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Eine Selbstdarstellung vom 8. März 1978
Siehe auch: Umwege zum eigenen Ich - Gedanken und Zitate zur Individuation
Der Titel meines Vortrags muss präzisiert werden. Er sollte lauten: "Aus der Werkstatt eines Psychologen". Eine zweite Präzisierung betrifft die "Werkstatt". Da wird nicht an Seelen herumgeflickt, sondern da wird an einer Ganzheit gebaut, und zwar an einem Menschenbild in dreierlei Hinsicht: Der Psychologe versucht, sich ein solches Bild vom Menschen generell und von sich selber aufzubauen und, wenn er einen andern Menschen berät, schult oder tröstet, dann versucht er, in gemeinsamer Arbeit mit diesem in diesem ein ganzheitliches Bild zu errichten. Das heisst erziehen, helfen und heilen.
En Menschenbild aufbauen heisst: auf dem Wege sein
Nun ist der Aufbau eines Bildes vom Menschen und von sich selber gewiss ein Suchen, und ein Suchender bleibt der Mensch sein Leben lang.
In der Psychologie begleiten einen die grossen philosophischen Gestalten, die Pädagogen, Mediziner und Geistlichen. Denn einerseits wurzelt die Seelenkunde tief in der Philosophie und Theologie, anderseits sind es immer die Seelsorger, Erzieher und Ärzte, die sich am unmittelbarsten beruflich mit dem Menschen abgeben.
Von der Psychologie als eigenständiger Wissenschaft kann man erst seit etwa 200 Jahren sprechen. Den Beruf des Psychologen gibt es gar erst seit 100 Jahren. Etwas älter ist demgegenüber die Psychiatrie.
Ein Menschenbild aufbauen heisst also: auf dem Wege sein. Und damit man auf diesem Weg vorankommt und auch in finsteren Stunden nicht verzagt, braucht es einen Willen. Den Willen nämlich, den rechten Weg nicht zu verlassen, den Willen zur Wahrheit und zum Wissen, und schliesslich den Willen, sich selber treu zu bleiben, gemäss dem Motto von Polonius "This above all: To thine own self be true".
Ich werde also berichten aus der Werkstatt, vom Weg und vom Wollen eines Menschen, der sich heute Psychologe nennt. Das bedeutet nichts anderes als Selbstbesinnung zu üben.
Von der Philosophie zur Psychologie
Wenn nun aber einer gar nicht in seinem Beruf tätig ist, dann hat er von dreierlei zu berichten: weshalb er überhaupt diesen Beruf gelernt hat, was er gelernt hat und weshalb er ihn nicht mehr ausübt.
Erste Wegweiser in den höheren Klassen des Gymnasiums waren mir der Lateinlehrer und der Religionslehrer, Orientierungshilfen die Platonischen Dialoge, Bochenskis "Wege zum philosophischen Denken" und Jaspers’ "Einführung in die Philosophie", Schriften von Aloys Wenzl über "die philosophischen Grenzfragen der Naturwissenschaft", von Jean Gebser über "die abendländische Wandlung" und schliesslich Bücher von und über Carl Gustav Jung. Über Robert Musils 1600seitigen psychologischen Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" verfasste ich meinen Maturavortrag.
Ein Kernstück meiner vielseitigen Interessen lag also beim Menschen, dem was er tut und denkt, vor allem, was er über sich selber nachdenkt.
Als erstes Studiengebiet wählte ich jedoch die Medizin, weil sie sich mit dem Menschen am konkretesten abgibt, doch ist dies in erster Linie der kranke, verletzte oder behinderte Mensch; ich aber wollte wissen, wie der gesunde, der "normale" Mensch in seinem Innenleben aufgebaut ist, was er empfindet und denkt und worunter er leidet. Das ist aber genau das Hauptthema der Psychologie!
Schliesslich bewog mich auch die faszinierende Lektüre der Biographie von C. G. Jung, "Erinnerungen, Träume, Gedanken", zu einem Richtungswechsel in die philosophisch-historische Fakultät der Universität.
Hier befand ich mich wieder auf "meinem Weg", zumal einer meiner Dozenten Professor sowohl für Psychologie als auch Philosophie war und den Psychologen als Nebenfach Philosophie empfohlen wurde. Als zweites Nebenfach wählte ich Germanistik, da ich mich immer gerne mit der Sprache abgegeben habe, auch selber gern schrieb und heute noch viel schreibe.
