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Manuskript für einen Volkshochschulkurs „Entscheiden und Verantworten im Alltag“, Sommer 1987

25.5.1987

 

 

Erst auf dem Nachhauseweg am letzten Montag ist mir durch den Kopf gegangen: Es ist erstaunlich, dass wir in der Diskussion auf keines der "heissen Eisen" eingetreten sind. Sie erinnern sich; berufstätige Mütter - ohne Verzicht, dafür mit Schuld  -, Autofahren, Fernsehen.

 

Vielleicht werden wir aber heute dazukommen, denn unser Thema "Weiterwursteln oder entscheiden" betrifft gerade diese und ähnliche Fragen.

 

Was heisst „weiterwursteln“?

 

"Weiterwursteln" als Fachausdruck kommt aus dem politischen Bereich Anfang der 60er Jahre hat der amerikanische Forscher Charles E. Lindblom die "Science of Muddling Through", die Wissenschaft vom Sich-Durchwursteln beschrieben. Das hat damals bei einigen Wissenschaftern Aufsehen erregt. Die Politiker hörten das nicht so gern, und bald sprach man nicht mehr davon. Man praktizierte es allerdings weiter.

 

Der Grundgedanke des Wursteins kommt aus der Wirtschaft. Er heisst: Laissez-faire. Das heisst: Der Staat soll sich nicht in die Wirtschaft einmischen. Wenn er die Finger draussen hält und alle ihren eigenen Vorteilen nachjagen lässt, kommt es im Endeffekt schon gut heraus.

 

Ein deutscher Forscher hat einmal beschrieben, was das für die Politik bedeutet. Stossen Sie sich nicht am Jargon - im Vergleich zu andern Texten ist er noch harmlos.

„Auf eine kurze Formel gebracht, verläuft der Entscheidungsprozess nach dem Stil des »muddling through« über den Einsatz staatlicher Massnahmen auf folgende Weise: Man kann den zahlreichen sich widersprechenden und ständigen Wandlungsvorgängen unterworfenen Bedürfnissen und Wünschen der Gesellschaft am besten dann gerecht werden, wenn man den Entscheidungsprozess so gestaltet, dass Lobby- und Interessengruppen ständig zu den Behörden Zugang haben und ihre Bedenken beziehungsweise Änderungsabsichten zu laufenden Regierungsprogrammen äussern können. Eine Antizipation und Explizierung gesellschaftlicher Ziele, eine Welfare-Funktion, ist dann gar nicht erforderlich, weil auch ohne diese alle Gruppeninteressen sozusagen automatisch zur Kenntnis der politischen Instanzen gelangen und in einem Bargaining-Prozess berücksichtigt werden können.

Die Analogie zum marktwirtschaftlichen System nach den Prinzipien des laissez faire ist unverkennbar, wonach bekanntlich ebenfalls Bedürfnisse nicht expliziert, sondern den Regelungsprozessen von Angebot und Nachfrage überlassen werden. Auf die Aufstellung von Produktions- und Kostenfunktionen staatlicher Handlungen kann man verzichten, weil die Programmergebnisse einerseits nur schwer vorhersagbar sind und der Interessengruppenprozess andererseits die wesentlichen Punkte schon zum Vorschein bringen wird.

Inkrementale Änderungen gegebener Programme sollen den Vorzug geniessen gegenüber grösseren Abweichungen von derzeitigen Vorgehensweisen, weil andernfalls nur schwer eine Zustimmung der Interessengruppen zu erreichen ist.

Aus demselben Grunde ist es opportun, sich auf wenige naheliegende Massnahmenalternativen zu beschränken.

Fortschritte werden am besten durch trial and error (Lewis and Clark planning) erzielt, nicht dagegen durch langfristige Planung der Aktivitäten. Die aus allen diesen Eigenschaften des Entscheidungsprozesses resultierende Trägheit der Bürokratien wird als ein eingebauter Stabilisator des Systems betrachtet, der die Einigung gesellschaftlicher Gruppen erleichtert.

