HomeGanzheitliches Denken - heute und im Laufe der Geschichte

 

Was steckt hinter der Forderung nach "ganzheitlichem Denken" und wie sähe ein solches aus?

Wie immer erweist sich eine Rückblende als aufschlussreich.

 

Siehe auch: Etappen ganzheitlichen Denkens: kurzer Überblick

                     Etappen ganzheitlichen Denkens. Ausführliche Version

 

 

1960-1980: Systemdenken und Protestbewegungen

 

In den vorwiegend wirtschaftlichen und technischen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg drangen in den sechziger Jahren zwei neue geistige Strömungen ein, die man ganz pauschal als bürgerlichtechnokratisch und antibürgerlich-bewusstseinserweiternd bezeichnen kann.

  1. Erstere beruht auf dem System- und Modelldenken und fächerte sich unter anderem in Systemanalyse und Operations Research, Kybernetik und Informationstheorie, Entscheidungstheorie und  Kommunikationstheorie, Zukunftsforschung und Planungswissenschaften auf.

  2. Letztere beruht weitgehend auf dem Ansatz des Marxismus-Leninismus und spannte sich von der Kritischen Theorie bis zur östlichen Meditation. Sie äusserte sich vielfältig in Protest-, Emanzipations- und Mitbestimmungsbewegungen, antiautoritärer Erziehung und Antipsychiatrie, Sexwelle und Drogenkonsum, Pop- und Undergroundkultur.

 

(Etwas weniger Popularität erlangten zwei andere wichtige Strömungen: Strukturalismus einerseits, Analytische Philosophie und Sprachanalyse anderseits.)

 

Beide Ansätze verstanden sich als revolutionär, versprachen sie doch Überwindung erstarrter Denk- und Vorgehensschemata, Lösung von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen und als Fernziel Befreiung des Menschen aus überholten Abhängigkeiten und Gestaltung einer besseren Welt.

Mit moralischen Fragen, Sinn- und Wertbetrachtungen taten sich beide auf unterschiedliche Weise schwer.

 

Mit gebührender Vorsicht kann man sagen, dass in den zwanzig Jahren von 1960 bis 1980 die einen das Heil im Systemdenken und -planen, die andern in der Kritik oder Revolutionierung der "herrschenden Systeme" sahen.

 

Seit 1980: "New Age" oder "rising culture"

 

Ende der 70er Jahre versandeten die meisten Strömungen. Die Erwartungen waren nicht erfüllt worden. Enttäuschte Hoffnungen führen zu vermehrter Beachtung der Sinnfrage und schaffen Raum für das Eindringen "neuer" Strömungen.

Äusserlich dokumentierte sich die Ernüchterung in der Vorsilbe „Post“. Zuerst taucht die Post-industrielle Gesellschaft (der Begriff von Daniel Bell, 1967; das Buch erst 1973; dt. 1975), dann die Post-Moderne und Posthistoire (ca. 1977; dazu Thomas Jung und Lutz Niethammer, 1989) auf. Der Strukturalismus wandelte sich zum Poststrukturalismus, die Philosophen begannen sich Postmarxisten und Postanalytiker zu nennen.

 

Weiterentwickelt haben sich in den 80er Jahren nur das Systemdenken und die Hippie- oder „grüne“ Kommunen-Bewegung. Erstere reicherte sich mit den Gedanken der Selbstorganisation und Evolution an, letztere breitete sich unter dem Schlagwort „New Age“ aus.

Bemerkenswert sind ferner die Entstehung eines richtiggehenden „Psychobooms“ in den 70er Jahren und das Anwachsen konservativer Tendenzen seit 1980. Der Psychoboom verband sich besonders mit dem New Age.

 

Der Herold des neuen Zeitalters, Fritjof Capra, betonte immer wieder; seit 1980 spreche man besser von "rising culture".

Das ist als Schlagwort treffend und kontrastiert gut mit der Lethargie und Lustlosigkeit, die sich in den 80er Jahren mancherorts ausbreitete.

Unter dem Begriff "Kultur" kann man auch die Forderung nach ganzheitlichem Denken fassen, denn er gibt Hinweise auf zweierlei: die Beachtung der Tradition und die eigene Anstrengung. "Kultur" kommt nicht von aussen her und nicht von selbst, vielmehr ist Kultur etwas, worum der Mensch seit je gerungen hat und was je und je neu errungen werden musste. Das erfordert allerdings, dass sich aus dem Denken auch ein Handeln ergibt. Denken und Handeln machen erst Kultur aus. Da beides auf verschiedene Weise geschehen kann, ergeben sich unterschiedliche Ansätze und Ergebnisse.

