Kleine Psychologiegeschichte 1000-1900
Siehe auch: Psychologisches Denken in der Ökonomie
Die Anfänge der Psychologie kann man bis zu den Alten Ägyptern zurückverfolgen. Erstaunliche Erkenntnisse finden sich dann bei den Alten Chinesen, Indern und Griechen. Seither gehören Erörterungen über die "Seele" zum festen Bestand der philosophischen, religiösen und medizinischen Literatur.
Mittelalter
Der Faden reisst auch im Mittelalter nicht ab: Arabische Gelehrte und die Scholastiker bewahren und erweitern das Wissen. Hauptpunkte waren meist die "Unsterblichkeit der Seele" und das Problem der "Willensfreiheit", aber auch Gedächtnis und Vorstellung, Lust und Liebe.
In der Seelenlehre rivalisierten über Jahrhunderte die Aristoteles-Interpretationen der Ärzte Avicenna (Persien; gest. 1037), Averroes (Cordoba; gest. 1198) und Maimonides (Kairo, gest. 1204). Albertus Magnus (um 1250) wird von Wilhelm Hehlmann (1963, 50) als erster Verfasser einer Psychologie im mitteleuropäischen Raum vorgestellt. Der Amerikaner Leonard Zusne (1975, 15) macht dagegen den Zeitgenossen Petrus Hispanus (später Papst Johannes XXI.) namhaft. Dessen Logikbuch war 300 Jahre im Gebrauch.
Nikolaus von Cusa, der in Padua studierte, rückte das Schöpferische im Menschen ins Blickfeld ("De ludo globi"). Der Mensch unterscheidet sich vom Tier nicht dadurch, dass er spielen kann, sondern dass er sich vornehmen kann, neue Spiele zu erfinden. Der Mensch ist ihm deshalb das in Symbolen denkende Wesen. Dazu kommt das "Mutmassen" ("De conjecturis"). Das kann praktische Anwendungen haben. So schlug der Cusaner eine Kalenderreform vor (1436) und propagierte den "Frieden im Glauben": Es gibt nur eine Religion, aber die Riten sind verschieden.
Renaissance
Neue Wege eröffnen sich in der ausgehenden Renaissance (vor allem im 16. Jahrhundert, z. B. Vives, Loyola, Huarte), ausgeglichen freilich von einem Rückfall in Mantik in allen Spielarten und Dämonologie.
Ausserhalb der Philosophie
Schon immer waren vier Gruppen von Denkern ausserhalb des Bannkreises der Philosophie (und Theologie) gestanden: · die Mystiker von Bernhard von Clairvaux (1110) und Meister Eckart (um 1300) bis Jakob Böhme (um 1600) und Johann Georg Hamann (um 1770). · die Dichter und Dramatiker von Dante und Petrarca bis Shakespeare und Molière · die Pädagogen und Erzieher von Vittorio de Feltre (1423) und Marsilius Ficino (1460) über Erasmus und Melanchthon, Ratke und Comenius bis Pestalozzi und Fröbel · die Moralisten von Montaigne (1580) bis Vauvenargues (1746) und Chamfort (1803).
Die Psychologie löst sich vom Aristotelismus
Kurz nach 1500, zur Zeit der Spätblüte der Renaissance, erreichten die Auseinandersetzungen über die Unsterblichkeit der Seele und die Willensfreiheit ihren Höhepunkt. Diese psychologischen Dispute der Philosophen, Theologen und Mediziner rührten aus dem religiösen Interesse am ewigen Heil des Menschen. Gleichzeitig aber entstanden die Keime einer neuen Betrachtungsweise: der empirischen Untersuchung.
Einerseits traten die "öffentliche Meinung" (der "Herr Omnes" bei Luther - der gemeine Pöbel" des Mystikers Sebastian Franck), das Verhalten grosser Erfinder, Künstler und Führer (Machiavelli, Guicciardini, Vasari) sowie das Zusammenleben in der Gemeinschaft und ganzer Völker ins Blickfeld.
Anderseits wandte man sich einzelnen Seelenfunktionen zu: Pietro Pomponazzi (1516) unterschied bereits zwischen psychischen Funktionen und dem logischen Gehalt. Ludovico Vives (1538) erforschte die Gesetzlichkeiten des Gefühlslebens, Girolamo Fracastoro (1545) die aktive Wahrnehmung. Auch die individuellen Besonderheiten wurden entdeckt: Aus den mantischen Techniken (Astrologie, Handlesekunst, Physiognomik) löste sich die Charakterkunde und Begabungsforschung (Juan Huarte 1575). Das konnte in der Erziehung und Begabtenauslese, im Verein mit Fragen des Lernens, des Gedächtnisses und der Kreativität (Imagination, Phantasie) auch praktisch angewendet werden. Doch waren manche Rückschläge zu verzeichnen.
