Home Was können wir aus einem Börsencrash lernen?

                     Aus psychologischer Sicht: Eine Chance für innovatives Lernen

 

Ein fingiertes Interview am 3. November 1987

mit einem Wirtschaftspsychologen und "Kleinanleger"

 

 

 

Es gibt keine Börsenpsychologie

 

Frage: Was sagt ein professioneller Psychologe zu den Ereignissen der letzten Wochen an den Börsen?

 

Vorausschicken muss ich, dass es keine Börsenpsychologie gibt.

1. Was Wertschriftenspezialisten und Börsenhändler dafür halten ist reine Laienpsychologie. Sie kann zwar gespiesen sein durch reiche praktische Erfahrung; aber das ist keine Wissenschaft.

2. Es gibt aber eine Wirtschaftspsychologie als Hochschulfach, mit entsprechenden Forschungs- und Anwendungsgebieten. Sie befasst sich seit bald 100 Jahren mit vier Aspekten des menschlichen Erlebens und Verhaltens, die besonders eine wirtschaftliche Bedeutung haben:
(a) Arbeit, Beruf, Betrieb und Organisation;
(b) Marketing, insbesondere Produktgestaltung, Verkauf und Werbung, sowie Konsumentenmotivation und -verhalten;
(c) Umgang mit Geld, vor allem Sparen, Investieren und Steuermoral;
(d) und schliesslich mit gesamtwirtschaftlichen Prozessen wie Konjunktur, Krisen und Innovationsschüben, Schattenwirtschaft, Arbeitslosigkeit, öffentlichen Bedürfnissen und Gütern, usw.

 

Frage: Und trotz dieser vielen Forschungen gibt es keine wissenschaftliche Börsenpsychologie?

 

Leider! Angesichts der grossen Bedeutung der Börse ist das erstaunlich - und betrüblich. Erst seit 1969 gibt es vereinzelt Umfragen bei Investoren und Portfoliomanagern. Ferner wurde im Labor mit Simulationsexperimenten das Entscheidungs- und Risikoverhalten von Studenten untersucht. Die Ergebnisse widerlegten zahlreiche Annahmen des "homo oeconomicus"-Modells, speziell auch des Capital Asset Pricing Models und des Bayes-Prinzips.

 

 

Der Börsencrash kündigte sich an

 

Frage: Nun aber zu den aktuellen Ereignissen!

 

Wichtig scheint mir, dass man nicht von "Panik" spricht.

Das Verhalten der Anleger war aus psychologischer Perspektive ganz vernünftig. Man hat ja immer Flexibilität gepredigt und behauptet: "Der erste Verlust ist der geringste." Also war es sinnvoll - wenn man einen grossen Taucher argwöhnte -, rasch zu handeln und Titel abzustossen. Dass einzelne Händler und Broker mit Entsetzen oder gar Verzweiflung reagierten, ist eine natürliche emotionale Reaktion; die auf den Bildschirmen zu verfolgenden Kursverfälle waren ja wirklich dramatisch.

Überhaupt: Man sollte mit Ausdrücken wie Panik, Hysterie, Psychose und dergleichen sehr vorsichtig sein. Es passiert doch immer wieder dass, wenn viele Menschen zur selben Zeit dasselbe tun, auffällige Erscheinungen sichtbar werden, denken Sie nur etwa an Verkehrsstaus oder an die Invasion von Wintersportorten in den Weihnachtsferien. Da spricht auch niemand von Massenhysterie.

 

Frage: Zurück zur Börse: Waren die Ereignisse voraussehbar?

 

Gewiss. Manche Anleger, die ihr "Gspüri" ernst genommen haben sind schon vorher ausgestiegen. Es gibt berühmte Beispiele dafür, die nicht nur merkten, dass etwas in der Luft lag, sondern auch entsprechend handelten. Ich selber habe von August bis am 16. Oktober den grössten Teil meines Aktienbestandes liquidiert.

Besonders deutlich wurden die Zeichen in der Woche vor dem "blutigen Montag" in New York. Vom Dienstag bis Donnerstag fielen die Aktienkurse um 5 %, wobei die Widerstandslinie des Dow Jones-Indexes von 2370/80 auf 2355 durchbrochen wurde. Am Freitag, 16. Oktober, sank der DJ dann auf einen Schlag nochmals um 108 Punkte oder 5 %.

 

 

Globale Wellenbewegungen und lokale Kapriolen

 

Frage: Was ist Ihnen nachher aufgefallen?