 

Ganzheitliches Denken ist ein uraltes Ideal

 

Plakativ kann man daher drei Thesen aufstellen:

  1. Ganzheitliches Denken ist nichts Neues, sondern ein Ideal, das der Mensch immer wieder angestrebt hat.

  2. Ganzheitliches Denken muss sich in ebensolchem Handeln äussern.

  3. Hinter der Forderung nach ganzheitlichem Denken verbergen sich unterschiedliche Absichten und Strömungen.

 

In einem Satz: Ganzheitliches Denken ist uralt, bloss die Hälfte und ein Sammelsurium von Ansätzen.

 

Im folgenden seien diese Thesen in umgekehrter Reihenfolge erläutert.

 

Alter Wein in neuen Schläuchen

 

Wenn man boshaft sein will, dann kann man behaupten: Als die System- und Zukunftsforscher auf der einen Seite, die kritisch-emanzipatorischen Agitatoren auf der andern Seite vor ein paar Jahren Ansehen und Einfluss zu verlieren drohten, hängten sie sich das Etikett "ganzheitliches Denken" um.

 

So hielt etwa der Pionier des systemorientierten Managements an der Hochschule St. Gallen, Prof. Hans Ulrich,1985 ein "Plädoyer für ganzheitliches Denken".

 

Auf dasselbe Geleise sind Vertreter der Kritischen Theorie wie Klaus Holzkamp und Jürgen Habermas eingeschwenkt. Sie versuchen unter den Begriffen "Lebenswelt", "kommunikatives Handeln" und „Versöhnung“ resp. „Gesamtprozess der Lebensgewinnung“ oder „gesellschaftlich-historischer Prozess“ Gesellschafts-, System- und Handlungstheorie zusammenzubringen.

 

Auch aus den Reihen der Naturwissenschaften wird die Forderung nach "ganzheitlichem Denken" laut. Prominent sind etwa die "evolutionäre Erkenntnistheorie" des Biologen Rupert Riedl oder die Thesen der Physiker David Bohm, Jean Charon und Fritjof Capra.

 

Schliesslich ist ein Aufleben konservativer Strömungen zu bemerken. Man kann dazu sowohl Ansätze aus der sog. "New Age"-Bewegung zählen wie Esoterik, Okkultismus, Astrologie, östliche Weisheit usw., aber auch die Wiederentdeckung von Unternehmenskultur und Wirtschaftsethik, von Humanismus, biomedizinischer Ethik und Ganzheitsmedizin, Umweltethik und Weiblichkeit.

 

Die Forderung nach "ganzheitlichem Denken" kann also aus mindestens vier ganz unterschiedlichen Blickwinkeln heraus gestellt werden: vom Systemdenken, von der Kritischen Theorie, von der Naturwissenschaft oder vom Neukonservativismus her.

 

"Ganzheitliches Denken" verlangt auch nach "ganzheitlichem Handeln"

 

Das hat freilich zur Folge, dass nicht alle, die von "ganzheitlichem Denken" reden, dasselbe darunter verstehen. Im Klartext: Die theoretische oder weltanschauliche Position, Ausbildung und Interessen führen zu unterschiedlichen Definitionen und geben der Forderung je andere Färbungen - lassen aber auch bestimmte Defekte erkennen.

 

Ein auffälliger Defekt besteht vielfach im Vergessen des Handelns. "Grau teurer Freund, ist alle Theorie" wusste doch schon Goethes Mephisto (im "Faust"), und grün ist "des Lebens goldner Baum".

Das ganzheitliche Denken müsste sich also in ganzheitlichem Handeln ausdrücken, und da das Handeln immer individuell ist und im Alltag stattfindet hiesse das: "ganzheitliches Handeln" im Privatleben, am Familientisch und am Arbeitsplatz, in Lehre und Forschung, im Freundeskreis und in Vereinigungen, in Sitzungen und Konferenzen, im Verkehr wie in der Freizeit.

Der Umgang mit Menschen und Sachen, mit den tausendfältigen Gestalten und Gebilden der Natur und Kultur wäre die Nagelprobe für das "ganzheitliche Denken". Wer kann sie bestehen? Da gilt wohl die alte Erkenntnis: "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach" (Mat. 26, 41).