… Es scheint, als wäre dieser Prozess in einer Zeit, die durch Komplexität und Dynamik des Regierungshandelns geprägt ist, nicht adäquat. Denn zunächst einmal ist eine zunehmende Ineffizienz des Regierungshandelns die Folge, die daraus resultiert, dass bei der tiefen Untergliederung und bei fehlendem Zielsystem der Kontakt zwischen den Subsystemen (Abteilungen, Referate usw.) und den übergeordneten Entscheidungszentren verloren geht. Fehlt dieser Kontakt, so ist Nicht-Überschaubarkeit die Folge. Dadurch erhalten die einzelnen Abteilungen einen hohen Grad an Eigenständigkeit. Es bilden sich die sogenannten »kleinen Königreiche«.

Zahlreiche negative Auswirkungen wie Doppel- oder Mehrfacharbeit sowohl innerhalb als auch zwischen Ressorts, fehlende komplementäre Projekte, mangelhaftes Einbeziehen aller relevanten Daten sind die Konsequenz.“

 

(Heinrich Reinermann: Planning-Programming-Budgeting-Systeme und die integrierte Planung von Regierungs- und Verwaltungsorganisationen. In Helmut Krauch (Hrsg.): Systemanalyse in Regierung und Verwaltung. Freiburg im Breisgau: Rombach 1972, 181-229, Zitat 197-198)

 

Wichtig daran ist:

1) Gesellschaftliche Ziele werden nicht formuliert, ja sie spielen überhaupt keine Rolle.

2) Langfristige Planung ist nicht nötig. Kosten und Nutzen müssen nicht beurteilt und schon gar nicht gegeneinander abgewogen werden.

3) Alle Lobbies und Interessengruppen können mitmischeln. Wer am lautesten schreit, findet das grösste Gehör.

4) Alle Veränderungen gehen so in kleinen Schritten vor sich. Das heisst englisch: Inkrementalismus. Auf Deutsch sprechen wir von Salamitaktik.

5) Alle diejenigen, die stark genug sind, werden mit dieser Methode des Aushandelns (engl. Bargaining) einigermassen zufrieden sein.

 

Das ist eine deskriptive Theorie, eine Beschreibung dessen, was abläuft, keine Vor-schrift.

Was man sollte ist klar:

a) vorausschauend Planen, durch Abwägen von Kosten, Aufwand, Ressourcen auf der einen Seite, Nutzen auf der andern Seite.

b) höhere Interessen als nur der eigene Nutzen berücksichtigten, englisch: Welfare, Wohlfahrt.

 

Weiterwursteln im persönlichen Bereich

 

Was ich da beschrieben habe, spielt nicht nur im politischen oder wirtschaftlichen Alltag, sondern auch in unserem persönlichen und gesellschaftlichen Alltag. Und davon wollen wir ja sprechen.

Weiterwursteln heisst hier ebenfalls: Die Zügel schleifen lassen; Entscheiden dagegen hiesse, wie stets: die einzelnen Faktoren und Zusammenhänge bedenken, beurteilen und hernach abwägen. Dann müsste man einigermassen aktiv die sich daraus ergebenden Forderungen erfüllen.

 

Ein Beispiel: Ich spucke einen Kaugummi auf den Boden oder werfe einen Zigarettenstummel auf die Traminsel oder die Strasse. Das hat Folgen: Andere sehen das und tun das auch - oder ich tue das, weil es die andern auch tun. Jedenfalls häufen sich die Flecken und Stummel. Ergebnis:

1) Es entwickelt sich eine Mode, das zu tun. Niemand denkt sich mehr etwas dabei. Doch halt:

2) Aufmerksame Zeitgenossen oder auswärtige Besucher denken: "Zürich ist eine schmutzige Stadt".

3) Strassenwischer müssen unseren Dreck zusammenkehren. Bei Kaugummi gelingt das nicht. Schauen Sie vor Kinos oder Parkhäusern einmal auf den Boden.

 

Kleinste Wursteleien summieren sich

 

Das sind Kleinigkeiten, können Sie sagen. Doch sie summieren sich. Hundeversäuberung, Zigarettenpackungen, Blechdosen, McDonald-Becher und- Schachteln, Flugblätter, usw. kommen dazu. Und jeder trägt nur ein ganz klein wenig zu diesem "Zivilisationsmüll" bei.