Carolus Bovillus (1510) hatte noch weitgehend an den Aristotelismus und Neuplatonismus angeknüpft, aber doch schon den Sensualismus begründet: Es kann nichts in den Verstand kommen, das nicht durch die Sinne gegeben ist. (Dieser Satz des Epikur findet sich auch bei Thomas von Aquin). Doch in seiner Anknüpfung an Cusanus kam Bovillus zu einer Weltansicht, die derjenigen von Paracelsus ähnlich ist. Er schrieb auch ein "Libellus de constitutione et utillate artium humanum" (1510).
Der erste, der dem Aristotelismus weitgehend entsagte, war Bernardino Telesio in seinem Werk "De natura rerum" (1565, vollständig 1586). Er griff dafür auf die stoische Lehre der Selbsterhaltungstendenz alles Lebendigen zurück. Der Mensch reagiert um der eigenen Erhaltung willen denkend, handeln und affektiv auf die Aussenreize. Alle höheren Funktionen des Bewusstseins beruhen auf einer Art Mechanik der durch die Sinne vermittelten Empfindungen. Lust und Schmerz sind Symptome des geglückten oder gestörten Gleichgewichts der Seele. Für die Naturerklärung verwirft Telesio alle astrologischen und magischen Einflüsse, er vertritt dafür einen mechanischen Grundgedanken, der alle qualitativen Unterschiede auf die Bewegung zurückführt: Die gegensätzlichen Prinzipien von Wärme und Kälte rufen durch Ausdehnung und Zusammenziehung die Mannigfaltigkeit der Gestaltung und des Geschehens hervor. Bacon, Campanella, Hobbes und Spinoza bauten die Selbsterhaltung zum System aus.
Jean Bodin, berühmt als Begründer der politischen Wissenschaften und als Sachverständiger der Volkswirtschaft, war leider auch der zuverlässigste Protagonist der Inquisitoren bei ihren Hexenjagden. Er versuchte 1581 aus der Bibel nachzuweisen, dass die Frau minderwertiger sei als der Mann (A. A. Roback, 1970, 191). Die Qualitäten "klug, bescheiden, bedachtsam, nachsinnig und contemplatifisch" gebührten dem Weib so wenig wie das Feuer dem Wasser. Schon König Salomon habe doch berichtet, er habe unter tausend Männern einen "verständig" gesehen, aber von Weibern nicht eines (interpretiert er Pr. 7, 28?; vgl. Silvia Bovenschen, 1977, 377). Salomo meinte freilich auch: "Durch weise Weiber wird das Haus erbaut" (Spr. 14, 1), und das letzte Kapitel der unter seinem Namen vereinten "Sprüche" (c. 31) enthält das "Lob des tugendsamen Weibes". Das "Hohelied" Salomos auf die Frau hat immer wieder Männer entzückt. Dennoch wurde Bodins "Démonomanie" ein Bestseller.
Dagegen betrachtete sein Zeitgenosse Montaigne die Berichte über Hexen und Zauberer mit Skepsis. In seine "Essais" (1580/88) schilderte der Seigneur, wie er sein Hauswesen führt. Seine klugen Beobachtungen erstaunen uns heute noch. "Wir verbessern uns selbst oft in der gleichen dummen Weise, wie wir andere verbessern", klagte er etwa (S. 52). Und sein Essay über die Eitelkeit kann auch heute noch zum Schmunzeln - und Nachdenken - veranlassen.
Die Psychologie löst sich aus der Scholastik
Das wissen sogar die Psychologen heute nicht mehr: wie viel es brauchte, bis sich die Psychologie aus der Scholastik lösen konnte. Den Anfang machten seit 1600 so unterschiedliche Gestalten wie die aus Süditalien stammenden Campanella und Bruno, die deutschen lutherischen Neuscholastiker Rudolf Casmann und Daniel Sennert, die Niederländer Grotius und van Helmont, die Engländer Cherbury und Burton sowie wie die Franzosen Charron und Mersenne. Um die Jahrhundertmitte geschah die endgültige Ablösung, aber ebenfalls auf ausserordentlich verschiedene Weise bei · Descartes, de la Forge und Geulincx; · Gassendi, Hobbes und Glanvill; · Pascal, Spinoza und Malebranche. Sogar die drei spanischen Jesuiten Hurtado, Arriago und Oviedo lösten sich vom Thomismus (vgl. Wilhelm Hehlmann, 1963, 104 f, 425).