 

Unversehens, aber notwendigerweise gelangt man so zur menschlichen Psychologie. Nicht nur die Schwächen und Fehler, Verblendungen und Blockaden des Denkens bestimmen sein Handeln, sondern auch seine Antriebs- und Willensschwächen, seine Stimmungen und Gefühle, kurzfristige und egoistische Interessen, usw.

 

Ganzheitliches Handeln ist moralisches Handeln

 

Eine Theorie des "ganzheitlichen Handelns" steht noch aus. Einige Prinzipien, die darin einfliessen müssten, lassen sich jedoch leicht geben.

Ein Stichwort ist bei den Forderungen aus dem konservativen Denken bereits gefallen: Ethik. Ganzheitliches Handeln wäre demnach moralisches Handeln. Was bedeutete das konkreter?

Dafür kann man das Bild von Schloss und Schlüssel nehmen: Der Schlüssel, den das ganzheitliche Denken liefert und der das Schloss des ganzheitlichen Handelns aufschliesst, heisst: Verantwortung.

 

Was gehört dazu?

Etwa die "goldene Regel" ("Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg auch keinem andern zu"; vgl. Tobias 4, 16),

die 5 buddhistischen und 10 biblischen "Gebote",

ergänzt durch die Achtung der Menschenrechte, Vorurteilslosigkeit, Gerechtigkeit und Solidarität.

Das klingt "konservativ". Zeitgemäss ausgedrückt hiesse das: ein "ganzer" Mensch sein und jeden andern Menschen als "ganzen" Menschen anerkennen. Da bleibt die bange Frage: "Ist das eine über-menschliche Forderung?"

 

Nicht unbedingt. Wenn ich auf meine Menschenwürde poche, müsste ich dieselbe auch jedem andern Menschen zugestehen. Wenn ich mein Leben zu bewahren trachte, müsste ich auch allem andern Leben mit Ehrfurcht begegnen. Albert Schweitzer hat das 1923 in einem Buch mit dem treffenden Titel "Kultur und Ethik" sehr schön gezeigt.

Dahinter steht ein Drittes: Wenn ich mir meiner eigenen Hinfälligkeit bewusst bin und bemerke, dass ich nicht allein Herr meines Lebens, Wirkens und Leidens bin, wenn ich sehe, dass es unendlich viel gibt, das nicht in Menschenhand liegt und nicht von Menschen geschaffen wurde, dann gelange ich zur Einsicht, dass es Grösseres gibt, von dem ich nur ein Teil bin - und alles andere auch.

 

Das "grössere Ganze", von dem wir Teil sind

 

Mit diesem grösseren Ganzen hat der Mensch sich wohl seit Anbeginn beschäftigt. Das Bemühen, die Welt zu verstehen und den Sinn des Lebens herauszufinden, ist uralt.

 

Ein paar Streiflichter aus der Geschichte mögen das zeigen.

 

Die Vorgeschichtsforscherin Marie E. P. König hat dem ganzheitlichen Denken bei den Höhlenbewohnern nachgespürt. ("Unsere Vergangenheit ist älter", 1980).

Besser fassbar wird es in den vier grossen alten Hochkulturen Mesopotamien, Ägypten, Indien und China. Überall befasste man sich mit dem Weltganzen (Kosmologie; vgl. z. B. Carmen Blacker/ Michael Loewe 1977, Ulrich Mann 1982), seiner Entstehung und Ordnung sowie den darin wirkenden Kräften und Gesetzen (me; Maat; Rita und Dharma; Tao).

Das wichtigste Deutungs- und Beschreibungsmittel waren Analogien (Ernst Topitsch, 1958).

 

Die Alten Griechen beschritten bekanntlich den Weg "vom Mythos zum Logos" (Wilhelm Nestle 1940). Sie fassten insbesondere den Kosmos - als Wohlordnung -, die menschliche Gemeinschaft (polis), den Menschen (anthropos) und seine Werke - z. B. Dichtungen und praktische Wissenschaften (techné) - als Ganzheiten auf. Dafür brauchten sie bereits den Begriff "System".

 

Ganzheits- und Systembetrachtung gehören also seit alters zusammen. Denn was war den Griechen ein System? "Ein Gebilde, das irgendein Ganzes ausmacht und dessen einzelne Teile in ihrer Verknüpfung irgendeine Ordnung aufweisen" (Alois von der Stein 1968).