 

Das Beispiel vom Trottoirparkieren habe ich das letzte Mal erwähnt. Jeder steuert zwar nur ein Auto bei, aber die Summe ist imposant, wenn Sie einmal darauf achten. Dazu kommen Radfahrer, Rollschuhläufer, Skateborder. Ergebnis: Die Freiräume des Fussgängers sind eingeschränkt worden, er ist mehr gefährdet, muss mehr aufpassen, alte Menschen und Träumer werden erschreckt, viele ärgern sich, Pauschalurteile werden bestätigt: "Diese blöden Autofahrer, die unverschämten Jugendlichen, die nichts Gescheiteres zu tun haben"; es werden Leserbriefe geschrieben, Anfragen im Gemeinderat eingebracht, usw.

 

Also kleinste Entscheidungen - insgesamt beachtliche Wirkung.

Ein Verursacher - genauer: viele Verursacher, aber jeder für sich - viele Betroffene.

 

Sie sehen: Es gibt ganz feingesponnene Netze, und fast jeder ist in der einen oder andern Weise daran beteiligt. Das ist freilich nicht erst heute so; es war schon immer der Fall. Aber man war sich früher dessen eher bewusst. Darum hat man den Anstand erfunden. Etwa die Regel: "Man wirft nichts auf den Boden". Und man hat die Strassenverkehrsgesetze entworfen, genau deshalb, damit nicht immer mehr feine Gefährdungsnetze überhandnehmen.

 

Heute halten sich nicht mehr soviele an Anstand oder Gesetze. "Law and Order" ist in Verruf geraten, manche empfinden Gesetze als Schikane, sie stehen der Selbstverwirklichung im Weg. Dazu kann man nur recht plump sagen:

1) Die Gesetze wurden demokratisch erzeugt. Offenbar bedeutet uns auch Demokratie nicht mehr viel.

2) Die Übertretungen haben einst ganz langsam angefangen. Es ist erst allmählich Mode und dann eine feste Institution geworden. Das gilt nicht nur für Zigarettenstummel, Automobilisten oder Velofahrer auf dem Trottoir. Wenn Sie ihre nähere Umgebung aufmerksam betrachten, werden Sie täglich neue Bereiche entdecken, in denen ein schleichendes Überhandnehmen – das ist der Inkrementalismus – stattfindet: Essen und Walkman-hören im Tram, Radiohören und Fernsehen bei offenem Fenster, Batterien in den Abfall werden, Rauchen, wenn der Nachbar im Restaurant noch am Essen ist, usw. Ein junger Schweizer Autor (Jürg Acklin) hat vor ein paar Jahren (1973) ein Buch unter dem Titel "Das Überhandnehmen" geschrieben. Es wunde kein Erfolg; wir hören das nicht gern.

 

Wir können bei uns selber anfangen

 

Wir können so weiterwursteln. Ich sehe allerdings nicht, was es wem für einen Nutzen bringt. Brächte es niemandem Nutzen, dann sollten wir dem Widerstand entgegensetzen. Und der finge bei jedem einzelnen an. Henry Miller, ein berüchtigter Schriftsteller, dessen Bücher lange Zeit verboten waren, hat einst gesagt: "Da ich - wie ich erkannt habe - die Welt nicht zu ändern vermag, muss ich wohl oder übel bei mir selber anfangen."

 

Wir können das tatsächlich. Gerade in solchen kleinen Bereichen sind nämlich echte Entscheidungen möglich. Wir können uns auf die Zusammenhänge besinnen und uns entscheiden: Zuerst für Weitermachen im alten Trott, oder neu Entscheiden, und dann für ein Verhalten, das uns, nach allem Abwägen, sinnvoller erscheint.

Das ist nicht leicht. Wir stecken ja in Netzen, auch solchen, die wir für uns selber gestrickt haben. Wir haben uns an so manches gewöhnt, das heisst, sehr viele Verhaltensweisen eingeschliffen.

Nun, wir könnten auch andere Verhaltensweisen einschleifen. Die patentesten Wörtchen dazu sind "nie" und "nein". Seit etwa 10 Jahren gibt es in den USA eine ganze Psychotherapiebewegung, die Trainings durchführt: „How to say no.“

 

Sie erinnern sich an den Herrn, der in der ersten Diskussionsstunde erwähnt hat, für ihn gebe es keine Entscheidung zwischen Fleisch und Fisch. Er sei nämlich allergisch auf Fisch. Ich habe damals geantwortet: Es würde unser Leben ins Belangen erleichtern, wenn wir alle mehr allergisch wären. Also wenn wir bei vielen Dingen sagen würden: "Das kommt für mich nicht in Frage."

