Home Die Intellektualisierung zerstört Mitte und Mass

 

Zu Adolf Portmann: Biologie als technische Weltmacht. Edition Arche Nova, Verlag Arche Zürich 1970.

Adolf Portmann: Entlässt die Natur den Menschen? - Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie. Piper-Verlag, München 1970.

 

siehe auch:

„Wir sind unterwegs“

 

 

In einem erweiterten Vortrag über die heutige Rolle der Biologie weist der Basler Professor Adolf Portmann darauf hin, dass der Mensch Biotechnik eigentlich schon anwandte, als er vom Sammler und Wildbeuter zum Ackerbauer und Viehzüchter wurde.

 

Hände weg von der Umzüchtung des Menschen!

 

Das zwanzigste Jahrhundert brachte die Revolution durch Biochemie und -physik. Molekularbiologie erlaubt nun gewaltige Missbräuche, weil unsere Kenntnis der Ökologie erstaunlich gering ist. Anders ausgedrückt: Die Gesellschaft wird mit den - unter Umständen durchaus positiven - Forschungsergebnissen nicht fertig. Künstliche Besamung und Versuche über die Aufzucht der Keime ausserhalb des Mutterkörpers bringen juristische, soziale und seelische Probleme, ja sogar politische mit sich.

 

Die Konsequenzen der Versuche über Hirnentwicklung und Intelligenzsteigerung, über Drogen und Medikamente sowie die Verlängerung der Lebensdauer müssen unbedingt abgeklärt und überdacht werden. Die Regeln und Gebote der Vergangenheit gelten heute nicht mehr; neue Entscheidungen stehen bevor. Dennoch gibt es eine „zu bewahrende Norm“: Hände weg von der biologischen Umzüchtung des Menschen! Die werdende Biotechnik hat genug heilende Aufgaben: Hilfe für die Bewahrung der Natur um uns, Hilfe für die faktischen Leiden des Menschen.

 

Diese mahnenden Worte erschienen sinnigerweise in der „Arche Nova“. Sie bilden zugleich den letzten der 21 „Gesammelten Aufsätze“ aus der Zeit von 1955 bis heute [1970]. Es sind sicher nicht alle, die Portmann verfasst hat, doch ergeben sie bereits 380 engbedruckte Seiten.

 

Lebewesen: Selbstdarstellung statt Zweckhaftigkeit

 

Von grundlegender Bedeutung ist für die auf Ganzheit gerichtete Morphologie, die es mit dem uns allen sichtbaren Gestalthaften und Apparativen zu tun hat (ihr steht die mikrobiologische und molekulare Untersuchung der unsichtbaren Welt der plasmatischen Strukturen gegenüber): Lebewesen treten als Subjekte mit je eigener Weltbeziehung auf, sie haben Innerlichkeit und Selbstdarstellung. (Das ist keine Vermenschlichung!)

Bis hinunter zum Einzeller antworten Organismen auf Veränderungen der Umwelt - man denke an die „innere Uhr“ -, sie sind offen und relativ autonom. Höhere Lebewesen haben eine gesteigerte Fähigkeit zu lernen.

 

Für manche Phänomene fehlen uns Beschreibungsmöglichkeiten. Wie sehen etwa Insekten, wie erleben Fledermäuse mit ihrem Sonarsystem die Welt, wie Pflanzen? Portmanns Theorie der Selbstdarstellung ersetzt die physiologische Auffassung von der Zweckhaftigkeit (Erhaltungsleistung) jeder Form und Funktion. Viele „funktionslose“ Merkmale und Verhaltensweisen sind „Ausdruck einer inneren Wesenheit des Organismus“. Lebendige Gestalten erscheinen im Licht. Farben und Muster haben einen Eigenwert.

 

Mensch: primäre und sekundäre Welt

 

Der siebente Aufsatz leitet zum Menschen über. Es besteht eine Spannung zwischen der Welt, in der wir „von Natur aus“ leben, und derjenigen, die uns vom schweifenden Geist erschlossen wird. Wir kommen mit einer Sinnesausrüstung und einem Weltbeziehungssystem, das offen (Herder, Scheler), aber erblich vorgegeben ist, zur Welt: Wir sind an unseren Lebensraum gebunden, von ihm geprägt. Die Muttersprache ist Ausdruck dieser primären Welt.

Die wissenschaftliche Welt ist demgegenüber sekundär. Auch die durch sie ermöglichte Technik hat Darstellungscharakter - beispielsweise beim lärmigen Motorradfahrer -, und zwar in einem sozialen Feld.