 

Das Ganze ist verknüpft aus Gegensätzen

 

Verknüpft - oder wie wir heute sagen: vernetzt - werden meist irgendwelche Gegensätze. Das waren bei den Pythagoreern unter anderem das Begrenzte und das Unbegrenzte - also etwa geschlossene und offene Systeme -, die durch Harmonie vereinigt werden. Auch bei Parmenides (Fr. 9) und Empedokles (Fr. 17) besteht der Kosmos im Gleichgewicht gleicher, aber entgegengesetzter Kräfte.

Ärzte wie der Pythagoreer Alkmaion, Empedokles und Hippokrates legten daher grosses Gewicht auf die "richtige Mischung" auch beim Menschen. So wird bei Alkmaion die Gesundheit "durch das Gleichgewicht der Kräfte erhalten" (Fr. 4). Bemerkenswert ist die Erkenntnis, dass "äussere Veranlassungen", also die "Umwelt" (z. B. Trinkwasser, Klima, Überanstrengung, Folter), die "gleichmässige Mischung der Qualitäten" stören können.

 

Bei anderen Denkern sind die Gegensätze ungleich und liegen ständig im Kampf (Heraklit, Fr.80). Die Interaktion der Gegensätze ist universal; sie bewirkt unterschiedliche Auffassungen darüber, was "recht" und "gerecht" oder normal und üblich ist (G. E. R. Lloyd 1977). Aus dem Gegeneinander des Widerstrebenden ergibt sich eine enorme Dynamik, daher ist alles im Fluss.

Immerhin wäre eine Einheit als "gegenwendige Zusammengefügtheit" möglich, und zwar aus folgenden "Verbindungen:

·                    Ganzes und Nichtganzes

·                    Zusammengehendes und Auseinanderstrebendes

·                    Einklang und Zwieklang sowie

·                    aus Allem Eins und aus Einem Alles (hen kai pan; Fr. 10).

 

Das Ganze und seine Teile - mechanisches Zusammenspiel der Atome

 

Für die folgende Entwicklung der Geistesgeschichte muss man zweierlei im Auge behalten:

  1. Neben die ganzheitliche Betrachtung von Dingen treten nun auch Reflexionen auf die Begriffe und Probleme "Ganzes" und "Teil'; "Einheit" und "Allheit'; "Summe" und "Zusammenhang", usw.

  2. Es taucht eine Gegenposition zum Ganzheitsdenken auf, die als Atomismus oder Mechanismus bezeichnet werden kann und die schliesslich in der Neuzeit zum wissenschaftlichen Denken und Forschen führte.

 

Erste Begriffsbestimmungen für "Ganzes" und "Teil" finden sich bei Platon und Aristoteles. Daher werden sie oft als Väter des Ganzheitsdenkens betrachtet. Sie waren freilich nicht gleicher Auffassung, weshalb sich fortan über 2000 Jahre der Platonismus und Aristotelismus in mannigfachen Spielarten unterscheiden lassen.

 

Sehr schematisch kann man Platon als Ideendenker, Aristoteles als Organismusdenker bezeichnen.

Im Unterschied zu den meisten Vorsokratikern sind beide weniger Gegensatz- als vielmehr Einheitsdenker. Bei Platon wird der Kosmos von einem einzigen und obersten Prinzip, der Vernunft, eher von aussen regiert (und zwar nach einer Idee oder einem Plan), bei Aristoteles stecken eher lebendige Kräfte im Innern der Dinge und wirken zielstrebig.

Die Gegenposition entwickelte sich aus der Schule von Elea (Zenon) und dem bereits mechanischen Denken von Empedokles in der sog. Atomtheorie von Leukipp und Demokrit.

Sie ist aber erst gut fassbar in den Schriften von Epikur und Lukrez: Die Welt besteht aus dem mechanischen Zusammenspiel der Atome.

 

Bei den alten Griechen herrschte ein Hin und Her, das ist die Dialektik

 

Holismus (Ganzheitslehre) und Atomismus waren weder einheitliche noch die einzigen Positionen. Die griechische Philosophie und Naturdeutung bietet ein äusserst buntes Bild. Zu jeder These wurden Abwandlungen entwickelt und Gegenthesen aufgestellt. Die Auseinandersetzungen waren mitunter heftig; es wurde kritisiert und gehöhnt; Argumente mussten gesucht, geprüft oder zurückgewiesen werden. Kurz: Es herrschte ein wechselseitiges Hin und Her.