 

Ein klassisches Beispiel ist der Slogan: "Überholen - im Zweifel nie!"

 

Es gibt unzählige andere Bereiche, wo Sie alle "nie" oder "nein" sagen können. Suchen Sie doch einmal Beispiele im Verlauf dieser Woche. Ich gebe Ihnen ein paar Stichworte:

  • Rauschgift
  • bei Rot über die Kreuzung fahren
  • fremdgehen
  • sich bestechen lassen
  • ein Grundstück in Florida mit traumhafter Rendite kaufen
  • Kinder schlagen
  • stehlen.

 

Gebote regulieren das Zusammenleben

 

Da kommen mir drei Sachen in den Sinn:

1) Die zehn Gebote

2) Wir sind keine Engel

3) Wo bleibt da die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung?

 

Zum ersten: Auch wenn man sich im Laufe der Geschichte - weiss Gott,  und Gott hat es wohl gewusst - meist eher nicht an die zehn Gebote gehalten hat, sind sie doch bedenkenswert. Es müssen ja gar nicht die zehn Gebote sein. Buddha hat - etwa 500 v. Chr. - nur fünf aufgestellt:

 

Derartige Gebote gab und gibt es fast in allen Kulturen.

Sie regulieren das Zusammenleben der Menschen, ihr Verhältnis zur Natur und Kultur und ihr Verhältnis zu sich selber. Besonders eindrücklich sind zum Beispiel die vier Gebote, welche die Alten Ägypter 2000 Jahre vor Buddha, also vor 4500 Jahren aufgestellt haben:

 

siehe:

Wichtige ethische Gebote, Tugenden und Verpflichtungen aus der Weltgeschichte

 

Gebote sind Wegweiser

 

Das klingt gut. Aber es ist lange her und, eben, zweitens: Wir sind keine Engel. Das ist unbestritten. Es wäre auch schrecklich, wenn wir Engel oder Übermenschen wären. Gerade deshalb brauchen wir Gebote oder Empfehlungen. Sie sind wie Wegweiser. Sie zeigen uns eine Richtung.

Ohne Wegweiser wären wir orientierungslos, und es wird heute oft von Orientierungslosigkeit gesprochen. Wegweiser verpflichten uns nicht, auf dem Weg zu gehen, und wir werden ab und zu vom Weg abkommen, ja in die Irre gehen. Wenn es aber keine Wegweiser gäbe, die wir irgendwo in der Ferne erspähen, könnten wir gar nicht mehr auf den Weg zurückfinden. Was ist dieser Weg? Eine Einrichtung, auf der man leichter vorwärtskommt, wo es (sich) leichter geht.

 

Auf einem befestigten Weg ist man weniger gefährdet: einerseits vor vielen Verlockungen, die einen in den Sumpf zu ziehen vermögen, anderseits vor den eigenen Schwächen. Ein bisschen muss nämlich der Mensch auch vor sich selber geschützt werden. Er braucht etwas Halt von aussen

 

Was ist uns „wesentlich“?

 

Auf dem festen Boden eines Weges bewahrt man auch die Kraft und die Gelegenheit, sich "wesentlichen" Sachen zuzuwenden. Damit komme ich zum dritten Punkt: Selbstverwirklichung. Das ist nicht unser Thema.

Aber Selbstverwirklichung ist heute, oder war bis vor kurzem, Mode. Und da kann ich nur fragen: Sind die paar Sachen, die ich vorher angegeben habe, für die Selbstverwirklichung notwendig? Kinder prügeln, ein Grundstück in Florida, Drogen, Überholen in der Kurve, Zigarettenstummel auf den Boden werfen. Ist das "wesentlich" für uns?

 

Selbstverwirklichung erfordert also auch Überlegungen, Denken in Zusammenhängen. Also dasselbe wie Entscheidungen. Wenn wir nicht einfach triebhafte Wesen sein wollen, täglich unseren Launen und Eingebungen nachgeben wollen, müssen wir auch für unsere Selbstverwirklichung das ganze Spiel der Abwägungen durchziehen. Was bringt was, materiell, seelisch, geistig, was wird vernichtet, was sind die Forderungen?