Glück und Lust - Selbsterhaltung und Leben in der Gemeinschaft
In der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte hat man sich meist auf die Mathematisierung und "Mechanisierung des Weltbildes" zu dieser Zeit konzentriert. Für die Anthropologie und Psychologie aber genauso wichtig war die Wiederentdeckung der einst in der Renaissance so wichtigen Fragen nach dem Glück und der Lust sowie nach der Selbsterhaltung und dem Leben in der Gemeinschaft, wofür vor allem Vertrag, Freiheit und Toleranz bestimmend sind.
Für all dies war die Beschäftigung mit den Lehren der eher "weichen" und heiteren Epikuräer (Atomismus, Hedonismus) und der eher "harten", strengen Stoiker (pneuma und logos) wichtig. Die Epikuräer kann man auch als die ersten konsequenten Vertreter des Empirismus, die Stoiker als Rationalisten bezeichnen. Im 16. Jahrhundert hatten Zwingli (1525), Vives (1531), Telesio (1565) und Bodin bereits die Stoa, Giordano Bruno (1584) zusätzlich Lukrez aufgegriffen. Calvin hatte 1533 eine Schrift Senecas kommentiert und später immer wieder die Epikuräer oder "Libertiner" (1545 und 1550) bekämpft. Seither werden Stoa und Epikuräismus zunehmend wichtiger als Aristoteles und Platon. Eher der Stoa neigten zu: Lipsius, Campanella, Grotius, Cherbury, Hobbes, Spinoza und die Moralisten, eher dem Epikuräismus die Wiederentdecker der Atomistik Daniel Sennert und Pierre Gassendi, sowie Boyle und Locke. Zeitgenössische Sitten schilderten nicht nur die grossen Dichter, Dramatiker und Satiriker, sondern auch etwa Madeleine de Scudéry in den 10 Bänden "Artamène ou le grand Cyrus" (1649-53) oder La Rochefoucauld (1665), Le Vayer (1671) und La Bruyère (1687). Die Memoiren des Seigneur de Brantôme durften erst 50 Jahre nach seinem Tod erscheinen, nämlich 1665. Philipp von Zesens "Adriatische Rosemund" (1645) und Marie-Madeleine de Lafayettes "Prinzessin von Cleve" (1678) werden als erste psychologische Romane gerühmt.
Nicht gering sind auch die anthropologischen und biologischen Entdeckungen einzuschätzen. Der Calvinist Isaac de la Peyrère stellte 1655 die Theorie der Präadamiten auf, nach welcher es schon viele tausend Jahre vor Adam Menschen gegeben habe, von denen die Indianer abstammten. Johannes Scheffer beschrieb 1673 erstmals den Schamanismus der Lappen. Der vielgereiste Arzt François Bernier, ein Schüler Gassendis, lieferte 1684 die erste Rassengliederung der Menschheit.
William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs, behauptete 1651 in seinem Werk über die Fortpflanzung der Tiere, dass alle Lebewesen aus dem Ei entstünden. Bald aber legte der Optiker Leeuwenhoek der Royal Society Beobachtungen und Zeichnungen von Samenzellen vor (1677). Zeugung und Sexualität wurden erstmals zum wissenschaftlichen Gesprächsthema. Auch die Tierbeobachtung rückte durch De la Chambres "Traité de la Connoissance des Animaux" (1647) und Borellis "Über die Bewegung der Lebewesen" ins Blickfeld. Erst nachdem die Naturrechtslehre (Grotius und Pufendorf) und der Rationalismus (je anders: Descartes und Spinoza, Cherbury und Hobbes, Geulinx und Pascal) ein neues Fundament bereitet hatten, konnte sich ab etwa 1690 die "Aufklärung" durchsetzen.
Auch die Themen Glück und Lust lagen erneut in der Luft. Sie werden auch von Descartes und Hobbes diskutiert und sind vor allem bei Spinoza (1677) und Leibniz (1704) wichtig. Andere grosse Themen waren Freiheit und Eigentum, Toleranz und Vertrag.
John Locke
John Lockes "Gedanken über Erziehung" (1693) wurden noch fast hundert Jahre später in die "Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher" aufgenommen. Sie sind auch heute noch für künftige Eltern Lesens- und beherzigenswert.