 

Platon stilisierte dieses reale Schauspiel zur Methode: Die Dialektik führt uns im Zwiegespräch (Dialog) und im Hin- und Herdenken, im Wechsel von Analyse und Synthese hinauf ins Reich der Ideen. Die Dialektik "zieht das in einem gewissen barbarischen Schlamme vergrabene Auge der Seele allmählich hervor und führt es aufwärts".

Es braucht also zweierlei: Rede und Gegenrede sowie Detailforschung und Zusammenschau. Aber nur wer zusammenschauen kann, nach Platon der "Systematiker", ist der wahre Dialektiker.

 

Was die Dinge zu ganzheitlichen Gestalten macht, nämlich das Band (desmos), das die Teile verbindet, oder die wechselseitige Verknüpfung (symploké), das leistet im Denken die Zusammenschau (synopsis). Sie bedient sich gerne der Analogien - z. B. Seele/ Körper/ Staat - und kann zum Kosmopolitismus führen, wie etwa in der Stoa.

 

Aristoteles über Ganzes und Teil

 

Aristoteles hat sich in seiner "Metaphysik" ausführlich mit der Ganzheit auseinandergesetzt (z. B. V, 25ff; VII, l0ff). Seine wichtigste Formel stammt allerdings aus der "Politik" (I, 2.6):

"Denn das Ganze ist notwendig ursprünglicher (oder: früher) als der Teil."

Fälschlicherweise behauptet man (z. B. Ludwig von Bertalanffy), Aristoteles habe behauptet: "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile." Diese Formel taucht aber erst 2200 Jahre später auf.

 

Man muss also, wie überall, vorsichtig sein und die früheren Denker mit Sorgfalt und Einfühlung studieren und ernst nehmen. So einfach und leichtverständlich sind alte wie neue Philosophien allemal nicht.

 

Was wir aber festhalten können ist, dass sich im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus im Alten Griechenland die Problematik von Teil und Ganzem, von Gestalt und System, organisch und mechanisch, Teleologie und "von selbst", Zufall und Notwendigkeit bereits reich entfaltet hat.

 

Was lief in den nächsten 1500 Jahren?

 

In den nächsten 1500 Jahren tat sich nicht sehr viel. Erwähnenswert sind allerdings etwa

·                    Hermetik und Alchemie

·                    Gnosis

·                    Neuplatonismus und Magie

·                    jüdische Mystik und Kabbala

·                    die Kirchenväter

·                    christliche Mystik

·                    die islamischen Gelehrten und Forscher.

 

Erst im 13. Jahrhundert wurden neue Bemühungen um ganzheitliches Denken sichtbar. Äusserlich zeigte sich dies in der Gründung von Universitäten und im Zusammenstellen riesiger Enzyklopädien, von der Idee her in den "Summen" des Franziskaners Alexander von Hales und der Dominikaner Albertus Magnus und Thomas von Aquin sowie in der "scientia universalis" des Franziskanertertiars Raymundus Lullus.

 

1400-1540: Ganzheitliches Denken wird politisch und magisch

 

Im 15. Jahrhundert erhielt das ganzheitliche Denken - neben der Mystik, die sich ohne Unterlass bis 1800 hielt - eine neue Dimension: die politische. Man kann sie in das Ideal des "Gemeinwohls" und den darauf ausgerichteten "Utilitarismus" fassen. Führend waren die grossen Florentiner Humanisten:

- Der Kanzler Coluccio Salutati (1400) und Matteo Palmieri (1431) entwarfen das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft.

- Der Kanzler Leonardo Bruni (Aretino) forderte die "studia humanitatis".

- Der Pamphletist Lorenzo Valla begründet den Utilitarismus und die Sprachdialektik.

- Der "uomo universale" Leon Battista Alberti propagierte die Familienökonomie und berücksichtigte beim Städtebau ökologische Fragen.

 

Nach dieser recht pragmatischen und handfesten Orientierung rutschen die nachfolgenden Einzelgänger weit zurück. Cusanus (um 1460), Bovillus und Paracelsus griffen die stoische Makrokosmos-Mikrokosmos-Konzeption wieder auf und bauten sie aus. Ficino, della Mirandola und Agrippa (1510) erneuerten den Platonismus wie Neuplatonismus, liessen sich auch von der Kabbala inspirieren und wurden zu Mystikern, ja Magiern.

