Die Schwierigkeit, einen Anfang zu finden
Eine Skizze vom Herbst 1972
„Man hat nämlich gewöhnlich den Trieb, eine Sache sich in ihrem Anfange vor Augen zu führen, weil der Anfang die einfachste Weise ist, in der sie sich zeigt. Dabei behält man im Hintergrunde die dunkle Vorstellung, diese einfache Weise gebe die Sache in ihrem Begriffe und Ursprünge kund, und die Ausbildung solch eines Beginnes bis zu der Stufe hin, um welche es eigentlich zu tun ist, fasst sich dann weiter ebensoleicht durch die triviale Kategorie, dass dieser Fortgang die Kunst nach und nach auf jene Stufe gebracht habe. Der einfache Anfang aber ist seinem Gehalte nach etwas für sich so Unbedeutendes, dass er für das philosophische Denken als durchaus zufällig erscheinen muss, wenn auch gerade deshalb die Entstehung auf diese Weise für das gewöhnliche Bewusstsein für um so begreiflicher genommen wird.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Vorlesungen über die Ästhetik“, 1835-38, Teil III, Erster Abschnitt, zweiter Absatz
Vergleiche auch: „Wissenschaft der Logik“ (1831), Erstes Buch: Die Lehre vom Sein. Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?
Die Schwierigkeit, einen Anfang zu finden, zeigt sich nicht zuerst, aber sehr deutlich etwa bei Kants "Kritik der reinen Vernunft" (1781). Nicht nur hat der Autor für die zweite Auflage (1787) die "Vorrede" völlig umgeschrieben, sondern auch die "Einleitung" ebensosehr umgearbeitet wie erweitert.
Philosophisches Bemühen ist also ein fortschreitender Prozess, ein ständiges Überdenken und Neuformulieren, Wegstreichen und Ergänzen.
Der Mensch kann niemals ausgeklammert werden
Gründe für diese Schwierigkeit liegen sowohl in der Fülle der Probleme, die nicht gleich zu Beginn in aller Vielfalt ausgebreitet werden kann – man kann nicht mit dem Ganzen selbst anfangen, denn dieses ist „das durch seine Entwicklung sich vollendenden Wesen“ (Hegel, Phän. d. G. 21), es ist „ein Kreislauf in sich selbst“ (Hegel, Gr. L.) - als auch in dem eigenartigen Sachverhalt, dass "der Mensch" niemals ausgeklammert werden kann.
Der Autor, ein Mensch unzweifelhaft, sogar im Falle der biblischen und anderer heiliger Schriften - sehen wir einmal ab von den Zehn Geboten (2. Mos. 31,18; 5. Mos. 5,22 und 9,10), der ganzen Bibel (2. Tim. 3,16; 1. Petr. 1,11f; 2. Petr. 1,20f; Off. 22,18f – freilich sehr umstritten) und dem Buch Mormon (1827) - möchte sich andern Menschen mitteilen.
Aber nicht nur dies, er kann, und spreche er über Gott und die Welt, über das Diesseits oder Jenseits, über die Natur und die Evolution, den Menschen auch in seinem Vortrag und seiner Schrift nicht unberücksichtigt lassen. Ist es doch der Mensch, der Fossilien ausgegraben (seit Xenophanes) und Mikroben unter dem Mikroskop gefunden hat, Wüsteneien und Milchstrassen erforscht, ist es doch der Mensch, der Welt- und Menschenbilder entwirft und von den Tieren behauptet, sie lebten "in einer eigenen Welt, die sich von jener anderer Tiere und der des Menschen mehr oder weniger unterscheidet" (Sven Dijkgraaf, 1968, 78).
Zirkulär: Weltbild und Menschenbild
Wenn es nun der Mensch ist, der Weltbilder entwirft, so sind diese eng mit dem Menschenbild verknüpft: Eines kann ohne das andre nicht bestehen. Und hätte auch eine höhere Macht dem Menschen das Weltbild fertig eingegeben (Illuminationstheorie), so ist doch hiefür auch bei Augustin der richtige Glaube des Menschen notwendig, damit diese Gnade wirksam zu werden vermag – den Angehörigen der "civitas terrena", welche unter der Herrschaft des Teufels steht, wartet die ewige Verdammnis ...