In der "Heiligen Familie" (1845) haben Karl Marx und Friedrich Engels John Locke als Begründer der "Philosophie des bon sens, des gesunden Menschenverstandes" bezeichnet. Zur selben Zeit wie Marx griffen auch die Begründer der heutigen Auffassung von Psychologie auf Locke zurück, z. B. Theodor Waitz (1849) und Hermann Lotze (1852). Der Mathematiker Drobisch - bekannt durch seine "empirische" (1842) und "mathematische" Psychologie (1850) - schrieb einen Aufsatz "über Locke, den Vorläufer Kant's" (1861). 1937 bezeichnete sein Biograph Richard I. Aaron Locke als "Vater der englischen Psychologie".
In der Tat ist Lockes Psychologie nicht nur ein Schlüssel zu seiner Philosophie, sondern auch zu seiner Pädagogik.
Wie stand es mit der Psychologie? Descartes (1637) hatte Körper und Seele auseinandergerissen in "res extensa" und "res cogitans". Spinoza (1677) setzte sie sogleich wieder zusammen: Seele und Körper sind "ein und dasselbe Ding, das bald unter dem Attribut des Denkens, bald unter dem Attribut der Ausdehnung begriffen wird". Locke steht in der Mitte zwischen diesen Extremen, d. h. diese Fragen kümmerten ihn nicht; denn wir können darüber nichts wissen. Er ist vielmehr daran interessiert, wie der Mensch denkt und in der Gemeinschaft handelt.
Hobbes hatte aus dem Dreissigjährigen Krieg (1618-48), der englischen Politik und dem Bürgerkrieg (1642-48) ein wenig günstiges Bild vom Menschen gewonnen: "Homo homini lupus" (vgl. Plautus). Locke sah ihn positiver: Der Mensch ist von Natur aus "rational", moralisch und sozial, daher zur Erkenntnis und zur Gemeinschaft fähig. Erkenntnis gewinnt er durch vernünftige Bearbeitung dessen, was ihm die äusseren Sinne und die innere Wahrnehmung liefern. (Das erinnert an Cusanus und Bovillus.) Weder kognitive Vorstellungen ("ideas") noch moralische Regeln sind angeboren, sie werden vielmehr durch selbständiges Lernen und Unterweisung erworben. Dabei kann freilich "our feeble passionate nature", welche auf unserem Triebleben beruht, störend wirken. Doch die sich in jedem Menschen aufbauenden moralischen Regeln sollten die Leidenschaften unter Kontrolle halten. Das zeigt uns entweder die Offenbarung oder die Vernunft: "The infinite wise Contriver of us and all things about us hath fitted our senses, faculties and organs to the conveniences of life, and the business we have to do here." Und: "Our business here is not to know all things, but those which concern our conduct."
Was die Vernunft überhaupt in Tätigkeit versetzt, ist das Unbehagen ("uneasiness"). Dieses besteht in einem gegenwärtigen Leid ("pain") und dem Gewahren eines abwesenden Guts, beispielsweise die unmittelbare Beseitigung des Leids. Das erzeugt ein Begehren ("desire"). Nun könnte aber dessen sofortige Erfüllung ein späteres grösseres Leid zur Folge haben. Damit dies nicht geschieht, muss die Vernunft überlegend eingreifen: Die Konsequenzen verschiedener "Erfüllungen" sind gegeneinander abzuwägen ("due examination"). Tun wir dies nicht, dann stürzen wir uns "wie Insekten" auf die "Dinge, welche die grösste Annehmlichkeit versprechen". Schauen wir aber über unsere Nasenspitze hinaus und suchen nach Handlungsmöglichkeiten, deren Ergebnis das "grösste Glück" sein wird, dann gilt: "The rightness of an action does not depend on its utility; on the contrary, its utility is a result of its rightness" (1664).
Der Mensch hat also die Macht, die Erfüllung aktueller Begierden im Interesse des "wahren Glücks" ("real happiness" and "true felicity") vorläufig aufzuschieben. Das ist die Willensfreiheit. "Freiheit kann nur da sein, wo Denken und Wollen ist." Das erinnert an Epikur, bei dem die höchste Tugend die Überlegung ("phronesis") ist, welche Lust und Schmerz gegeneinander abwägt. Nicht die "Lust der Schlemmer" ist Anfang und Ende des glückseligen Lebens, sondern das "Freisein von körperlichem Schmerz und von Störungen der Seelenruhe" sowie "Freude und Fröhlichkeit" meinte Lukrez. Er ist durch Giordano Bruno (1584) und Pierre Gassendi (1647) wieder aufgegriffen worden.