Ich bin aber froh, dank den ersten drei medizinischen Semestern über eine recht solide naturwissenschaftliche Ausbildung zu verfügen.
Ausbildung in Psychologie
Worin besteht nun die Ausbildung in Psychologie? Sie wird ohne grosse Berechtigung in eine theoretische und in eine praktische getrennt. Die theoretische orientiert sich heute noch stark an der Philosophie, wobei sich der Bogen von den grossen Denkern der Vorsokratiker, von Platon, Aristoteles, den Stoikern und Epikuräern über Descartes, Spinoza und Leibniz, die französischen Moralisten, Kant, Hegel und Nietzsche bis zu Heidegger, Husserl und Merleau-Ponty, ja bis zur Informationstheorie und Kybernetik erstreckt.
Schwerpunkte sind etwa die Lehre von der Moral, den Affekten, dem Schönen und der Erkenntnis.
In der praktischen Psychologie befasste ich mich mit Intelligenzforschung, Testpsychologie, Betriebs- und Verkehrspsychologie und Kleingruppenforschung.
Zwischen Theorie und Praxis steht die Tiefenpsychologie. Sie ist an der Universität Zürich [1978] eine ausschliesslich an Sigmund Freud und seiner Schule orientierte Neurosen- und Motivationslehre. C. G. Jung findet keine Erwähnung. Deshalb besuchte ich Vorlesungen eines Jungianers (C. A. Meier) an der Freifächerabteilung der Eidgenössichen Technischen Hochschule (ETH) und während acht Semestern Kurse am C. G. Jung-Institut. Dazu verfasste ich eine längere Arbeit über "C. G. Jungs Sicht der Psychologie".
Dazu betrieb ich strenge Philosophie, wo es einerseits um die Klarheit der Gedanken und Begriffe, anderseits um ein Ringen um das "Wesen des Menschen" geht. Erich Brock, damals bereits Mitte Siebzig, führte eine kleine Schar Getreuer in die Lebensphilosophie ein.
Das Ungenügen der praktischen Psychologie wurde mir bald derart deutlich - Experimente fanden überhaupt keine statt -, dass ich in meiner Gedankenwerkstatt eine Dissertation über nichts geringeres als "Psychologie und Welt" entwarf. Das wurde als vermessen taxiert, und ich musste an die Universität Basel wechseln. Fünf Jahre später gab mein Zürcher Professor ein Buch unter genau diesem Titel heraus ...
Ludwig Klages sieht den Menschen als Ganzheit
In Basel entdeckte ich Ludwig Klages. Dieser grosse Denker ist einer der letzten, welcher scharf- und tiefsinnigste Philosophie mit angewandter Psychologie zu verbinden gewusst hat. Nicht nur hat er die wissenschaftliche Graphologie begründet und Zeit seines Lebens graphologische Gutachten von erstaunlicher Treffsicherheit verfasst, er hat auch ausgedehnte Sprachforschung betrieben und der Ausdruckslehre und Charakterkunde zu wissenschaftlichem Niveau verholfen. Sein Lebenswerk ist bekannt unter dem provozierenden Titel "Der Geist als Widersacher der Seele" (1929-32 in vier Bänden erschienen).
Dieses monumentale Werk bietet eine Basis für ein Welt- und Menschenbild, die ich auch heute noch für richtig halte. Genauso wie ich der Ansicht bin, Psychologie zu betreiben sei ohne philosophischen Hintergrund gar nicht möglich.
Klages bezeichnet die cartesianische Zweiheit von Materie und Geist als irreführenden Scheingegensatz. Sein Ausgangspunkt ist der Gegensatz von Leben und Geist. Insofern sich nun das Leben in der Polarität von Leib und Seele darstellt, können wir von der "Dreifaltigkeit des geschichtlichen Menschheitscharakters" sprechen.
Das ist die Wiederentdeckung der alten griechischen Weisheit, dass der Mensch eine Ganzheit von Leib, Seele und Geist ist. Das lässt sich ganz populär erläutern: Es ist derselbe Mensch, der etwas in die Hände nimmt, jemandem herzlich zugetan ist und ein Arbeitsprogramm aufstellt.