 

Nachdenken ist möglich. Und wenn den Menschen etwas vom Tier abhebt, dann ist es genau dieses: den Verstand und die Vernunft für das eigene Fortkommen zu benützen.

Der grosse Philosoph Descartes ist massgeblich für unser heutiges, leider auch gefährliches Denken verantwortlich. Er hat kurz vor 1650 gesagt:

"Der gesunde Menschenverstand ist die bestverteilte Sache der Welt; denn jedermann meint, so wohl damit versehen zu sein, dass selbst einer, der in allen anderen Dingen nur sehr schwer zu befriedigen ist, für gewöhnlich nicht mehr davon wünscht, als er besitzt."

 

Ob er das ein bisschen ironisch gemeint hat, weiss ich nicht. Es ist auch nicht wichtig. Wichtig ist: Nutzen wir den Verstand! Bei den Alten Ägyptern war er gleichbedeutend mit dem Herzen, also keine blosse Kopfangelegenheit. Und bei Descartes gehörte zum gesunden Menschenverstand auch die Intuition, das Gespür.

 

Ein Beispiel: Die Berufswahl

 

Es gibt grössere Entscheidungen als diejenige, ob ich etwas auf den Boden werfen soll oder nicht.

 

Im privaten Bereich gehören zu den angeblich grossen Entscheidungen die Berufs- und Partnerwahl, die Wahl des Lebensstils, von Wohnort und Arbeitsplatz. Wenn man dies etwas genauer betrachtet, fragt man sich bald einmal: Wo lag denn da die Entscheidung?

 

Nehmen wir die Berufswahl. Ich habe schon einmal erwähnt, dass die Natur zusammen mit den Eltern schon einige Entscheidungen getroffen hat:

Geschlecht, Rasse und Hautfarbe, Konstitution und Dispositionen sind ohne unseren Willen bestimmt worden, desgleichen das Milieu, in dem wir aufgewachsen sind - vom Klima über das Quartier bis zu den Geschwistern.

 

All dies beeinflusst unseren Lebensgang lange vor der Berufswahl. Und die Berufswahl wird von alledem beeinflusst. Es ist auch selten so, dass ein Jugendlicher eines Tages sagt: "Ich werde das und das" - und dabei bleibt. Die Berufswahl besteht wohl eher aus einer ganzen Kette von oft ganz kleinen Entscheidungen. Diese sind vielfach gar nicht in Hinblick auf den künftigen Beruf getroffen worden, etwa Spielsachen, Lektüre, Filme, Ferienaufenthalte und -reisen usw. Dabei bilden sich Vorlieben heraus, aber auch Kenntnisse, welche die Berufswahl später mitbestimmen. Das Vorbild der Eltern - ob positiv oder negativ -, ihre Beurteilungen und Behauptungen spielen eine Rolle, ferner die Schule und die Lehrer, Verwandte, Kameraden, Jugendgruppen.

 

Die Berufswahl findet also unter unzähligen Einflussfaktoren statt. Viele kleine Weichen sind schon gestellt worden, wenn dann endlich die Entscheidung nötig wird. In vielen Fällen wird es um die Wahl der "Lehre" gehen. Es gibt, glaube ich, etwa 500 vom BIGA (Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit) anerkannte Lehrberufe. Aber auch hier ist die Wahl einerseits vom Wohnort und Zeugnis., anderseits vom Lehrstellenangebot abhängig.

 

Dreierlei kann den Entscheidungsstress mindern:

1) Das Wissen, dass Tausende von Eltern und Jugendlichen jeweils vor dem selben Problem stehen.

2) Das Wissen, dass man wechseln kann, ja, früher oder später oft wechseln muss.

3) Dass man Freude am Ungewohnten finden, lernen kann.

 

Das ist sicher anders gegenüber früheren Zeiten: Die berufliche Mobilität ist grösser. Das hat Vorteile. Man ist nicht mehr so festgelegt. Es hat freilich auch Nachteile, denn man muss flexibel bleiben. Die grössere Freiheit verlangt also auch mehr eigene Anstrengung.