Christian Wolff
Rationalismus und Aufklärung sind deshalb bis auf den heutigen Tag von Bedeutung, weil sie immer noch manche unserer populären Ansichten und Vorstellungen prägen. Die dafür verantwortliche Persönlichkeit ist Christian Wolff. Er hat nicht nur die Gedanken von Leibniz weitergeführt, sondern auch auf Thesen von Descartes und anderer Denker des 17. Jahrhunderts zurückgegriffen. "Seine Philosophie kann darum eher als Spiegel der damals in Mitteleuropa allgemein herrschenden Auffassungen gelten", meint Wilhelm Hehlmann. Auf Wolff gehen viele Begriffe der deutschen philosophischen und insbesondere der psychologischen Fachsprache zurück. Hohe Auflagen erreichten seine zahlreichen "Vernünftigen Gedanken von ...." (1712-40). Allerdings sind ausgerechnet seine beiden Bücher über Psychologie (Psychologia empirica; Psychologia rationalis, 1732, 1734) lateinisch geschrieben. Seine Definitionen und Unterscheidungen "erscheinen uns heute als grobe Vereinfachungen viel komplizierterer psychischer Phänomene," schliesst Hehlmann (1963, 87). "Aber sie sind noch jetzt im volkstümlichen Denken gängig. Terminologie und Denkweise Wolffs sind so sehr in das allgemeine Bewusstsein eingegangen, dass die heutige ausserwissenschaftliche Weise, von psychologischen Dingen zu reden, noch durchaus auf ihn zurückzugehen scheint."
Empirismus: genaue Beobachtungen
Genaue Beobachtungen und Beschreibungen hat es schon immer gegeben, auch im Mittelalter. Man denke etwa an die "Optik" des Arabers Alhazen (um 1000), die beiden Bände über Falknerei des Hohenstaufenkaisers Friedrich II. ( gest.1250) oder an Wilhelm von Rubruks "Reise zu den Mongolen" (1253-56). Doch erst in der Blüte der Renaissance wurde gutes Beobachten und Zeichnen Mode. Das 16. Jahrhundert ist voll von technischen Versuchen. Parallel dazu entwickelte sich eine heftige Methodendiskussion über wissenschaftliches Forschen und Beweisen, Lehren und Lernen. Galileis Entdeckung der Pendelgesetze - kurz vor 1585 - kann deshalb nur mit Vorbehalt als Beginn des neuzeitlichen Empirismus betrachtet werden. Es war, wie in der Psychologie, ein langsamer Prozess, der sich über Jahrhunderte erstreckte.
Die erkenntnistheoretische Fundierung erhielt der Empirismus erst durch Locke (1690). Nochmals dauerte es aber lange Zeit bis sich die Psychologie über mechanistisch-materialistische Auffassungen einerseits, Assoziationismus, Sensualismus und "Empfindsamkeit" ebenfalls zur Empirie mauserte.
Das 18. Jahrhundert
Das Jahrhundert der Aufklärung, das 18. Jahrhundert, brachte - ausser Ästhetik und Utilitarismus - wenig Neues. Es bot hauptsächlich eine Entwicklung, Vertiefung und Verfeinerung der Ideen des Barock. In der Kunstgeschichte spricht man daher treffend von "Rokoko" (1715-1789). Unter dieser heiteren Oberfläche brodelten freilich extreme Gegensätze. Man kann daher auch von einer Radikalisierung sprechen. Sie sammelten sich um die Mitte des Jahrhunderts in Brennpunkten wie · dem Materialismus Lamettries (1748), · dem Sensualismus Condillacs, Bonnets und Helvétius' · dem Individualismus Rousseaus · der Staatstheorie Montesquieus · der Theosophie Swedenborgs und Oetingers · dem Skeptizismus Humes · der englischen Assoziationspsychologie Hartleys · der Geschichtsphilosophie oder "Soziologie" Vicos, Bolingbrokes und Voltaires.
