Hilft Interdisziplinarität Probleme lösen?
Zwei Skizzen aus dem Sommer 1974
Siehe auch: Fragen der interdisziplinären Arbeit
Inhalt Teil I: Interdisziplinarität war bis 1900 weder bekannt noch erforderlich Teil II: Was ist interdisziplinäre Zusammenarbeit?
Teil I: Interdisziplinarität war bis 1900 weder bekannt noch erforderlich
Die Postulate von interdisziplinärer Zusammenarbeit und ganzheitlicher Betrachtungsweise sind in den letzten Jahren immer deutlicher ins Blickfeld gerückt. Wir können uns fragen, weshalb hierbei so vieles noch in den Anfängen steckt, warum es soviel Mühe bereitet, diese Postulate zu verwirklichen und was die beiden voneinander unterscheidet.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit war zu Zeiten etwa eines Avicenna, Albert des Grossen, Leonardo, Galilei, Newton, Leibniz, Voltaire, Albrecht von Haller, d'Alembert, Goethe und oder im Jahrhundert der von Humboldt und von Helmholtz, Mill, Marx, Comte, Fechner, Darwin, Spencer, Wundt und James weder bekannt noch erforderlich, da manche grossen Forscher und Denker versuchten, in ihrer Person die verschiedensten Wissenschaften zu vereinigen und gleichzeitig eine universale Betrachtungsweise pflegten.
Spezialisierung und Loslösung von der Philosophie
Dieser Wille zur Ganzheit und zum Umfassenden, zum empirisch Fundierten und exakt Systematischen ist auch in unserem [20.] Jahrhundert nicht verschwunden. Drei schwerwiegende Entwicklungen stehen dem jedoch entgegen:
Wie sehr dies vom Aufkommen der Technik bedingt war oder wie sehr diese Vorgänge dem Vordringen der praktischen Erprobung und Anwendung theoretischen Wissens den Weg ebneten und wie eng damit soziale und kulturgeschichtliche Entwicklungen zusammenhängen, dies abzuklären ist hier nicht der Ort.
Wir können nur festhalten, dass die gesamthafte Betrachtungsweise nach der Aufklärung als dem "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant) zunehmend in Schwierigkeiten geriet. Zeitraubende und aufwendige Experimentalarbeiten förderten eine zunehmend unüberblickbarer werdende Menge von Daten zu Tage, immer mehr Forscher waren in immer mehr staatlichen Universitäten und Hochschulen, in Labors und im Felde tätig. Das überlieferte Weltgebäude begann zu zerbröckeln, die Probleme erwiesen sich als immer komplexer, der Halt der Tradition verlor seine stützende Kraft.
Kurz: Entdeckungen, Erfindungen und denkerische Bemühungen im Verein mit sozialen, politischen und ökonomischen Umwälzungen erweiterten den Horizont des Menschen in physischer und geistiger Hinsicht zusehends. Doch es gab zuviel Neues, das von allen Seiten auf den Menschen einströmte, als dass es noch bewältigt werden konnte.
Bedürfnis nach „instauratio magna“ und „Einheit der Wissenschaft“
Dieses Unvermögen einer Bewältigung macht uns heute so sehr zu schaffen. Umso grösser ist das Bedürfnis nach einer "instauratio magna" im Sinne Francis Bacons (1620), einer "sozialen Physik" im Sinne Hobbes (1642) oder einer neuen ''mathesis universalis" im Sinne von Lullus (13. Jh.), Descartes (1641) und vor allem Leibniz, um das seit dem 18. Jh. auseinanderstrebende Gefüge der Einzelwissenschaften wieder zusammenzuklaftern.