 

Fördern. Beobachten. Reden

 

Gibt es Rezepte für die Berufswahl? Gewiss. Ich fasse sie unter die Formel:

Fördern, Beobachten, Reden.

 

1) Es ist unbestreitbar, dass Eltern die Begabungen und Interessen ihrer Kinder fördern sollen. Das ist nicht leicht, weil viele Eltern eigene Vorstellungen von der Zukunft ihrer Kinder haben. Sie zwingen sie, in die Klavierstunde zu gehen oder im Chor zu singen, obwohl das Kind gar nicht will. Vielleicht möchte es lieber basteln und konstruieren, zeichnen und malen, schreiben, turnen, Naturbeobachtungen anstellen, tanzen, Theater spielen, usw.

 

2) Was ist nötig, damit Kinder gefördert werden können? Beobachtung. Schon der grosse Philosoph John Locke hat 1690 in seinen "Gedanken über Erziehung" gefordert, man müsse seine Kinder genau beobachten: Wo liegen besondere Begabungen, worauf richten sich die Interessen, was fehlt dem Kind?

 

Das ist aber nur das eine. Auch die Berufswelt muss aufmerksam beobachtet werden. Das ist doch ganz leicht. Und nehmen Sie Ihre Beobachtungen ernst. Was wundert uns denn heute am meisten, wenn wir etwas kaufen möchten, wenn wir die Arbeit von Handwerkern beurteilen? Meine Frage ist jedenfalls häufig: Wo, ums Himmels willen, sind die Könner geblieben, wo die Leute, die etwas wissen oder etwas recht machen? Wir treffen leider immer häufiger auf Verkäuferinnen, die von ihrem Gebiet keine Ahnung haben, auf Handwerker, die pfuschen, Angestellte, die alles liegen lassen, Beamte, die Fehler machen.

 

Solche Beobachtungen müssen wir ganz persönlich nehmen, und zwar für dreierlei, nämlich als Anstoss

a) für die Beurteilung, was unser Kind braucht und lernen muss,

b) für die Besinnung auf unsere eigenen beruflichen Schwächen,

c) für ein Nachdenken über unsere heutige Berufswelt, den Sinn der Arbeit, ja den Sinn des Lebens.

 

3) Daraus ergibt sich fast zwingend das Gespräch am Familientisch, in der Familie jedenfalls, und vor allem mit den Kindern. Beobachtungen anstellen und sich Gedanken machen, ist weitgehend nutzlos, wenn sie nicht mitgeteilt werden. Es ist nicht nur möglich, sondern auch notwendig, mit Kindern jeden Alters über ihre  Vorlieben und Sehnsüchte, Widerstände und Interessen zu reden.

Es ist wichtig, auch über die eigene Arbeit nachzudenken und Auskunft zu geben. Und es ist sinnvoll sich über das Berufsleben ganz allgemein zu unterhalten.

 

Denn: Die Arbeitswelt macht mindestens die Hälfte unseres Lebens aus, und zwar die Arbeit, die wir tun, als auch die Arbeit, die andere, einmal gut, einmal schlecht, tun.

 

Die Psychologen haben herausgefunden, dass die Arbeit auch unsere Persönlichkeit prägt. Die Arbeitsweise, das Arbeitsgebiet, die Arbeitsmoral sind weder angeboren noch etwas Aufgepfropftes, sondern: Sie werden einerseits von unserer Persönlichkeit beeinflusst, anderseits wirken sie auf uns zurück, und zwar meist mehr als wir uns bewusst sind.

 

Über solche Themen mit den Kindern zu sprechen, hartnäckig, aber nicht penetrant, gestützt von immer neuen Beobachtungen der Eltern wie auch der Kinder, aber weder schulmeisterhaft noch prinzipiell ablehnend - das erleichtert die Berufswahl ganz enorm.

 

Kurz und gut: Das dauernde Gespräch ist das Wundermittel, mit dem wir die Kette der unzähligen kleinen Entscheidungen oder Weichenstellungen in die für das Kind richtige Richtung bringen können. Es ist nie zu spät, mit dem Gespräch anzufangen.

Es hat nur drei Voraussetzungen: Beobachtungen, Nachdenken und – am wichtigsten – Ehrlichkeit.

 


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