Das ganze Jahrhundert durchzogen · Moralisten (Shaftesbury, de Vauvenargues, Chamfort) · Moralphilosophie (Berkeley, Hutcheson, Butler, Johnson, Hume, Home, Smith, Holbach, Ferguson) · Kulturphilosophie (Vico, Rousseau, Voltaire, Herder, Kant, Schiller, Fichte) · Utilitarismus (von Hutcheson bis Bentham) · Deismus und Freidenker (Toland, Shaftesbury, Collins, Tindal, Voltaire und Rousseau, Reimarus und Lessing) · Utopien (Schnabel, Wieland, Wezel, Fröhlich, Ziegenhagen) · Religionsphilosophie und Ästhetik (Shaftesbury und Hutcheson, Dubos und Batteux, Wolff und Baumgarten, Mendelssohn und Sulzer, Hume, Burke, Home und Beattie, Lessing und Kant) · Empfindsamkeit und Selbstanalyse in der Psychologie (de la Mothe-Guyon 1720, Bernd 1738, Rousseau 1762/81, Lavater 1771, Goethe 1773, Moritz 1785-90, Restif de la Bretonne 1794, Weisshaupt 1794). · Behandlung von Geisteskrankheiten resp. Neuropathologie (Stahl, Cullen, Brown und Tuke, Battie, Monro, Aikin, Arnold, Perfect, Pargeter, Harper, Colombier, Daquin und Pinel, Reil und Langermann, Mesmer, Chiarugi, Rush) · Tierpsychologie (Boullier, Réaumur, Condillac, G. F. Meier, Reimarus, Bonnet) · Menschenkenntnis und Charakterkunde (von Rohr, Leutmann, Wolff, Pernetty, Iselin, Flögel, Camper, Lavater, Lichtenberg, Gall, Hallé)
1760-1800
Bis dahin war die Psychologie "nur" ein Teilgebiet der Philosophie gewesen. Nun machte sie sich - wenn auch bei manchen Autoren lange noch unter dem Namen Philosophie - etwas selbständiger.
Das war gerade die Zeit, die in der deutschen Literaturgeschichte als "Sturm und Drang" bezeichnet wird. In Schottland begründete Thomas Reid die "Common sense"-Schule (1764), die über Benjamin Franklin auch in den Vereinigten Staaten Fuss fasste; bald verwickelte Johann Caspar Lavater die gebildete Welt mit seiner "Physiognomik" in Diskussionen, und Franz Anton Mesmer überzog ganz Europa mit seinem "Magnetismus".
Mehr als ein Populärphilosoph: Christian Garve
Eine vielseitige Gestalt war Christian Garve, gerne als "Populärphilosoph" belächelt. Er befasste sich seit 1768 mit psychologischen Fragen im "Versuch über die Prüfung der Fähigkeiten"(1779) sowie in Untersuchungen über "fehlschlagende Erwartungen", "das Interessierende" und "die Neigungen". Soziologische Ansätze boten Themen wie "Über die Moden", "Über die öffentliche Meinung" und "Über den Verfall der kleinen Städte".
Garves Schriften lassen sich sehr leicht lesen. Manches darin mutet erstaunlich modern an, und zwar in doppelter Hinsicht: Viele systematische Analysen und Erörterungen nehmen vorweg, was die Soziologie erst hundert Jahre später aufgegriffen hat (z. B. Gabriel Tarde in seinen "Lois d'imitation"). Anderseits hat sich der Habitus bürgerlicher Biederkeit mit seiner Betonung des "gesunden Mittelmasses" - und Menschenverstandes - stellenweise bis in die heutige Zeit erhalten.
Zu Garves Zeit entstand nicht nur die "Wirtschaftstheorie" (Physiokraten, Klassiker), sondern auch die empirische Psychologie. Für letztere legten Johann Nicolaus Tetens (1777) und Carl Philipp Moritz, J. H. Campe und andere Philanthropen und Pädagogen sowie die Ärzte Pinel, Reil und Hufeland den Grund (Jaeger, Staeuble, 1978).
Johann Nicolaus Tetens und Karl Philipp Moritz
Nun verband in Deutschland Johann Nicolaus Tetens die bis dahin führende Leibniz-Wolffsche Philosophie (1700-1750) mit Locke und Reid in seinem riesigen Hauptwerk "Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung" (1776-1777). Darin vertrat er die Auffassung, dass der Anfang der Psychologie in der Selbstbeobachtung und der empirischen Zergliederung des Seelenlebens bestehe. Tetens' Werk ist auch heute noch nicht ausgeschöpft, genauso wenig wie die zehn Jahrgänge des "Magazins zur Erfahrungsseelenkunde", die Carl Philipp Moritz von 1783-1793 herausgab. Es heisst, es bot eine "Psychopathologie des Alltagslebens". Hierin wurden erstmals individuelle Erfahrungsberichte systematisch gesammelt und als Stoff für eine empirische Psychologie und Psychopathologie verarbeitet.
Johann Gottfried von Herder sammelte demgegenüber Zeugnisse der ungemein vielfältigen kulturellen Hinterlassenschaft der "Menschheit".