Ein starker Kontrast zum Künstler und Mechaniker Leonardo da Vinci. Er warnte um 1500: "Mich lese, wer nicht Mathematiker ist, in meinen Grundzügen nicht."

 

Ab 1580 ein neuer Aufbruch und gleichzeitig Gegenbewegungen

 

Seit dem Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaft um 1600 (vgl. auch Friedrich Wagner, 1964) resp. der "Mechanisierung des Weltbildes" (E. J. Dijksterhuis, 1956) regten sich immer wieder ganzheitliche Gegenbewegungen. Stark vergröbert kann man vier Etappen herausstellen:

  • 1580-1640 (Valentin Weigel, Giordano Bruno, Francisco Suarez, Jakob Böhme, Robert Fludd, Johan Baptist van Helmont, Comenius)

  • 1670-1725 (Spinoza, Malebranche, G. E. Stahl, Leibniz, Toland)

  • 1780-1830 (deutscher Idealismus, Klassik und Romantik)

  • 1880-1939 (Lebensphilosophie, Vitalismus, Gestaltpsychologie).

 

Die vier Etappen bilden einen bestimmten Rhythmus:

Immer wenn die Naturwissenschaften einen grossen Schritt vorwärts taten (z. B. Galilei 1610/23; Newton 1689; Herschel, Laplace und Lavoisier 1789; Planck 1900), wurde auch die Gegenbewegung deutlicher.

 

Johannes Kepler; sowohl Mystiker als auch Mathematiker

 

Einer der interessantesten Forscher der ersten Phase war der Astronom Johannes Kepler.

Er schwankte zeitlebens zwischen Weltschau und mathematischer Berechnung. In seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit sei "der denkbar schärfste Widerstreit zwischen den irrationalen Motiven seiner Forschungstätigkeit und den rationalen Methoden seiner Arbeitsweise vereinigt", meint Shmuel Sambursky (1975).

"Der Mystiker Kepler strebte während seines ganzen Lebens danach, eine Weltformel zu finden, in der die strukturale Harmonie des Universums zum Ausdruck kommt, und seinen mathematischen und astronomischen Forschungen lag die Auffassung des Kosmos als einer Ganzheit zugrunde" (vgl. auch Friedrich Wagner 1964).

 

Diese Ganzheit, die Natur, sah Kepler zuerst als "göttlich beseeltes Wesen", dann, nach langem Ringen (1605/15), als "Uhrwerk". Das hatte zur Folge, dass er schliesslich (1623) die Vorstellung, dass in den Planeten "bewegende Seelen" wären, durch diejenige der blossen Kraft ersetzte (vgl. E. J. Dijksterhuis 1956).

 

Die Maschinentheorie des Lebens

 

Dieselbe Entseelung nahm kurz darauf (1632) der Philosoph Descartes für die lebendigen Organismen vor.

Er löste die Seele, die bis dahin stets wichtiger gewesen war als der Körper, aus diesem heraus: Der Körper ist damit nur noch eine hydraulische Maschine, und was in den Röhren fliesst, sind die "Animalgeister". Bei Tieren funktioniert das automatisch, beim Menschen befindet sich im Gehirn zwar noch eine vernünftige Seele, aber die ist dort nur "wie ein Röhrenmeister" eine Steuerungsinstanz.

 

Die Maschinentheorie des Lebens breitete sich rasch aus.

Um 1700 war sie die vorherrschende Theorie. Sowohl Leibniz wie der Arzt Boerhaave vertraten sie mit dem ganzen Gewicht ihrer Autorität:

  •   Für Leibniz ist der Körper "eine Art von göttlicher Maschine oder natürlichem Automaten"; er gehört zu einer zentralen Monade, der Seele; beide zusammen konstituieren das Lebewesen ("Monadologie; § 63f, 1714).

  • Boerhaave (1708) trennte seelische und physische Vorgänge am Organismus noch schärfer: Es darf nicht einmal eine Wechselwirkung zwischen beiden geben. Daher erklärt er alles Seelische psychologisch und alles Leibliche streng mechanisch, d. h. physikalisch-chemisch.

 

Um 1700: Das Organismus-Denken auf verlorenem Posten

 

Diesen Bruch mit der alten ganzheitlichen Sichtweise brachte der Arzt und Chemiker Georg Ernst Stahl 1707 auf den Punkt.

