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Unterlagen für einen Volkshochschulkurs „Entscheiden und Verantworten im Alltag“, Sommer 1987

25.5.1987

 

Entscheiden und Verantworten im Alltag III

 

 

1. 1959 hat der amerikanische Forscher Charles E. Lindblom die "Science of 'Muddling Through'" beschrieben. Der Grundgedanke kommt aus der Ökonomie: Laissez-faire. Der Staat soll sich nicht in die Wirtschaft einmischen. Wenn er die Finger draussen hält und alle ihren eigenen Vorteil nachjagen lässt, kommt es schon gut heraus.

 

 

2. Die "Wissenschaft vom Sich-Durchwursteln" ist eine Beschreibung, keine Vorschrift. Sie stellt fest:

a) Gesellschaftliche Ziele werden nicht formuliert.

b) Langfristige Planung wird nicht betrieben.

c) Alle Interessenvertreter können mitmachen. Wer am lautesten schreit, findet das grösste Gehör.

d) Alle Veränderungen gehen so in kleinen Schritten vor sich (Inkrementalismus, Salamitaktik).

e) Die Starken werden mit dem Aushandeln (Bargaining) einigermassen zufrieden sein.

 

3. Weiterwursteln beobachten wir auch im Alltag. Ein "Überhandnehmen“ findet statt: Kaugummi oder Zigarettenstummel auf den Boden werfen, Essen im Tram, Radiohören und Fernsehen bei offenem Fenster, Rauchen, wenn andere noch essen, usw.

 

4. Jeder trägt nur ganz wenig dazu bei; aber als Ergebnis ergibt sich eine beachtliche Summe: "Zivilisationsmüll", Gefährdung der Fussgänger, Belästigung der Mitmenschen ...

 

5. Um es nicht zu diesen feinen Gefährdungsnetzen kommen zu lassen, erfand man einst Anstand und stellte - demokratisch - Gesetze auf. Für den einzelnen bedeutet das die Verwendung der Wörtchen "nie" und "nein", z. B. "Ich werfe nie etwas auf den Boden" oder: "Überholen - im Zweifel nie!"

 

6. Schon die Alten Ägypter kannten Gebote, welche das Zusammenleben der Menschen, ihr Verhältnis zur Kultur und Natur sowie zu sich selber regulierten.

 

7. Gebote sind Wegweiser. Sie verpflichten uns nicht, stets auf dem Weg zu gehen, aber sie dienen unserer Orientierung, wenn wir uns verirrt haben. Auf dem befestigten Weg bewahrt man die Kraft und die Gelegenheit, sich "wesentlichen" Sachen zuzuwenden.

 

8. Egoismus ist uralt. Die Idee der Selbstverwirklichung hat der Zürcher Psychiater C. G. Jung in den 20er Jahren entworfen: Um eine volle, abgerundete Persönlichkeit zu werden, müsste der Mensch seine gegengeschlechtliche Seite (Animus resp. Anima) und seine schlechten, bösen Seiten (Schatten) bewusst aufnehmen und verarbeiten. Daraus ergibt sich ein besseres Verständnis für das (eigene) menschliche Leben wie für die anderen Menschen.

Das ist ein dauernder Vorgang, der nie abgeschlossen sein kann. Wir können uns nur laufend darum bemühen. Wir sind immer auf dem Wege. Das Ziel - das "Selbst", nicht das Ego - dient als Orientierung.

 

9. Selbstverwirklichung erfordert das gleiche Nachdenken und Abwägen wie das Entscheiden. Wir müssen uns fragen, ob die vielen kleinen Unarten dafür notwendig sind.

 

10. Auch die Berufswahl eines jungen Menschen gehört zur Selbstverwirklichung, und zwar für das Kind wie für die Eltern. Das Rezept lautet: Fördern, Beobachten, Reden.

a) Das Fördern von Begabungen erfordert sorgsame Beobachtung des Kindes.

b) Zu beobachten sind das Kind, aber auch die eigene Berufstätigkeit und die Arbeitswelt überhaupt. Diese Beobachtungen sind persönlich zu nehmen.

c) Über all dies ist im Familienkreis zu reden, hartnäckig, aber nicht penetrant, weder schulmeisterhaft noch prinzipiell ablehnend - aber ehrlich.

 

11. Das Gespräch ist - nebst dem Beobachten und Nachdenken - der Schlüssel nicht nur zur Berufswahl, sondern auch zur Selbstverwirklichung. Ganz für sich allein lernt man nicht einmal sich selbst kennen.

 


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