Weitere Psychologen
Auch der Philosoph Christoph Meiners (1786) und der Schweizer Ästhetiker Johann Georg Sulzer werden als Psychologen genannt. Die Philanthropen schliesslich vertraten eine "naturgemässe" Pädagogik auf psychologischer Basis. Der Unternehmer und Sozialreformer Robet Owen wird von Managementtheoretikern als "Pionier des Personnel Management" (seit 1789) angesehen und von den Psychologiehistorikern ebenfalls zu denjenigen gezählt, welche das Projekt einer empirischen Psychologie verfolgten.
1800-1850
Dieser pädagogische Auftrag samt Tetens' und Herders Kritik der bis damals - vor allem bei Wolff und Kant - gängigen "Vermögenspsychologie" wurde von Johann Friedrich Herbart weitergeführt. Er hat nicht nur Pestalozzis Erziehungslehre systematisiert, sondern auch - 1816 in seinem "Lehrbuch der Psychologie" - die Aufgabe einer streng wissenschaftlichen, nicht nur empirischen Psychologie formuliert, die nicht nur Stoff sammelt, sondern auch den Zusammenhang der inneren Erfahrung begreiflich macht.
Zu Herbarts Zeiten erlebten die seelische Tiefenforschung (die Naturphilosophie der Romantik), die geistige Höhenforschung (Idealismus und Transzendentalphilosophie) sowie die neuro- und sinnesphysiologische Laborforschung einen enormen Aufschwung.
Ab 1850: Psychologie als selbständige Wissenschaft
Daraus ergab sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter anderem die Psychologie als selbständige Wissenschaft. 1. von den medizinisch ausgebildeten Physikern E. H. Weber und G. Th. Fechner und den physikalisch ausgebildeten Physiologen W. v. Helmholtz und W. Wundt begründet als experimentelle oder physiologische Psychologie 2. in etwas minderem Masse auch als Völkerpsychologie (oder Ethno- und Sprachpsychologie) 3. als verstehende (oder geisteswissenschaftliche) Psychologie und 4. als Charakterkunde (später: differentielle Psychologie).
Weniger konturiert zeigten sich Kriminal- und medizinische Psychologie, Kinder- und Tierpsychologie, Kunst- und Religionspsychologie, Ausdruckskunde und pädagogische Psychologie. Angewandte Psychologie, Testpsychologie, Gestaltpsychologie und die Psychoanalyse (oder Tiefenpsychologie) kamen erst um 1900.
Bereits diese knappe Skizze zeigt: Es gibt nicht "die" Psychologie.
Einflussreiche Psychologen
Im biographischen Handbuch "Names in the History of Psychology" (Leonard Zusne 1975) werden als erste Forscher und Denker Gustav Theodor Fechner (geb. 1801) und Alexander Bain (geb. 1818) als "psychologist" bezeichnet. Dann folgen nicht weniger als 70 Persönlichkeiten, die zwischen 1830 und 1870 geboren sind, mit dieser Bezeichnung.
Zu den einflussreichsten Gestalten in den Jahren 1870-1890 gehörten Wilhelm Wundt (Leipzig) und Franz Brentano (Wien), Thédodule Ribot (Paris), Sir Francis Galton (London) und William James (Harvard). Eher in der medizinischen Richtung lagen Cesare Lombroso in Turin, Emil Kraepelin in Heidelberg und München, Jean Martin Charcot (Paris) und Hippolyte Bernheim (Nancy), Daniel Hack Tuke und Henry Maudsley in London, eher in die soziologische resp. kulturanthropologische Richtung gingen Herbert Spencer, Lewis Henry Morgan, Edward Burnett Tylor, Lester Frank Ward und William Graham Sumner.
Um 1850 brauch offenbar ein gewaltiges Forschungsfieber aus. Wilhelm Hehlmanns Zeittafel zur "Geschichte der Psychologie" (1963) verzeichnet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dreimal soviel Schriften wie für die erste Hälfte. J. C. Flugel (1933, dt. 1950) verzeichnet gar fünfmal soviel "Hauptereignisse in der Geschichte der modernen Psychologie" in der zweiten Jahrhunderthälfte.
Ebenfalls bemerkenswert ist, dass von 1850-1900 Heerscharen von amerikanischen Studenten und Forschern über den Atlantik nach Europa fuhren, um sich hier mit den neuesten Methoden und Erkenntnissen vertraut zu machen. Die amerikanische "New Psychology" ist also massgeblich von der europäischen inspiriert und initiiert.