Diese gegenseitige Abhängigkeit von Welt- und Menschenbild wie selbstverständlich auch anderer Bilder bringt nun die grosse Gefahr mit sich, dass sich ein philosophisches Unterfangen in Zirkel oder gar Widersprüche verstrickt und auf verschiedenen Ebenen operiert. Der philosophierende Mensch muss ein Menschenbild entwerfen, um daraus ein Weltbild zu entwickeln; sein Menschenbild ist aber bereits von einem Weltbild bestimmt. Es gibt keines ohne das andere und auch keinen "archimedischen Standort" ausserhalb.
Deshalb setzte schon früh in der Geistesgeschichte das Bemühen um Selbstvergewisserung ein; sei es bei den Indern "Ich bin Brahman", bei Heraklit "Ich erforsche mich selbst" oder bei Augustin die Selbstgewissheit auch im Zweifeln: "Das bin ich selbst". Descartes ist hier 1200 Jahre später weitergefahren, Fichte und Stirner folgten.
Die verschiedenen Möglichkeiten zu beginnen
Beide, Augustin und Descartes, beginnen ihre bekanntesten Werke biographisch, die "Bekenntnisse" (400), den "Discours de la methode" (1637). Die eine Art zu beginnen ist also: bei sich selbst.
Eine andere Art ist das Gespräch, man denke an die Platonischen oder Cusanischen Dialoge, an Thomas von Aquins Disputationen ("Quaestiones"; um 1270) und an Galileis "Discorsi" (1584)
Eine dritte Art sind Sentenzen oder Aphorismen (Francis Bacon, 1620; Lichtenberg, Nietzsche) oder Thesen (Luther, 1517; Leibniz, 1714; Lessing 1780; Marx, 1845).
Die vierte Art besteht in einem Vorgehen "more geometrico", wie das Spinozas Ethik (1665) oder Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus" (1921) in hervorragender Weise zeigen.
Schliesslich gibt es auch Lehrgedichte (Parmenides, Empedokles, Lukrez), Briefe (Platon, Seneca, Erasmus, Pascal), ferner Traktate (Cusanus), Essais (Montaigne, Francis Bacon, Locke), Fragmente (Vorsokratiker, Schlegel), Reden, Vorlesungen, Notizen, Tagebücher, Zeitschriftenartikel, usw.
Nicht vergessen seien die philosophischen Kommentare zu Texteditionen der „Klassiker“ oder die Form der Monographien oder der enzyklopädischen Handbücher.
Sprache: Formulieren und Verstehen
Alles dies sind schriftliche Aufzeichnungen, haben somit mit der Sprache zu tun. Jegliche Abhandlung ist zudem Ergebnis denkerischer Anstrengung, die sich in ausgewogenen Formulierungen niederschlägt, ist also gewiss verschieden vom Träumen in der Abenddämmerung, von einem Hundertmeterlauf oder der Zubereitung einer köstlichen Speise. Dass diese sprachliche Fassung von Erlebnissen, Handlungen oder Problemen mitunter beträchtliche Schwierigkeiten bereitet, wird wohl niemand bestreiten, dass es auf unterschiedliche Weise vor sich geht bei einem Forschungsbericht, einer theologischen Summa, einem Flugblatt, einem Gedicht, Roman oder Drehbuch ebenfalls nicht.
Auch der Hörer oder Leser oder Zuschauer (z. B. eines Dramas) hat oft nicht geringe Mühe mit dem Verstehen oder Mitschwingen: Es braucht immer ein Vor-Verständnis der Sprache selbst und häufig eine denkerische Vorleistung, ein Wissen, Formen des Verarbeitens und oft auch eigene Lebenserfahrungen.
Fundamentale Übereinkünfte
Ohne gewisse fundamentale Übereinkünfte (vgl. hierzu Hermann Kramer: „Ursachen der Meinungsverschiedenheiten in der Philosophie“, 1967) ist also kaum viel auszurichten, sei das nun, dass die Welt irgendwie geordnet sei, sei es, dass der Mensch als vernunftbegabtes (Homo sapiens), sprechendes (Homo loquens), soziales (zoon politikon) und werkschaffendes (Homo faber) Wesen gefasst werde, dass er erlebe und sich verhalte, sehe, fühle und strebe, irre und Bewusstsein habe, usw. Wieviel davon auch bei andern Lebewesen anzutreffen ist, stellt bereits eine Streitfrage dar.
Zusammenfassung
Was können wir aus diesen kurzen Hinweisen zusammenfassen?
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