 

Zuerst einmal die globalen Wellenbewegungen, die in mehreren Phasen von Ost nach West verliefen: Der Absturz am Montag, 19. Oktober [1987], von Hongkong und Singapur über London und Zürich (alle vier je -11 %) nach New York (- 23 %), der sich am nächsten Tag in Fernost und Europa fortsetzte, bis das Fed mit Liquiditätsangeboten den Trend zum Umkehren brachte.

Die Erholung dauerte aber nur bis am Donnerstagvormittag, bis eine iranische Rakete eine kuwaitische Ölverladestation traf und ein Guru ein weiteres Absinken des DJ auf 1400 (oder 1200) voraussagte.

 

Am Montag, 26. Oktober verstärkte ein Taucher des Dollars den Abschwung, besonders spürbar auch in Zürich (erneut - 11 %). Erst als am Dienstag der Dollar Fuss fasste und in Tokio und Hongkong die Institutionellen eingriffen, beruhigte sich die Lage einigermassen.

 

Frage: Wie reagierten Sie als Anleger?

 

Schon am Montagmorgen, 19. Oktober, habe ich die meisten restlichen Aktien verkauft; am Mittwoch gab ich aber bereits wieder Kaufsorder ab - und erlebte eine Riesenüberraschung. So hatten etwa SKA Namen am Dienstag bei 510 geschlossen, Amexco bei 35 und Coca-Cola bei 49 Fr. Die Abrechnung aber lautete auf 600 resp. 45 und 65 Fr.

Solche Riesensprünge, die keineswegs vereinzelt waren, werden wohl viele mutige Einsteiger verärgert haben. Ähnliches passierte später auch vielen Aussteigern, besonders auch bei den in Zürich kotierten deutschen Titeln.

Für Mercedes etwa lauten die Kurse vom 16.-30. Oktober: 730; 640, 630, 710, 620, 640; 550, 590, 535, 500, 545. Die Kapriolen der Schweizer Aktien und PS sind bekannt. Auffallend war etwa der Sturz von Biber Inhaber von 6100 auf 4100 Fr. am 26. Oktober. Dieser Titel war im Sommer bei 7800 Fr. noch als "unterbewertet" bezeichnet worden.

 

 

Widersprüchliche Bewertungen, Behauptungen und Empfehlungen

 

Frage: Was könnte hinter solchen Bocksprüngen stecken?

 

Die Ausserkraftsetzung der 10 %-Regel, die doch gerade für solche "Krisenzeiten" gedacht ist, hat wohl viel dazu beigetragen. Zudem gab es zahlreiche Informationsprobleme, wie verzögerte Kursmeldungen und widersprüchliche Bewertungen, Behauptungen und Empfehlungen von Politikern und Experten. Wer überdies als Kleinanleger nur über die Zeitung  und Radio Z als Medium verfügte, sass unzweifelhaft am kürzeren Hebelarm.

Dass sie oft auf Limiten verzichteten, ist wiederum verständlich, wenn sie Titel in Vorahnung weiterer Abstürze einfach abstossen wollten.

 

Frage: Wie schätzen Sie die Verlautbarungen von Offiziellen und Experten ein?

 

Schon bei der ersten Umfrage, die George Katona 1969 bei 5000 amerikanischen Aktienbesitzern durchführte, antworteten die meisten, als sie nach den Gründen für die Börsenstürze der 60er Jahre gefragt wurden:

1. "Spekulation" oder "Manipulation"

2. Die Preise waren vorher zu hoch.

3. Die Verluste entstanden ja nur auf dem Papier und würden sich mit der Zeit wieder ausgleichen.

4. Die grossen Bewegungen an der Börse hätten kaum einen Einfluss auf die Wirtschaft als Ganzes.

 

Manche Äusserungen von Fachleuten spiegeln also auch heute einfach die Meinung der Anleger, genauer noch: ihrer Rechtfertigungsversuche, Bagatellisierungen und Hoffnungen.

 

 

Die Börsenkrise hat wirtschaftliche Folgen

 

Frage: Wie wird es weitergehen?

 

In vielen Fällen verliefen Börsenstürze in mehreren Etappen. Nach einer Erholung sackten die Kurse weiter ab (sog. "Double-Bottom"-Theorie).

Dass der Kurszerfall auch auf die Wirtschaft durchschlägt, ist nach den Erkenntnissen des Systemdenkens zwingend. Seit 1981/82 war die allgemeine Lage nicht besonders rosig, das Wachstum bestenfalls mässig. Die Hausse fand nur an den Börsen statt, und nicht einmal so enorm in Europa. Und die Stimmung in den Unternehmen wie im "Volk" war ja eher gedämpft. Ich hatte oft den Eindruck einer Lähmung, von Lustlosigkeit und Lethargie.

Wenn nun der Konsum nur einige Prozente zurückgeht und Investitionen nur ein paar Wochen hinausgeschoben werden, so wird das beträchtliche Folgen haben.