 

Die Entwicklung soll nicht beschleunigt werden

 

Etwas genauer: Bekanntgeworden, sind Portmanns Thesen über die menschlichen Entwicklungsperioden. Das erste Lebensjahr zeigt eine „fötale Entwicklungsgeschwindigkeit des Wachstums“. Es ist eigentlich ein „extrauterines Sonderjahr“, an dessen Ende das Gehirn erst den Stand erreicht, der bei allen höheren Säugern bereits im Geburtsaugenblick vorhanden ist.

In der zweiten Hälfte des Erstjahres erfolgt das Aufrichten, Sprechen und einsichtige Handeln - alles ermöglicht durch Mitwirkung der sozialen Gruppe.

In der anschliessenden Lebensperiode wird ein gewaltiges Traditionsgut übernommen und dann verarbeitet, in einer enormen Komplexität und polaren Spannung zwischen Gefühlhaftem und Verstandesmässigem.

 

Diesen Vorgang dürfen wir nicht beschleunigen wollen, denn die Ausbildung des sozialen Verantwortungswillens hält - angeblich? - nicht Schritt mit der künstlichen Akzeleration.

Portmann ist hier wie überall für das Mittelmass im „Sinn von Mitte und Mass von Harmonie des Leibes und des Geistes“. „Das Positive der menschlichen Entwicklung bleibt ein geruhsames Heranwachsen, ein spätes Reifen ... Die Jahre der Kindheit sind dem Werdeplan des Menschen eingegliedert als Notwendigkeit sowohl wie als Freiheit.“

 

Die Entwicklungsbeschleunigung der Jugend in unserm Jahrhundert wird besonders eingehend und unter verschiedensten Aspekten betrachtet. Grössere Körperlänge und frühere Geschlechtsreife beruhen wohl auf einer Kombination von vielerlei: „unbewusste soziale Auslese von Mutanten“, Heirat von Partnern aus immer weiter auseinanderliegenden Orten, bessere Ernährung, mehr Licht und schliesslich die Verstädterung mit dem ungeheuren Reizzuwachs.

 

Vielfältige Sozialprobleme

 

Weitere Artikel behandeln das Evolutionsdenken (vom 18. Jahrhundert bis zu Julian Huxley), die unrichtige Auffassung des Menschen als „Mängelwesen“ und in einem dritten, 170seitigen Teil „Sozialprobleme“, als da wären:

Manipulation - beispielsweise durch Kindergarten-Lernprogramme, Früheinschulung, überhaupt die Schule (mit ihrer zunehmenden Intellektualisierung) und die Massenmedien -, ferner das Spielen bei Tier und Mensch, die Beziehungen der Geschlechter, die Menschenbilder - beispielsweise: Ist der Mensch ein Herdenwesen oder ein unersetzbares Individuum? - und Weltbilder samt ihren Folgen, die bis zur „Menschenplanung“ durch Bio-Ingenieure führen.

 

An Hand vielfältiger und trefflicher, plastischer . Beispiele - allerdings mit sehr vielen (unumgänglichen) Wiederholungen - lehrt uns Portmann, der ernste Humanist, genau hinzuschauen und nach allen Seiten offen zu denken.

 

Wissenschaft und Leben zusammenführen

 

Portmann spricht immer als der wahrhaft weise Biologe zu uns, der die Wissenschaft wieder mit dem Leben zusammenzuführen sucht. Gemessen und mit tiefer Liebe zu allem Kreatürlichen vertritt er eine Philosophie der Polarität, welche beim Menschen eine gegensätzliche und gleichzeitig komplementäre Wirkungsweise von ästhetischer und theoretischer Funktion feststellt.

 

Da der Geist der Gegner des Spontanen ist, droht die Imagination heute vom Intellekt verdrängt zu werden Nicht mehr die Beobachtung des Vogelzugs, das Schauen des goldenen Herbstlaubs, der Gang durch taufeuchte Auen wird gepflegt, sondern die wissenschaftliche Erforschung mittels des analysierenden Verstandes. An die Stelle von naiver Anschauung treten rechnerische Verfahren. Die Traum- und Zauberwelt, die Märchen und Mythen verblassen. Eine unheilvolle Disharmonie breitet sich weltweit aus.

 

Das ist kein wehmutsvoller Blick in die entschwundene „heile Welt“ - die ja schon früh voll Unterdrückung, Illusionen und Lügen war -, sondern ein leidenschaftlicher Aufruf, das Gemüt wieder zu seinem Recht kommen zu lassen, auf dass der Mensch ein ganzer werde.

 

Erschienen in den Basler Nachrichten, 11. November 1970

 



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