Nicht irritieren lassen darf man sich von der häufigen Bezeichnung "Philosophie". Einerseits waren noch Wundt und Titchener Professoren für Philosophie. Anderseits sind Tetens "Philosophische Versuche" durchaus Psychologie, genauso wie Thomas Browns "Lectures on the Philosophy of the Human Mind" (1820) und Thomas C. Uphams "Elements of Intellectual (Mental) Philosophy" (1827/31). In der amerikanischen Literatur taucht das Wort "Psychology" erst 1840 auf. Die Zeitschrift "Philosophische Studien", die Wundt 1883 gründete, enthielt die Berichte über die Laboratoriumsversuche. Sie war die erste rein psychologische Zeitschrift.
Wilhelm Wundt und seine Schüler
Wilhelm Wundt hatte den medizinischen Doktorgrad erworben. Als er 1874 in Zürich ein Jahr auf den Lehrstuhl für Philosophie gewählt wurde, hatte er aber bereits zahlreiche physiologischen Forschungen ausgeführt und seine "Grundzüge der physiologischen Psychologie" verfasst. Bald gründete er in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie (1879).
Ein ganzes Heer von Assistenten und Studenten fand daraus seinen Weg in alle Welt: · der Psychiater Emil Kraepelin, welcher in München den Arbeitsprozess untersuchte, seine Verlaufsformen im körperlichen und geistigen Bereich in der Arbeitskurve (1902) darstellte und die Einwirkung von Alkohol (1892), Ermüdung und Medikamenten studierte; · der vielseitige Theodor Lipps, der über Ästhetik, Suggestion (1897) und Selbstbewusstsein (1901) schrieb; · Oswald Külpe, der Begründer der Denkpsychologie ("Würzburger Schule") · Felix Krueger, der Begründer der "Leipziger Schule" der Ganzheitspsychologie; · Karl Marbe, der Begründer der "Unfallpsychologie" (1926); · Ernst Meumann, der Begründer der "experimentellen Pädagogik" (1907-8), welche in der kindlichen Entwicklung und Begabung auch Leistungs- und Arbeitsdispositionen berücksichtigt; · die Amerikaner Stanley Hall (John Hopkins), E. B. Titchener (Cornell), James McKeen Cattell (Columbia) und Edward Wheeler Scripture (Yale); · der Engländer Charles Spearman, ein Bahnbrecher der Intelligenzforschung, welcher z. T. mit Krueger die Faktorenanalyse entwickelte; ·
der Schweizer Théodore Flournoy, der 1892
in Genf das Psychologische Institut gründete; · der Russe Wladimir Bechterew, der sich als Reflexologe (neben Pawlow) auch mit kollektiven Erscheinungen befasste · Hugo Münsterberg wurde von William James als Leiter an das Psychologische Labor der Harvard-Universität geholt. Hier arbeitete er sowohl experimentell als auch an der Anwendung der Psychologie in der Praxis. Dafür prägte er 1903 den Begriff "Psychotechnik".
Auch Georg Elias Müller, der Erforscher des Gedächtnisses und des Farbensehens, wird gelegentlich als Schüler Wundts bezeichnet.
Was macht Menschen gross oder kreativ?
Ebenso erwachte das Interesse am Leben grosser Gelehrter, Ingenieure und Erfinder (vgl. Samuel Smiles, Alphonse de Candolle), und zwar von den Fachwissenschaften (Justus von Liebig, Claude Bernhard) also auch von der Psychopathologie (J. Moreau de Tours, Cesare Lombroso) und Vererbungslehre (Francis Galton, Théodule Ribot) her; Soziologie und Wissenschaftstheorie der Kreativität folgten.
Psychologischen Betrachtungen zu den Themen Erfindung, Imagination, Kreativität und Spiel stammen von den Franzosen Théodule Ribot, Paul Souriau und F. Paulhan, von Josiah Royce und Karl Groos.
Literatur
John Carl Flugel: A
hundred years of psychology. 1833-1933. London/New York 1933, with addition part
on developments 1933-1947, 1951; A. A. Roback: History
of Psychology and Psychiatry. 1961, 2. A. 1969; Wilhelm Hehlmann: Geschichte der Psychologie. Stuttgart: Kröner 1963, 2. A. 1967. Leonard Zusne: Names
in the History of Psychology. A Biographical Sourcebook.
Washington: Hemisphere Publishing 1975; Gabriele Becker, Silvia Bovenschen et al.: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. Siegfried Jaeger, Irmingard Staeuble: Die gesellschaftliche Genese der Psychologie. Frankfurt: Campus 1978.
Dr. phil. Roland Müller,
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