Während noch bis 1930 Naturphilosophen sich bemühten, diese Zerspaltung des Wissens in einer "Pyramide der Wissenschaften" (Wilhelm Ostwald) oder dergleichen zu zementieren und jede einzelne Disziplin möglichst scharf von andern zu scheiden, keimte bereits eine Strömung auf, welche die Grenzen einzureissen trachtete. Bahnbrechend war darin der "Wiener Kreis" um Schlick, Carnap, Neurath und Feigl und den ihnen nahestehenden Russell, Wittgenstein und Reichenbach. 1935 fand in Paris der Internationale Kongress für Einheit der Wissenschaft statt (frz.: „Congres International de Philosophie Scientifique“), ab 1939 wurde die Zeitschrift des Wiener Kreises, "Erkenntnis" in Holland unter dem Titel "Journal of Unified Science" weitergeführt; gleichzeitig erschien die "International Encyclopedia of Unified Science". Seit 1948 erscheint die Zeitschrift "Studium generale".
Einheit statt Einteilung, Universalität statt sektorielle oder partikuläre Betrachtung, Gesamtheit statt Summierung, das sind Forderungen, die schon verschiedentlich in der Geschichte von Philosophie und Naturwissenschaft aufgetaucht sind. Zusammenfassung im doppelten Sinne des Wortes, Sammlung und Zusammenschau, Verbindung und Analyse von Wechselwirkungen sind heute nötiger denn je, aber auch schwieriger.
Zwei Arten der Integration des Wissens
Wie soll eine solche Integration des Wissens, eine solche Globalbetrachtung, eine solche Allgemeinheit der Erkenntnisse zustande gebracht werden? Es gibt verschiedene Wege dazu. 1. Der eine besteht in einem enzyklopädischen Zusammentragen. Dieses Verfahren wurde im Aristotelischen Lykeion, im Alexandrinischen Museion, in den blühenden Städten der islamischen Herrscher, am Hofe des Hohenstaufenkaisers Friedrich II., in den "Summae" des Hochmittelalters und im Mediceischen Florenz gepflogen und liess dabei eigener philosophischer und wissenschaftlicher Durchdringung entweder durch einzelne oder "Teams" breiten Raum. Der wurde erst abgebaut in den "dictionnaires raisonnés", den kritischen Sachwörterbüchern des 18. Jahrhunderts, allen voran die 35bändige "Encyclopédie“ - nur in der Einleitung machte d'Alembert den Versuch, alle Gebiete des Wissen in einen logischen und genetischen Zusammenhang zu bringen. Heute haben wir die "Encyclopaedia Britannica" und den "Grossen Brockhaus".
2. Standen die Werke des Aristoteles, Avicenna, al Biruni, Thomas von Aquin, Albrecht von Haller, Buffon, Linné, Comte und Spencer unter einer einheitlichen Idee, verraten die Grundüberzeugungen des Autors, so sind die übrigen Wissenszusammenstellungen eher Spiegelungen des Zeitgeistes. Es sind meist lexikalische oder bibliographische Anhäufungen, wahrend die Opera der grossen Denker und Forscher Systematik spiegeln. Das heisst nicht, dass nur Systematiker grosse Forscher und Denker wären. Leonardo und Gauss, Faraday und Julius Robert Mayer, Adam Smith und Lavoisier, Rousseau und Herder gelten nicht als Systematiker!
Teil II: Was ist interdisziplinäre Zusammenarbeit?
Wer sich aufmacht zu untersuchen, worin "interdisziplinäre Zusammenarbeit" bestehe, wo und von wem sie gepflegt werde, sieht sich bald vor ungeahnten Schwierigkeiten. Kein Buch trägt diesen Titel. Kein Lexikon gibt Hinweise; der Duden verzeichnet nicht einmal das Wort „interdisziplinär“. Sowohl in der "Wissenschaftskunde " von Werner Schuder (1955) als auch in der neuesten zweibändigen Aufzählung von etwa drei Dutzend Wissenschaften durch den Journalisten Oskar Holl (Verlag Dokumentation, 1973) ist nichts über solche Bestrebungen zu finden. [Die ersten informativen Sammelbändchen wurden von Helmut Holzhey herausgegeben: „Interdisziplinäre Arbeit und Wissenschaftstheorie“, 1974.]