Er verwendete als erster konsequent den Begriff "Organismus" und führte ihn ausdrücklich als Gegensatz zu "Mechanismus" ein.

Er selber versuchte die "Organismus"-Position zu retten. Er griff dafür auf Paracelsus und van Helmont zurück und meinte: Nur insofern der Körper von der Seele zweckmässig bewegt wird, kann er belebt sein. Auch die einfachsten physikalischen und chemischen Vorgänge des lebenden Organismus sind grundsätzlich andere als in der leblosen Welt.

 

Doch Stahl stand auf verlorenem Posten. Wissenschaft und Forschung gingen verächtlich über ihn weg. Die "Aufklärung" triumphierte mit ihrem Glauben an die Vernunft und die rationale Durchdringbarkeit von Kosmos, Natur, Leben und Lebewesen.

 

Ab 1780: Systemdenken, Ganzheit, Selbstorganisation, Morphologie

 

Erst die Philosophen und Dichter, die man unter den Titeln "deutscher Idealismus", "Klassik" und "Romantik" zusammenfassen kann führten das Ganzheitsdenken in unterschiedlichsten Farben erneut zu einer staunenswerten Blüte.

 

Es weht ein frischer Wind, und zahlreiche Ideen wurden neu formuliert.

 

So entwickelte Johann Heinrich Lambert die erste echte Systemtheorie, die auf seinen Freund Immanuel Kant einen grossen Einfluss hatte.

 

Kant brachte daher Ganzheit und System miteinander in Verbindung. Er unterschied (1781) ein Ganzes im Bereich der Anschauung und eines im Bereich der Synthesis durch den Verstand. Daraus schafft die Vernunft ein "nach notwendigen Gesetzen zusammenhängendes System".

Bemerkenswert ist Kants Theorie der Selbstorganisation. Die Natur "organisiert sich ... selbst und in jeder Spezies ihrer organisierten Produkte" (KU, §65, 1790). Dabei hat „die Organisation der Natur nichts Analogisches mit der Kausalität, die wir kennen“. Auch die Vernunft organisiert sich selbst, ja sogar alle Kultur, Kunst und gesellschaftliche Ordnung.

 

Zur gleichen Zeit entwickelte der vielseitige Dichter Goethe als Methode der Naturforschung die Morphologie ("Metamorphose der Pflanzen", 1790) . In der prägnantesten Formel bedeutet "Morphologie: "die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äusseren sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Inneren aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermassen zu beherrschen" (1807/17).

 

Ausbreitung im 19. Jahrhundert

 

Dieses morphologische Denken breitete sich in engerer Fassung als Gestaltlehre, als Betrachtung von Formen und ihres Wandels zuerst in den biologischen Wissenschaften (Zoologie, Botanik, Medizin), ab etwa 1850 auch einerseits in den Wissenschaften von der anorganischen Natur (Kristallographie, Geologie), anderseits in den Kultur- oder Geisteswissenschaften aus (Sprache, Geschichte, später Gesellschaft und Wirtschaft).

 

Die weitere Auffassung der Morphologie auch als Lebenshaltung und Weltanschauung erlebte vor allem in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts einen neuen Aufschwung. Der Basler Biologe Adolf Portmann kann als ihr letzter grosser Vertreter angesehen werden.

 

Der Einfluss von Kant und Goethe kann nicht gross genug eingeschätzt werden. Die Geistesgeschichte entwickelte sich seither in der Auseinandersetzung mit ihnen.

Die Begriffe und Analogien von Organismus und Mechanismus, Organisation und Selbstorganisation, Gestalt und System tauchen überall auf, besonders in der Staats- und Gesellschaftstheorie und in der Biologie. Ihre Verwendung ergibt ein verwirrendes Bild.

Zudem entstanden neue geistige und politische Strömungen, Forschungstechniken und Wissensgebiete; Wirtschaft und Technik gewannen an Einfluss und spannten ihre Fäden um die ganze Erde.

 

Ab 1880: Chaotische Ganzheitsansätze

 

Dieser Pluralismus zeigt sich auch in der vierten Phase der Denkbemühungen um die Ganzheit vor und nach der Jahrhundertwende.

Noch schärfer formuliert: Paradoxerweise zerfällt auch das ganzheitliche Denken in ein unübersehbares Feld unterschiedlichster Strömungen.

