Wer bestimmt, was "kreativ"
ist?
Kreativität ist nicht nur von ihrer
Definition und Anerkennung her ein eminent soziales Problem,
sondern auch als Prozess, der in einem sowohl durch seine
Begabungen wie durch Umwelt und Situation bestimmten Individuum
abläuft. Viele Kreativitätsbarrieren beruhen
auf Einflüssen der Erziehung und der Gesellschaft - sogar bei
Rebellen. Auch Kreativität entsteht nicht im Vakuum.
Die drei wichtigsten Fragen bei der
Kreativität sind, wie sie
definiert wird,
zustande kommt und
anerkannt wird.
So sehr Kreativität auch eine
persönliche Begabung sein kann, so sehr ist die Beantwortung
der drei Fragen eine Angelegenheit der Gesellschaft, ja der Kultur,
in welcher der Kreative lebt.
Einbildungskraft als
«Vermögen»?
Kreativität hat etwas mit den
Fähigkeiten (abilities) des Menschen zu tun. Aber das gilt
auch für Erinnerung oder Hochsprung, Fortpflanzung oder
Buchhaltung, Träumen und Winken. Bis vor etwa 150 Jahren hat
man menschliche Betätigungen an das Vorhandensein bestimmter
«Vermögen» geknüpft.
Der erste grosse Naturforscher,
Philosoph und Psychologe, Aristoteles (um 340 v. Chr.), hat vom
Ernährungs- und Bewegungsvermögen bis zum Vorstellungs-
und Denkvermögen über ein Dutzend «Seelen»
oder Seelen-Teile angenommen.
Immanuel Kant (1781) interessierte sich
nur noch für Sinnlichkeit und Verstand. Über das dritte,
die «Einbildungskraft», geriet er ins Schwanken. Martin
Heidegger meinte, mit der zweiten Auflage der «Kritik der
reinen Vernunft» (1787) habe Kant sich «für den
reinen Verstand gegen die reine Einbildungskraft entschieden, um
die Herrschaft der Vernunft zu retten».
«L'imagination au
pouvoir!»
Seither trudelt die Einbildungskraft
unter verschiedenen Bezeichnungen - «Funktion»,
«Faktor», «Disposition» - einmal ganz im
Abseits, dann wieder ganz zentral in der Seelenlandschaft herum.
Die bisher letzte Ehrenrettung erfuhr sie durch Jean-Paul-Sartre
(«L'imagination» 1936) und die 68er Unruhen
(«L'imagination au pouvoir!»).
Die Definition von der
«Seele» oder von «psychischen
Erscheinungen» her erfolgen durch Philosophen und
Psychologen. Forscher, Denker und Künstler und stehen damit
bereits unter sozialen oder kulturellen Einflüssen. Wenn sie
nirgends hinführen, gibt es zwei weitere Versuche, sich der
Sache anzunähern:
durch eine Analyse dessen, was als «kreatives» Produkt
oder Ergebnis gilt, oder
durch eine Untersuchung von Personen, die als «kreativ»
gelten.
Wer hält was für
«kreativ»?
Beides stösst auf erhebliche
Schwierigkeiten. Man kann definieren: Ein kreatives Produkt muss
neu, nützlich, befriedigend, wertvoll, angemessen usw. sein.
Was heisst das? Morris I. Stein hat vor über 40 Jahren darauf
hingewiesen, dass solche Definitionen von bestimmten Gruppen zu
bestimmten Zeitpunkten vorgenommen werden. Was den einen
«sensationell» vorkommt, ist für andere oder
spätere ein alter Hut.
Und wie vieles ist ein blosser Gag, eine
kurzlebige Mode?
Wer hält wen für
«kreativ»?
Ebenso schwierig ist die Bestimmung und
Untersuchung kreativer Persönlichkeiten. Wiederum seit
Aristoteles formulierte man das Problem: «Aus welchem Grund
sind offenbar alle hervorragenden Männer, die sich in der
Philosophie, in der Politik, in der Dichtung oder in den bildenden
Künsten hervorgetan haben, Melancholiker?»