Hinzu kommt der schwache Dollar. Und alle Probleme, die wir vorher schon hatten, wie z. B. Schuldenkrise, 30 Millionen Arbeitslose in der OECD, Wege zur ökologischen Marktwirtschaft, usw., bestehen nach wie vor.

 

 

Vertrauen verloren

 

Frage: Aber Regierungen, Notenbanken und Banken verfügen doch über ein besseres Instrumentarium als früher und sind gewillt einzugreifen!

 

Da bin ich bei beidem nicht sicher. Instrumentarien und Verhalten sind gewiss anders als 1929. Aber ob besser, das wage ich zu bezweifeln. Ich finde, es wird einerseits viel zu viel "gehebelt", anderseits zu wenig. Mancherorts wird etwas durchgestiert (z. B. BP), andernorts herrscht Untätigkeit.

Beschämend sind vor allem die Streitereien der Politiker.

 

Frage: Viel Vertrauen scheinen Sie nicht zu haben?

 

Nein. Wir wissen doch alle; Vertrauen kann man sehr leicht und schnell zerstören; der Aufbau hingegen gleicht der behutsamen Pflege eines zarten Pflänzchens.

Durch die Ereignisse der letzten Wochen haben manche Menschen, Anleger und andere, das Vertrauen verloren, nicht nur in Politiker, sondern auch in Prognosen und Berater, in Analysen (fundamentale und technische) und nicht zuletzt in die Informationstechnologie und den Computer.

 

Frage: Sie übertreiben!

 

Ich glaube nicht. Sicher sollen wir nie das Kind mit dem Bad ausschütten. Aber wir dürfen die Verhältnisse vor dem 19. Oktober auch nicht rückblickend in eine Idylle verwandeln. Das Misstrauen war doch schon da. Denken Sie nur an die amerikanischen Haushalt- und Handelsbilanzdefizite, die nicht zügig abgebaut wurden. Oder das ungute Gefühl über die Firmen, die durch Inhouse-Banking ihre magere Produktivitätssteigerung aufpolieren wollten.

Sie erinnern sich doch auch noch, dass im Frühling hochbezahlte Angestellte amerikanischer Brokerhäuser innert kürzester Frist über 1000 Mio. Dollar Verluste eingefahren haben. Diese und viele andere Unfähigkeiten haben bei wachen Zeitgenossen bereits vertrauensmindernd gewirkt.

 

 

Chance für „innovatives Lernen“

 

Frage: Was empfehlen Sie dem Anleger?

 

Wer noch nicht ausgestiegen ist, hat einer Illusion nachgehangen, d. h. die ökonomischen wie psychologischen Realitäten verkannt. Das klingt sehr böse. Jedenfalls: Wer geschlafen hat, soll nun so rasch wie möglich alles in Liquidität, Anteile der Eidgenossenschaft und etwas Gold verwandeln.

Noch wichtiger ist für mich aber folgendes: Die Börsenkrise bietet auch eine ungeahnte Chance, nämlich für "innovatives Lernen". Das hat ja der Club of Rome schon 1979 gefordert. Nun können wir Ernst machen damit.

Was heisst das? Ehrlich und offen über die Bücher gehen und sich vier Fragen stellen:

1. Was ist eigentlich geschehen? Versuchen, dies als Ereignisse in vernetzten Systemen zu sehen, wobei die Psychologie nur einen Faktor von vielen darstellt, wenn auch einen wichtigen.

2. Was könnten die Folgen für die Weltwirtschaft, für die Unternehmen in unserem Land, für mich selber sein? Eine positivere und eine pessimistische Variante in aller Breite ausmalen.

3. Wie habe ich mich verhalten? Was habe ich falsch gedacht, erwartet, gemacht?
Das ist hart. Aber die Börse ist kein Spass – und auch keine Sinekure.

4. Wie müsste eine künftige Strategie für mich persönlich, aber auch für Unternehmen aussehen? Dabei wäre insbesondere auf Frühwarnsysteme und die Ausarbeitung echter Alternativen, insbesondere Krisenszenarien, Gewicht zu legen.

 

Das sind plakative Schlagworte. Doch ich bin überzeugt, dass darin die Zukunft liegt. Schon lange war die Möglichkeit nicht mehr so günstig, aus eigenem Erleben und Verhalten zu lernen.

Aus Fehleinschätzungen und Enttäuschungen zu lernen, zeichnet den strebenden Menschen aus.

 

(am 3.11.1987 an „Finanz und Wirtschaft“ gesandt, am 12.11. vom Chefredaktor abgelehnt)

 


Return to Top

Home

E-Mail



Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch