ist sie eine Betätigung einiger erwachsener Menschen. Sie ist damit abhängig vom Wissen und Können, Wollen und Tun dieser Menschen. Dies wiederum ist abhängig von Begabung und Interesse, Erziehung und Ausbildung. Auch dies ist wiederum abhängig von zahlreichen Vermögen des Menschen, wie Wahrnehmung und Denken, sich am Leben zu erhalten und zu orientieren, sich auszudrücken und zu verständigen. Dies schliesslich ist abhängig von biologischen, chemischen, von physikalischen Bedingungen.
Wieweit der Mensch die Voraussetzungen seiner Existenz und seines Tuns hinterfrägt - er kommt auf keinen sicheren Boden, da er immer schon Voraussetzungen machen muss, um eben diesen Voraussetzungen auf die Spur zu kommen. Der Anfang, der Grund, der Ursprung ist also nicht einzuholen. Menschliches Fragen und Erkennen vollzieht sich in einem Kreis. Aus diesem ist nicht hinauszugelangen: Es gibt keinen archimedischen Punkt.
Dieser Circulus vitiosus begleitet die Geschichte des menschlichen Denkens seit den Anfängen der griechischen Philosophie, die damals noch eng mit Theologie und Wissenschaft verbunden war. Aber auch in der Genesis, ja bereits in Mythen der alten Hochkulturen findet sich dieses zirkuläre Denken.
Die neuzeitliche Wissenschaft schenkte freilich dieser Erkenntnis lange Zeit wenig Beachtung; sie erlebt erst in neuester Zeit wieder eine machtvolle Renaissance - unter den Schlagworten "Regelkreis" und "Rückkoppelung". Dass den damit gemeinten Sachverhalten zuerst in der Technik Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist nicht ganz von ungefähr, wenn man bedenkt, dass die Menschwerdung mit der Technik begann (Pierre Honoré, 1970).
Steinzeit: Die Menschwerdung begann mit der Technik
Der Mensch der Steinzeit musste, wie diese Namengebung besagt, nicht nur Frau, Mann und Kind unterscheiden, sondern Steine von Pflanzen und Tieren, gut zu bearbeitende und zu verwendende Steine von andern, bekömmliche Nahrung von nicht bekömmlicher, taugliches Material für Bauten und Bekleidung von untauglichem usw. Und er musste diese Steine suchen. „Erst als der Mensch den bergfrischen, nicht ausgetrockneten Feuerstein in der Kreide fand, hatte er einen idealen Rohstoff in der Hand, der sich bedeutend besser und leichter schlagen lässt, auch zu den feinsten Werkzeugen und Waffen ... Die Härte des Feuersteins übertrifft die des besten Stahls ... Der Feuerstein war es, der der menschlichen Technik den Weg ebnete, denn wir können deutlich in der Menschheitsgeschichte den Vorsprung der Kulturen sehen, die genügend und guten Feuerstein besassen, vor den anderen, die nur Felsgestein zu Verfügung hatten." Freilich: "Es dauerte über hunderttausend Jahre, bevor man die Technik des Faustkeils völlig beherrschte" (Pierre Honoré, 1970, 14f; 46).
Das Bemühen des Steinzeitmenschen ging um individuelles und kollektives Überleben, wofür etwa die Gebärfähigkeit der Frau und das Vermögen des Mannes, die Familie zu schützen, sich gegen Tiere zu wehren und sie zu erlegen von grosser Bedeutung waren, aber ebensosehr die Bewahrung der Pflanzen- und Tierwelt. Weder durften die menschliche Fruchtbarkeit, Wehrhaftigkeit und Geschicklichkeit, noch der Tierbestand abnehmen (vgl. Bernal, 76, 88, 85; Hofstätter, Pixa 71). Dieses Regelkreises muss sich der Mensch bereits damals bewusst gewesen sein. Indizien sind etwa die Betonung der Geschlechtsmerkmale der Frau und die Wiedergabe sich paarender und trächtiger Tiere bei den magisch-künstlerischen Bildnereien, ferner kultischen Handlungen wie Tänze und Opfer. Darüber hinaus suchte der Mensch nach Erklärungen für die Naturgeschehnisse, für Fortpflanzung und Wachstum, Leben und Sterben, Rhythmus und Existenzkampf, Wir vermuten heute, dass schon früh die Vorstellungen von einem Jenseits und einem Weiterleben nach dem Tod - daher die Sorge um die Toten -, aber auch eines Göttlichen oder jedenfalls übermenschlicher Kräfte vorhanden waren.