Dieser Untersuchungen kulminierten 1864
in Cesare Lombrosos berüchtigtem Werk «Genio e
Follia» und 1928 in Wilhelm Lange-Eichbaums «Genie,
Irrsinn und Ruhm». Hier verbinden sich Medizin, soziale
Wirkung und Abstempelung auf ärgerliche Weise.
Immerhin haben noch 1977 E. Woody und G.
Claridge in einem Aufsatz über «Psychoticism and
thinking» enge Beziehungen zwischen «madness und
genius» nachgewiesen. Psychotiker sind egozentrisch,
aggressiv, unpersönlich, kalt, gemütsarm, impulsiv, ohne
Bezug zu ihren Mitmenschen und kümmern sich im allgemeinen
nicht um die Rechte und das Wohlergehen anderer Leute. Auf der
anderen Seite sind sie, vermutlich gerade wegen ihrer allgemeinen
Auffälligkeit, originell und kreativ - vorausgesetzt, sie
verfügen über eine genügende Intelligenz, einen
guten Schulsack und dergleichen.
In nicht viel weniger verfängliche
Gefilde führt die Bestimmung kreativer Wissenschaftler oder
Künstler. Wir bedürfen dazu nicht einmal der Versicherung
Steins, wie schwierig es sei, «Einigkeit unter den Kritikern
darüber herzustellen, wer nun ein kreativer Maler wäre.
Anerkannte Personen aus der Kunst waren sich uneinig.» Wir
kennen das längst: Wie viele Künstler fanden zu Lebzeiten
keine Anerkennung, wie viele Denker landeten im Kerker oder mussten
ihre Ideen mit dem Tod bezahlen!
Nicht einmal bei Wissenschaftern ist es
leichter. Wenn man einfach den Output - Publikationen, Patente -
zählt, kommt Quantität vor Qualität, Emsigkeit vor
Tiefgang. Einstein hatte bis zu der Arbeit, für die er den
Nobelpreis erhielt, erst fünf Aufsätze und eine 21seitige
Dissertation (an der Universität Zürich) verfasst.
«Publish or perish» ist gewiss eine wichtige Maxime,
aber ob sich darin Kreativität zeigen kann, bleibt oft
fraglich. Gute Beziehungen zu Fonds, Kommissionen und Redaktionen
sind häufig viel wichtiger.
Die eigenen Ideen sind die originellsten
Ebenso unbefriedigend sind
Einschätzungen von Mitarbeitern durch Vorgesetzte und
Kollegen, von Schüler durch Lehrer, oder die Analyse von
Zeitungen, Zeitschriften und Meinungsumfragen. Legendär ist
der Bericht von J. P. Guilford (1959):
Ein Professor verkündete seinen
Studenten, dass die nächste Semesterarbeit nach dem
«Umfang der Originalität, die sich darin zeige»,
bewertet werde. Eine Studentin «schrieb laufend und emsig
alles wörtlich mit, was der gelehrte Professor beim Unterricht
sagte». Diese Nachschrift verwandte sie in ihrer
Semesterarbeit, wobei die Lieblingsideen des Professors einen
bevorzugten Platz einnahmen. Das Urteil des Professors
darüber: «Dies ist eine der originellsten Arbeiten, die
ich jemals gelesen habe.»
Prozess und Produkt, Persönlichkeit und
Umwelt
Obwohl wir nicht genau wissen, was
Kreativität ist, gibt es doch vielerlei Vermutungen
darüber, wie sie
zustande kommt. Sie decken eine weite Spannbreite von Zufall
und Einfall, Fleiss und Flexibilität,
Assoziation und Analogie bis zu Lernen und Logik ab. Ferner
werden seit John Dewey (1910) und Graham Wallas (1926) Stufen oder
Phasen unterschieden. Im allgemeinen werden neben den Eigenarten
dieses Prozesses selbst drei weitere wichtige «
Faktoren» ins Auge gefasst:
das Produkt,
die Persönlichkeit,
die Umwelt.
Wie eng sie alle zusammenhängen,
zeigen Untersuchungen unter den Stichworten
«Kreativitätsbarrieren» und
«Konformität». In der 1984 erschienenen
Übersetzung des US-Bestsellers «How creative are you?
» von Eugene Raudsepp werden 39 «Blockaden und Sperren gegen
Kreativität» ausführlich besprochen und weitere
39 erwähnt. Die ersteren werden in persönliche und solche
von «Umwelt, Umgebung und Betrieb» gruppiert.
Sozial bedingte Kreativitätsbarrieren
Dabei ist sofort ersichtlich, wie viele
persönliche Blockaden auch sozial bedingt sind, zum
Beispiel
Mangel an Selbstvertrauen,
Furcht vor Kritik,
falsche Vorstellungen von Erfolg,
frühe negative Konditionierung,
emotionale Stummheit,
der Glaube, dass es unhöflich sei, neugierig zu sein,
ungebührliche Sorge um die Meinung der anderen,
enge, beschnittene und abgestumpfte Interessen.
Hinter manchen persönlichen Sperren
stecken entweder Gewohnheiten, Unkenntnis und Unvermögen oder
schlechte Erfahrungen, falsche Erwartungen und der Wunsch nach
Konformität.
Mit Konformität haben sich vor allem
die Soziologen in den letzten hundert Jahren befasst. Gabriel Tarde
führte sie auf Nachahmung, Emile Durkheim auf Sozialisierung,
Gustave Le Bon auf Suggestion zurück.
Vor 60 Jahren zeichnete Floyd Allport
seine bekannte J-Kurve: Sie zeigt, dass sich die grosse Mehrheit
der Menschen einer sozialen Norm fügt und die Zahl der
Abweichler gering ist. Die statistische Verteilung ähnelt
einem umgekehrten J. Ist dagegen keine Norm vorhanden, ist die
Verteilung verstreut.
Ichbezogenheit zerstört Offenheit und
Sensibilität
Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich
zahlreiche Normen stark geändert oder sind ganz verschwunden.
Andererseits haben Sub- und Alternativkulturen, Splitter- und
Aussteigergruppen neue Normen entwickelt. Böte dies der
Kreativität eine grössere Chance? Als hätte er
unsere gegenwärtige Situation im Auge gehabt, gab der bekannte
Sozialpsychologe Richard S. Crutchfield schon 1962 zu bedenken:
Aufgabenbezogenheit führt zu kreativem Denken, Ichbezogenheit
ist diesem abträglich. Weshalb?
Es gibt jede Menge Belege, dass unter
ichbezogener Motivation - «besonders wenn diese von Angst und
anderen tiefgreifenden Gefühlswallungen begleitet ist» -
kognitive Prozesse rigide werden, das heisst, die Person wird durch
eingefahrene Arten des Wahrnehmens und Denkens gehindert, eine
«kognitive Restrukturierung», die zur
Problemlösung erforderlich ist, vorzunehmen. Ferner versperrt
die gewohnheitsmässige Wahrnehmung den Blick auf «die
vielen reichen und subtilen ‹physiognomischen›
Eigenschaften der Objekte … und die metaphorischen
Übergangsstadien». Damit ist die Möglichkeit, neue
Ideen zu finden, geringer geworden.
Ichbezogenheit zerstört demnach die
für Kreativität unentbehrliche Offenheit und
Sensibilität. Ichbezogene Motive können durch
Konformitätsdruck entstehen: Der Problemlöser möchte
in erster Linie von der Gruppe akzeptiert und belohnt werden, also
Zurückweisung und Strafe vermeiden; die Lösung des
Problems wird ihm daher zweitrangig.
«Konterformisten» -
äusserlich und innerlich entfremdet?
Nun gibt es auch
«Problemlöser», welche die Normen der Gruppe oder
der ganzen Gesellschaft ablehnen und im Extremfall die Devise an
die Wand pinseln: «Macht aus dem Staat Gurkensalat!»
Crutchfield nannte solche Individuen «Konterformisten».
Zu ihren Motivationen gehören Bedürfnisse wie
«seine persönliche Identität zu verteidigen, sich
von der Gruppenautorität zu emanzipieren oder feindliche
Regungen gegenüber anderen zum Ausdruck zu bringen».
Das sind in erster Linie ichbezogene
Motivationen, welche die kreativen Bemühungen
beeinträchtigen. An zweiter Stelle richtet der Konterformist
«seine kreativen Bemühungen auf die lediglich
oberflächliche äussere Erscheinungsweise des kreativen
Aktes», er bemüht sich um die Kennzeichen des Rebellen:
das Flair des Bohémien, die übertriebene Vorliebe
für das Bizarre und das Frevelhafte. Drittens wird der
Konterformist «zu einer Entfremdung seines eigenen Urteils
von jenem Reservoir des Gruppendenkens geführt, das wertvoll
oder unersetzlich für seine eigenen kreativen Lösungen
sein kann. Durch die unterschiedslose Zurückweisung all
dessen, was die Gruppe (oder ‹die Gesellschaft›)
für richtig hält, mag es ihm letzten Endes genauso
schlecht ergehen wie dem äussersten Konformisten, der
unterschiedlos alles annimmt».
Fazit: «Der Konterformist kann in
fataler Weise von den sozialen Quellen jener unmittelbaren
Überprüfung und Bestätigung kreativer Produktion
abgeschnitten werden, die für den kreativen Prozess so
wesentlich sind.»
Kreativität ohne Echo
Kreativität ist wahrlich ein
«soziales Problem», sowohl was ihre Definition, ihr
Zustandekommen und ihre Anerkennung betrifft. Dass diese drei
Aspekte eng zusammengehören, wurde und wird immer wieder
deutlich: der Künstler, der keine Galerie für seine
Werke, keine positive Kritik fand, der Wissenschafter, der seine
Arbeiten nirgendwo publizieren konnte, der Forscher, der keine
Preise erhielt, der Erfinder, der von Pontius zu Pilatus
läuft, um Geld zusammenzubetteln, ja, der Angestellte, der
immer wieder vergeblich Verbesserungsvorschläge macht - wer
kennt sie nicht? Sind sie nicht kreativ, nicht kreativ genug?
Es sieht häufig so aus, als sei
nicht die Kreativität selber das Problem, sondern ihre
Durchsetzung.
Wie sonst wäre es möglich, dass
so wenig über kreative Frauen bekannt ist? Wohl hat 1916 Laura
Chassell die ersten «Tests for Originality»
veröffentlicht und 1918 Helen Marot über «The
Creative Impulse in Industry» geschrieben, wohl publizierten
Elizabeth G. Andrews, Catharine Patrick und Kate Gordon schon in
den 30er Jahren über «Creative Thought», resp.
«Imagination», legten Mary E. Bulbrook und Helen E.
Durkin experimentelle Untersuchungen zu Einsicht und
Problemlösung vor und stammen die ersten deutschsprachigen
Bücher über Kreativität von Gisela Ulmann (1968) und
Erika Landau (1969) - aber die Gesellschaft wischte das unter den
Teppich des Vergessens.
Wissenschaftliche Erkenntnis als Spezialfall
Wissenschaftliche Theorien sollten
verifiziert, bestätigt werden. Seit langem weiss man, dass
dies immer nur «vorläufig» möglich ist, und
schon Henri Poincaré hat 1902, also lange vor Karl Raimund
Popper (1935), festgehalten, dass der Fortschritt der Wissenschaft
durch Falsifikation erfolgt.
Die zugrundeliegende Überlegung ist
einfach: Wissenschaft beruht auf Verallgemeinerungen von
experimentell ermittelten Tatsachen. «Jede Verallgemeinerung
ist eine Hypothese», und sie «muss immer sobald als
möglich und so oft als möglich der Verifikation
unterworfen werden; es ist selbstverständlich, dass man sie
ohne Hintergedanken aufgeben muss, sobald sie diese Prüfung
nicht besteht». Und genau dies ist «eine unverhoffte
Gelegenheit zu einer Entdeckung». Eine umgestossene Hypothese
gibt Anlass zu neuen Experimenten. Hätte man diese nur
zufällig gemacht, hätte man keine Schlüsse daraus
gezogen.
Nun kann aber die wissenschaftliche
Beurteilung nicht nur durch Experimente, sondern auch durch
Fachkollegen erfolgen. Thomas S. Kuhn hat seit den 50er Jahren
«die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen»
(erschienen 1962, dt. 1967) untersucht und dafür deutliche
Worte gefunden: «Die normale Wissenschaft
unterdrückt oft fundamentale Neuerungen, weil diese
notwendigerweise subversiv sind für ihre grundlegenden
Bindungen.» Weil aber diese Bindungen - Glauben,
Begriffsschubladen, Ausbildungsritual - recht willkürlich
sind, kann «das Neue nicht sehr lange unterdrückt»
werden.
Kuhn bringt einige klassische Beispiele.
Die Röntgenstrahlen wurden 1895 durch Zufall entdeckt. Sie
wurden nicht nur mit Überraschung, sondern mit einem Schock
aufgenommen. «Lord Kelvin bezeichnete sie zunächst als
einen ausgefeilten Schwindel.» Oder: «Zum
Kopernikanismus bekehrten sich fast ein Jahrhundert lang nach dem
Tode des Kopernikus (1543) nur wenige. Newtons Arbeit wurde vor
allem auf dem Kontinent mehr als ein halbes Jahrhundert lang nach
dem Erscheinen der 'Principia' (1687) nicht anerkannt.»
Priestley hat die Sauerstofftheorie seines Konkurrenten Lavoisier
(1777) nie anerkannt.
Max Planck bemerkte in einem
Rückblick auf seine wissenschaftliche Laufbahn (1928):
«Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in
der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und
sich als bekehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass die
Gegner allmählich aussterben …»
Gesellschaftliche Bewertung der
Kreativität
Bei Künstlern sind es nicht nur
Fachkollegen, sondern auch das Publikum, Verleger,
Galerienbesitzer, Intendanten und Ämter, welche ihre
«Kreativität» beurteilen. So kommt es, dass manche
erst im hohen Alter oder nach ihrem Tod «entdeckt»
werden. Umgekehrt werden gefeierte Zeitgenossen später als
völlig unbedeutend betrachtet. Wem bedeuten z. B. die Namen
Spiess, Cramer und Vulpius aus der Goethezeit heute noch etwas, wem
die Namen Voss, Bonsels, Binding, Günther vor dem Ersten
Weltkrieg, Seidel, Schenzinger und Simpson vor dem Zweiten
Weltkrieg? Einst waren sie Bestsellerautoren.
Daran lässt sich die Frage
anschliessen: Ist «Erfindergeist» oder Kreativität
gleichbedeutend mit: berühmt, bewundert, verehrt, populär
oder umgekehrt mit esoterisch oder exzentrisch,
unverständlich, wirr?