Das gibt uns Hinweise auf die Frage: Was sind nun "die" Seele und "der" Geist? Man macht es sich heute meistens sehr leicht und spricht statt von Seele von emotionalem und affektivem Geschehen, statt von Geist von kognitiven oder intellektuellen Leistungen und fasst beide als psychische Funktionen oder Strukturen zusammen. Wir sagen besser: Es sind Vermögen zu ganz bestimmten Vorgängen.
Klages beschreibt diese Vorgänge wie folgt: "Der aufnehmende Vorgang des Leibes ist die Berührungsempfindung, der ausführende die Triebantriebsbewegung, der aufnehmende der Seele die Schauung, der ausführende die Gestaltung, der aufnehmende des Geistes die abstrahierende Auffassung, der ausführende die Willkürbewegung."
Der Psychologe sieht nicht die Seele
Den Leib können wir sehen, Seele und Geist jedoch nicht. Wäre dies ein Beweis dafür, dass es sie nicht gibt? Tatsächlich hat vor hundert Jahren der grosse Anatom und Pathologe Rudolf Virchow gesagt, er habe so viele Leichen seziert und niemals dabei eine Seele gesehen. Dem kann man entgegenhalten, dass noch Ende des letzten Jahrhunderts der Physiker Ernst Mach behauptete, er habe noch nie ein Atom gesehen, also gebe es keine Atome.Mit dem Sehen ist es also nicht so einfach. Wer hat denn schon ein meteorologisches Tief gesehen, wer Verantwortlichkeit und Kompetenzen, wer die Liebe, den Hass, den Schmerz? Und doch gibt es sie! Sie bestimmen unser Befinden, unsere Gefühle und unser Verhalten.
Immerhin wird damit die Schwierigkeit des Psychologen deutlich. Was er sehen kann, ist das "Verhalten" von Menschen oder sind Ergebnisse von solchem. Er beobachtet, was die Menschen tun, eine Handlung, einen Gesichtsausdruck, eine Geste, oder er analysiert, was jemand niedergeschrieben oder angekreuzt hat. Er sieht aber noch mehr: Gemälde, Skulpturen, Bauwerke, Maschinen usw., die alle von Menschen geschaffen sind.
Nun ist der Mensch aber auch noch ein sprechendes und hörendes Wesen. Er klagt dem Arzt seine Beschwerden, dem Nachbarn seine Nöte, der Familie seinen Ärger im Geschäft. Er versucht mitzuteilen, entweder, was ihn selber bewegt, oder wie er andere Menschen beurteilt.
All dies ist der gewissermassen vordergründige Gegenstand der Psychologie. Sie steht somit vor der Schwierigkeit, von Handlungen und Ausdruck, mündlichen, schriftlichen oder bildnerischen Äusserungen auf das Innenleben eines Mitmenschen zu schliessen, sei dieser nun leibhaftig gegenwärtig oder sei von ihm nur die Rede. Über die Reichhaltigkeit dieses Innenlebens muss ich keine Worte verlieren.
Und nun stelle man sich einmal vor, was z. B. die Testpsychologie für vermessene Ansprüche stellt. Anhand einiger ausgefüllter Blätter will sie auf Fähigkeiten oder Unfähigkeiten schliessen, charakterliche Eigenarten entdecken, Antriebsschwächen und psychische Unausgeglichenheit feststellen.
Da ist doch einige Vorsicht geboten. Dasselbe gilt für Fragebogen und Interviews in der Meinungs- oder Motivforschung, aber auch für Beobachtungen und Messungen im Labor.
Warum bin ich nicht Psychologe geworden?
Ich komme zurück auf meinen Ausbildungsgang. Als ich meine Arbeit über Klages' "Geist als Widersacher der Seele" abgeschlossen hatte, warum bin ich da nicht Psychologe geworden?
Das hat zwei Gründe: Zum einen hatte ich mich logischerweise gar nicht nach einer Stelle in einer Schule, einem Betrieb oder Spital umgesehen, zum andern fühlte ich mich noch gar nicht als Psychologe, empfand meine Ausbildung als völlig ungenügend.