Frühe Hochkulturen: Was ist der Anfang?
Mit dem Aufblühen der Hochkulturen - auch dies ein Ausdifferenzierungsprozess gewaltigen Ausmasses - setzte die Erfindung der Schrift und bald darauf die Frage nach der Entstehung der Welt und der Elemente, der Gottheiten und Könige und schliesslich des Menschen ein: Was ist oder war der Anfang, der Ursprung, der Urgrund, wer ist der Schöpfer, der Lebensspender, wie wird aus dem Einen vieles, aus dem Chaos Ordnung?
Darüber macht sich der Mensch schon seit Jahrtausenden Gedanken. Er spricht sich darüber aus in den Mythen, in Religion und Philosophie, später in der Wissenschaft. Doch schon bevor er seine Gedanken in Worte kleidete, musste er selbst differenzieren können. Dies ist wohl eines der elementarsten Vermögen des Menschen.
Rigveda: Wo ist der Ursprung?
Das zirkuläre Denken lässt sich sachlich nachweisen, es war aber den damaligen Denkern auch bewusst, beispielsweise findet sich im X. Liederkreis des indischen Rigveda (ca. 1000 v. Chr.) die Schilderung, dass die Dichter oder Weisen durch Nachdenken den Ursprung des Seienden im Nichtseienden fanden. Jedoch: "Quer aufgespannt war ein Seil auf ihrem Wege: Existierte denn ein Unten? Existierte denn ein Oben? Existierten Besamer? Existierten Schwangerschaften (Grossheiten)? Waren Eigenkräfte (männliche Prinzipien) später, Hingabe (das weibliche Prinzip) früher - oder umgekehrt?
Paul Thieme (1964, 67), der diese Stelle anders als Paul Deussen (siehe Störig, 1963, 31) übersetzte, erklärt zur ersten Zeile, die Deutung des Wortlauts sei nicht sicher. "Gemeint ist jedenfalls, dass sie mit ihrem Nachdenken nicht über einen gewissen Punkt hinauskommen: sie wissen nur in abstracto, aber nicht in concreto" (1964, 68).
Es klingt in diesen Zeilen also die uralte Frage an, was früher sei, die Henne oder das Ei, das männliche oder weibliche Prinzip, bei Thieme Eigenkräfte oder Hingabe, bei Deussen Selbstsetzung oder Angespanntheit.
Wenn diese Frage also nie gelöst werden kann, dann ist auch dar Anfang der Schöpfung dem menschlichen Nachdenken verschlossen. So heisst es denn im nächsten Vers: "Wer weiss es gewiss, wer wird es hier verkünden, woher geboren (zum Leben gekommen), woher diese Emanation der Welt ist? Diesseits sind die Himmlischen von der Emanation dieser Welt. Also wer weiss es, woher sie geworden ('gekeimt') ist?“
Die Skepsis geht aber noch tiefer: "Woher diese Emanation geworden ('gekeimt') ist, ob sie getätigt worden ist von einem Agens oder ob nicht – wenn ein Wächter dieser Welt ist im höchsten Himmel, der weiss es wohl: oder ob er es nicht weiss?"
Literatur
John Desmond Bernal:
Science in History, London: C. A. Watts 1954; Hermann Glockner: Die europäische Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1958. Georg Wilhelm Friedrich
Hegel: Wissenschaft der Logik (1812/16). Hamburg: Meiner 1923; erneut 1934,
1948, 1963, 1971, usw.; Hans H. Hofstätter, Hannes Pixa: Vergleichende Weltgeschichte. Band I: Von der Urzeit bis um 2500 v. Chr. Baden-Baden: Holle 1962. Pierre Honoré: Es begann mit der Technik. Das technische Können des Steinzeitmenschen und wie es die moderne Vorgeschichtsforschung enträtselt. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1969, als rororo Taschenbuch 1970. Hans Joachim Störig:
Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Stuttgart: Kohlhammer 1950, 13. Aufl.
1985; als Knaur Taschenbuch 1963,17. Aufl. 1985; Paul Thieme: Gedichte aus dem Rig-Veda. Stuttgart: Reclam 1964.
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