Der gute oder schlechte Ruf ist vielfach
von ausschlaggebender Bedeutung. Immer wieder kann man lesen, dass
Autoren mit Millionenauflage unter einem andern Namen Manuskripte
ihrem eigenen Verleger eingereicht haben und dass dieselben
abgelehnt wurden. Das spielt, wie Kuhn berichtet, auch in der
Wissenschaft: Lord Rayleygh, Nobelpreisträger 1904, reichte,
als «sein guter Ruf begründet war», bei der
British Association eine Abhandlung über einige Paradoxa in
der Elektrodynamik ein. Versehentlich wurde sein Name weggelassen
und die Schrift daher als Arbeit eines «Paradoxisten»
abgelehnt. «Kurze Zeit danach, als der Name des Autors darauf
stand, wurde die Abhandlung mit weitschweifigen Entschuldigungen
angenommen.»
Das gibt einen wichtigen Hinweis auf die
Möglichkeit zur Durchsetzung von Inventionen: Man muss sich
Ansehen und Beziehungen verschaffen. Das wurde auch den 68er
Revoluzzern klar, als sie den «langen Marsch durch die
Institutionen» empfahlen. Freilich: Unterwegs geht viel Elan
und Ideenreichtum verloren: «Macht korrumpiert», und:
«Beziehungen schaffen Verpflichtungen».
Auch im technischen Bereich ist es mit
der Anmeldung eines Patentes nicht getan. Von den fast zwanzig
Patienten, die der Schweizer Astrophysiker und Raketenforscher
Fritz Zwicky seit 1944 für Düsenantriebe und
ähnliches dem amerikanischen Patentamt einreichte
(«applied for»), wurden einige wenige nach drei bis
fünf Jahren, die meisten aber erst nach zehn bis zwanzig
Jahren erteilt («issued»).
Im letzten Jahrhundert «betrug der
Abstand zwischen Anmeldung und Erteilung im Durchschnitt nur wenige
Monate» (Jacob Schmookler, 1975).
Patente
Dass nur rund die Hälfte der Patente
auch wirtschaftlich genutzt werden, ist bekannt. Die
Verwertungsquote der deutschen Patente lag vor zwanzig Jahren sogar
nur bei 30%. Und was hat Rudolf Diesel 1913 in seiner Schrift
"Entstehung des Dieselmotors" behauptet? «Von 100 Genies
gehen 99 unentdeckt zugrunde» ( Gottfried Hielscher,
1975).
Dass Patente den Fortschritt hemmen
können, zeigt sich ausgerechnet bei James Watt: Die Erneuerung
seiner Patente im Jahre 1775 hat «für weitere 25 Jahre
die Entwicklung der Dampfmaschine bis zum Ende der Kriege des
Empire stark behindert» (Maurice Daumas 1975).
Umgekehrt kann der Patentschutz der
Erfindertätigkeit förderlich sein. Als 1876 das deutsche
Patentgesetz erlassen wurde, «endete die bis dahin mit
eindrucksvollem Erfolg von den deutschen Farbwerken angewandte
Nachahmungspraxis. Die Fabriken mussten nun ihre eigenen neuen
Farben finden, oder sie waren vom Untergang bedroht» (John.
J. Beer 1975).
Dabei ergaben sich allerdings immense
Kosten. So erreichten von den 2400 Farben, die im Jahre 1896 in den
Labors der Bayer-Werke hergestellt wurden, nur 37 den Markt.
Auch der Zufall spielt eine Rolle: Nicht
nur die Röntgenstrahlen (1895), sondern auch die
Radioaktivität (1896 durch Becquerel) sind zufällige
Entdeckungen. Als 1901 der deutsche Chemiker René Bohn einen
Anthrachinon-Indigo-Farbstoff herstellen wollte, fand er das
Indanthren.
Auch die Vulkanisation (Goodyear), die
Kaseinharze (Kunsthorn), das Niederdruck-Polyäthylen (Ziegler)
und andere wurden durch Zufall entdeckt. Dafür gingen sie
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(Unter dem Titel: "Kreativität als soziales Problem"
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[Nachgedruckt im Sammelband: Innovation gewinnt. Kulturgeschichte und Erfolgsrezepte. Zürich: Orell Füssli 1997, als Kap. 2: „Kreative Menschen haben es nicht leicht“, 19-34]