Dennoch liest und hört man oft davon, allerdings nichts Genaues. Es gibt seit 1968 ein "Zentrum für interdisziplinäre Forschung" an der Universität Bielefeld (Direktor Helmut Schelsky) und ein ähnliches, ausgerichtet auf Fragen der Gesundheit, am Kantonsspital St. Gallen. Sonst scheint interdisziplinäres Vorgehen mehr Wunsch als Tatsache zu sein.
Zwei Fachleute bilden ein Team
Liegt die Schwierigkeit daran, dass es weder eine Wissenschaft mit dem Namen „Interdisziplin“, noch einen Ansatz oder eine Betrachtungsweise unter dieser Bezeichnung gibt? Oder ist umgekehrt die Sache so einfach, dass immer, wenn zwei Spezialisten verschiedener Fachgebiete zusammenarbeiten, dies interdisziplinär ist, beispielsweise C. G. Jung mit Karl Kerényi oder Wolfgang Pauli; oder Karl Jaspers mit Adolf Portmann. Allzuviele Beispiele kommen einem da allerdings nicht in den Sinn. Liegt das an der geringen Zahl oder daran, dass einem der Sinn dafür nicht geschärft ist? Die meisten bekannten Teams liegen innerhalb von Fachgrenzen, handle es sich um Marx/ Engels, Russell/ Whitehead, Hilbert/ Bernays, Geiger/ Müller, Michelson/ Morley, Gilbreth/ Taylor, Mayo/ Roethlisberger und McCulloch/ Pitts, Kahn/ Wiener, Masters/ Johnson und Peter/ Hull oder Rodgers/ Hammerstein und Brecht/ Weill. Ähnliches gilt für Handbücher, wobei sich freilich der Kreis der Mitarbeiter ausweitet, je grössere Gebiete abgesteckt werden.
Gemeinsame Anstrengungen sind vonnöten
Interdisziplinäre Forschung scheint somit selten praktiziert zu werden und sich meist über nicht allzulange Zeitspannen zu erstrecken. Das muss keineswegs nur psychologische Gründe haben, sondern kann und wird in den meisten Fällen am Kernpunkt der Zusammenarbeit liegen: dem gemeinsamen Ziel.
Dass heute von Politikern und Wissenschaftern der Ruf nach dem Interdisziplinären so vernehmlich geäussert wird, hängt damit zusammen, dass die zu bewältigenden Aufgaben ein Ausmass angenommen haben, dass sie nur noch in gemeinsamer Anstrengung erfolgversprechend angegangen werden können. Das bedeutet aber auch: Die Aufgaben sind im generellen vorgegeben, jedoch nicht im Detail, sie liegen allüberall in der Luft und werden von Tag zu Tag bedrängender, jedoch sind sie nicht exakt formuliert. Und mit dieser ungenügenden Präzisierung ist die Zielsetzung aufs engste verknüpft.
Gemeinsame Zielsetzung impliziert eine „ganze“ Politik
Zielsetzung findet in einem diffizilen Wechselprozess von Problemfindung und -analyse, Bewertung und Entscheidung statt. Sie fixiert also keinesfalls nur die Ziele, sondern ebensosehr die Probleme sowie die Wege, Mittel und Verfahren, mit deren Hilfe man sich an eine Lösung herantasten könnte. Kurz: Zielsetzung impliziert eine vollständige "Politik", und diese besteht grundsätzlich in der Vierheit von Programm, Ziel, Richtlinien und Massnahmen. Vollständige Politik heisst jedoch auch "ganze" Politik. Dass es an dieser Ganzheitlichkeit aber im wissenschaftlichen wie gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Bereich fehlt, ist unbestritten.