Ich hätte aber doch eine psychologische Praxis eröffnen können. Dem stand jedoch neben dem ungenügenden Wissen noch ein weiteres entgegen. Ich fragte mich: Wie kann ich mit 26 Jahren Menschen, die meine Eltern sein könnten, die Entbehrungen und Unglücke erlebt haben, mit dem Ehepartner oder Vorgesetzten, mit Kindern oder dem eigenen Altwerden oder Ungenügen nicht fertig werden, ehrlich und ernsthaft helfen?
Ich war immer noch ein Suchender.
Es braucht also zum Psychologen nebst Fachwissen noch etwas anderes: menschliche Reife, Verständnis für den Menschen, ja Liebe zum Menschen, und drittens: Menschenkenntnis. Diese aber kann man nicht lernen, sondern muss sie üben.
Das gilt für jeden Psychologen, sei er nun beratend oder behandelnd tätig oder sei er Forscher.
Forschung in den Seelentiefen?
Forscher wollte ich schon immer werden. Mein erster Bubentraum war, ein Naturforscher wie Nansen oder Scott zu sein. Offenbar lag mir ein Erforschen des Unbekannten, ein Vorstoss an die Grenzen des Wissens. Ich wäre also nach dem Studium am liebsten forschend tätig gewesen. Doch bot sich keine Möglichkeit, dies in einer Institution zu tun
Es wäre mir ein weiterer Weg offen gestanden: die Tiefenpsychologie, ist sie doch Forschung, Anwendung und Theorie zugleich.
Das geschieht vor allem in einer sogenannten "Lehranalyse" sowie in einer Ausbildung in Psychotherapie, also Seelenheilkunde.
Was alle die unterschiedlichen Richtungen (Freud, Jung, Adler, Szondi, Boss) kennzeichnet ist, dass sie von Ärzten, resp. Psychiatern begründet wurden -und ein Psychiater ist nichts anderes als ein vollständig ausgebildeter Mediziner, der ganz spezifisch noch in Psychopathologie und medizinischer Psychologie ausgebildet ist, und anderseits, dass sie sich vorwiegend mit dem sogenannten Unbewussten oder Unterbewusstsein des Menschen befassen.
Als Unbewusstes fasst man diejenigen Faktoren zusammen, die dem Menschen normalerweise nicht bewusst sind oder überhaupt nicht zum Bewusstsein gebracht werden können.
Der Schlüssel dazu liegt bei den Träumen. Freud hat sie deshalb als "via regio", als Königsweg, zum Unbewussten bezeichnet. Fast ein Jahr lang schrieb ich tatsächlich alle meine Träume auf, dann fand ich, es gebe wichtigere Probleme im Alltag, unter Menschen zu beachten, zu untersuchen und vor allem, zu lösen zu versuchen.
Damit hängt eine weitere Devise zusammen, die uns Erich Brock zu bedenken gegeben hat: "Nehmen Sie Ihre Seele nicht zu ernst!" Das heisst, leihen Sie sehr wohl ihrer inneren Stimme Ihr Ohr, achten Sie auf Ihre Ahnungen und Einfälle, Ihre Gefühle und Stimmungen, aber trauen Sie ihnen nicht blindlings. Prüfen Sie sie an den Rechten, Pflichten und Bedingungen der Realität, an der Erfahrung anderer Menschen. Und genau dies wäre das fruchtbare Zusammenspiel von Seele und Geist im Klagesschen Sinne.
Das Rationale soll die Gefühle überwachen, aber nicht unterdrücken; das Gemüt soll den Verstand leiten, aber nicht vernebeln. Klages’ Ideal ist das „lebengeleitete Denken“, und mancher Künstler strebt nach der „Einheit von Sinnlichkeit und Abstraktion“.
Eine Lehranalyse wäre nun eine Erforschung der Seele auf direkte Weise. Am Leitfaden von Träumen sowie den Gedanken und Bildern, die einem dazu - am Tag - einfallen, sogenannten Assoziationen (nach Freud) oder Amplifikationen (nach Jung), steigt man gewissermassen in die dunklen und unheimlichen Abgründe seiner selbst, ja der ganzen Menschheitsgeschichte.
C. G. Jung meinte: "Wir tragen unsere Vergangenheit mit uns, nämlich den primitiven und inferioren Menschen mit seinen Begehrlichkeiten und Emotionen, und wir können uns von dieser Last nur durch eine beträchtliche Anstrengung befreien."