Eine Zusammenschau ist fast unmöglich, weil Anhänger und Gegner, Handbuch- und Lexika-Autoren immer wieder andere Bezeichnungen verwenden und andere Zuordnungen vornehmen. Überdies haben die einzelnen Gelehrten und Forscher oft selber neue Begriffe geprägt, ihre Ansichten mehrmals geändert und unscharf formuliert.

 

Mit diesen Vorbehalten kann man daher wiederum nur Stichworte geben:

  1. für die Biologie: Organizismus, Neu-Vitalismus und idealistische Morphologie

  2.   für Philosophie und Psychologie: Lebensphilosophie und Evolutionsphilosophie, geisteswissenschaftliche Psychologie sowie Gestalttheorie und Ganzheitspsychologie

  3. für die Wirtschafts- und Gesellschaftslehre: Kulturmorphologie, "ganzheitliche" Soziologie, Humanökologie und Universalismus.

 

Einige Autoren rechnen auch den amerikanischen Pragmatismus, die Tiefenpsychologie nach Freud und die Quantenphysik zu den ganzheitlichen Ansätzen.

Funktionalismus und Strukturalismus, Existenzphilosophie und Daseinsanalyse sind noch schwieriger zuzuordnen.

Der heute modische "Holismus" wurde als Begriff 1926 vom südafrikanischen General J. C. Smuts geprägt.

 

Das moderne Systemdenken

 

Hinter alledem entwickelte sich allmählich das Systemdenken.

Einer der Wortführer nach dem Zweiten Weltkrieg, der Biologe Ludwig von Bertalanffy, meinte gegen Ende seines Lebens (1967):

"Die allgemeine Systemtheorie kann als Wissenschaft von der Ganzheit und ganzheitlichen Wesenheiten angesehen werden, die bisher, d. h. unter dem mechanistischen Vorurteil, als unwissenschaftlich, vitalistisch oder metaphysisch ausgeschlossen wurden."

 

Nun hat sich das Systemdenken in den 60er und 70er Jahren in fast allen Wissenschaften ausgebreitet, aber: In der Praxis ging der Blick auf die Ganzheit weitgehend verloren und das Vorgehen fiel wieder in die mechanistische Gangart zurück. Daher also die Forderung nach "ganzheitlichem" Denken.

 

Wie sähe es konkret aus? Es wären zwei Ebenen zu unterscheiden:

Ebene 1: Das Systemdenken dient der Problemlösung, der Beherrschung irgendwelcher Systeme.

Ebene 2: Das ganzheitliche Denken dient der Orientierung in der Welt, dem realen Leben in und zwischen Systemen.

 

Ganzheitliches Denken erfordert Schauen und Verstehen

 

Ganzheitliches Denken erfordert nicht rationale Durchdringung, sondern die Fähigkeit zum Schauen und ein Bemühen um das Verstehen. Wer nicht verstehen will, kann - und will - nicht ganzheitlich Denken.

Solange beim Lösen von Problemen nicht nach dem Sinn gefragt wird, kann man auf das Verstehen verzichten. Sobald aber die Frage nach dem Sinn des menschlichen Tuns und der Problemlösung in der "Lebenswelt" auftaucht, braucht es die Anstrengung des Verstehens, des ganzheitlichen Denkens.

 

Das ganzheitliche Denken muss das Systemdenken zusammenhalten

 

Daher ist beides nötig: Das ganzheitliche Denken muss das Systemdenken zusammenhalten.

Wie geht das? Der Philosoph Wilhelm Dilthey hat es 1894 als dialektische Bewegung beschrieben:

Ganzheitliches Verstehen bedeutet: Ausgliederung des Phänomens in aufzeigbare Gliedbestände und Eingliederung in umgreifende Verstehenszusammenhänge.

 

Diese grösseren Zusammenhänge sind es, die uns heute auf den Nägeln brennen. Dilthey sprach deshalb vom "ganzheitlichen Lebenszusammenhang", der drei Aspekte aufweist:

1.                  einen "biologischen" Zweckzusammenhang

2.                  einen Verstehenszusammenhang, der jedem Einzelnen seine  Bedeutung verleiht, und

3.                  einen Strukturzusammenhang.

 

In diesem Rahmen kann das Systemdenken als Suche nach Problemlösungen erfolgen - wenn diese Sinn haben sollen. Und wo liegt dieser Sinn? Im Ganzen!

 

(Vortrag, 2. März 1988)

 



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