Alle Probleme haben eine Vorgeschichte
Gerne wird für diesen Mangel die Komplexität der heutigen Probleme vorgeschoben. Da ist zu bemerken, dass sich diese Probleme nie blitzartig ins Unermessliche steigern, sondern stets eine Vorgeschichte haben. Die allermeisten Probleme künden sich kürzere oder längere Zeit voraus an, sind dem wachsamen Geist und Auge zugänglich, entwickeln sich. Sie fallen nicht vom Himmel und schleichen sich nicht über Nacht in die Laboratorien oder Amtsstuben. Hinzu kommt, dass der Mensch seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden mit Problemen lebt, mit Unzulänglichkeiten und schwierigen Aufgaben fertig werden muss. Das war zu Beginn des Maschinenzeitalters so, aber auch schon im alten Babylon oder Rom. Schliesslich hat sich auch die Art der Probleme zum grössten Teil kaum gewandelt, handle es sich um das Zusammenleben in der Familie oder am Arbeitsplatz, in der Gemeinde oder zwischen den Völkern, handle es sich um Erziehung und Bildung oder die Beschaffung von Rohstoffen, Lebensmitteln und Energie. Das Ausmass freilich ist mit der Zunahme der Menschen und seiner Produktionen ausserordentlich gestiegen.
Warum gibt es nicht mehr kluge Menschen und Technik?
Doch da kann man sogleich die Frage stellen, warum die Bevölkerungsexplosion nicht mehr Menschen gebracht habe, welche mit ihrem Wissen und Können an der Bewältigung der anstehenden Probleme mitzuhelfen vermöchten und weshalb die Fortschritte der Technik nicht mehr Mittel zu Lösung ebenderselben Aufgaben bereitzustellen imstande gewesen sind.
Ist es einfach unumgänglich, dass Geistes- und Produktionskraft den Problemen stets hinterher eilen - oder hinterherhinken? Muss die Kluft zwischen Aufgaben und Fähigkeiten bestehen bleiben?
Geradezu absurd mutet in diesem Zusammenhang an, dass die Elementarteilchenphysik für ihre Erforschung des Bereichs der kleinsten Teilchen immer grössere, kilometergrosse Anlagen - wie auch die Astronomie - benötigt und dabei auch die ungelösten Rätsel immer - grösser werden. Vor den staunenden Blicken der Wissenschafter entfaltet sich das Geheimnis an den zerfransenden Grenzen des Immerkleineren ebenso wie an den auslaufenden Grenzen des astronomischen Immerriesigeren.
Es ist auch sonst seltsam. Neunzig oder mehr Prozent aller Forscher, die je gelebt haben, sollen heute leben, und noch immer sind die brennendsten Probleme der Menschheit nicht gelöst.
„Wir haben noch etwa ein Jahrzehnt zur Verfügung“
Vor fünf Jahren warnte der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, U Thant, nach seiner Schätzung hätten "die Mitglieder dieses Gremiums noch etwa ein Jahrzehnt zur Verfügung, ihre alten Streitigkeiten zu vergessen und eine weltweite Zusammenarbeit zu beginnen, um das Wettrüsten zu stoppen, den menschlichen Lebensraum zu verbessern, die Bevölkerungsexplosion niedrig zu halten und den notwendigen Impuls zur Entwicklung zu geben" (zitiert in Dennis Meadows et al.: „Die Grenzen des Wachstums“ zu Beginn der Einführung).
In der ersten Halbzeit dieser Dekade [1970er Jahre] sind die Impulse doch recht spärlich ausgefallen. Dabei hatte in den vierziger Jahren die "Zusammenarbeit" recht vielversprechend eingesetzt, wenn auch weniger politisch und wirtschaftlich als wissenschaftlich. Eine der besten Schilderungen interdisziplinären Bemühens gab Norbert Wiener in der Einführung zu seiner "Kybernetik" (1948; dt. erst 1963).
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