Eine Lehranalyse dauert mehrere Jahre und ist eine harte Arbeit. Deshalb geben die meisten unterwegs auf. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Zweitens betrachtete ich mich als völlig gesunde und unkomplizierte Person. Das wollte ich nicht aufs Spiel setzen. Lieber wollte ich den uralten Weltdeutungen, wie sie Mythologie und Alchemie über Jahrtausende bewahrt haben, auf dem Weg des Rationalen nachspüren.
Von Kybernetik und Mythologie zum Sozialen
So ging meine Entwicklung wie folgt weiter: Ich hatte ja schon seit Beginn meiner Gymnasiastenzeit für Zeitungen geschrieben gehabt. Daher konnte ich nach der Promotion in eine Redaktion eintreten und unter anderem zahlreiche Bücher mit religiöser und sozialer Thematik, aber auch aus Verhaltensforschung, insbesondere über Aggression und Krieg, rezensieren.
Als die Redaktionsspitze abrupt entlassen wurde, solidarisierte ich mich mit ihr, und es begann auch für mich eine erneute Zeit des Suchens. Fortan widmete ich jeweils ein halbes Jahr dem Selbststudium und dann ein halbes Jahr dem Broterwerb. Einige Zeit musste ich mich mit Lernpsychologie, Betriebswissenschaft und Managementfragen befassen, wobei ich die Systemtheorie entdeckte.
Nun geschah das Seltsame: Ich arbeitete mich in die Kybernetik und Informationstheorie ein, anderseits begann ich den frühesten Deutungen der Welt und des Menschen in den ägyptischen, indischen und babylonischen Mythologien nachzuforschen und ihr Fortleben im Alten Testament zu verfolgen. Ich wollte die Wurzeln des menschlichen Nachdenkens über die Welt, Gott und den Menschen blosslegen.
Auf die Dauer war auf diese Weise natürlich kein Auskommen zu finden. Wie durch ein Wunder bot sich mir aber nach dem dritten autodidaktischen Jahr etwas an, bei dem ich hart zupackte: Das war nun ausgerechnet Forschung, und zwar empirische Sozialforschung.
Es geschah mir also dasselbe, wie der Psychologie selbst: Erst mit der Zeit wurden "wir" gewahr, dass der Mensch nicht nur ein isoliert lebendes Wesen ist, sondern in eine Gemeinschaft eingebettet, durch die er geprägt wird und die er selbst mitgestaltet. In der Betriebspsychologie geschah diese Entdeckung um 1930; in der sog. Gestaltpsychologie entstand die Gruppendynamik, woraus sich die heute so aktuelle Gruppen- und Familientherapie, Sensitivity und Creativity Training entwickelten. Schliesslich entdeckte auch die Psychiatrie das Soziale, und zwar als "die" Gesellschaft, welche vom Menschen unauffälliges, "normales" Verhalten fordert. Damit gerät die Psychiatrie freilich oft in die Nähe der Soziologie und gar in den Sog von Theorien und Gesellschaftskritik marxistischer Färbung.
Am Institut für Verhaltenswissenschaft der ETH durfte ich also ein Projekt der Sozialpsychologie ausführen. Dabei, und bei einer späteren Arbeit am Kinderspital, sah ich: Viele psychologische Forschungen werden gar nicht von ausgebildeten Psychologen betrieben, so wie viele Tests oder Meinungsumfragen gar nicht von Sachbearbeitern mit psychologischem Spürsinn und statistischem Feingefühl ausgewertet werden.
Deshalb möchte ich meinen bisherigen zwei Devisen - "bleib dir selber treu", aber "traue deiner Seele nicht all zu sehr" -eine dritte anfügen: "Traue den Psychologen nicht all zu sehr". Gewiss gibt es viele seriös ausgebildete Fachleute, aber sie sind schwer zu finden.
So greift man zu Büchern. Auch da ist es schwierig, die Spreu vom Weizen zu trennen, sind doch die "grossen" Werke für den Laien meist gar nicht verständlich, weil es Fachbücher sind, und was man jedenfalls durch Lesen nicht erwirbt, ist Selbsterkenntnis.
Den Menschen ernst nehmen
"Was soll man denn ernst nehmen?“ Die Antwort ist einfach: Wenn man weder sich selbst noch die Psychologen und die psychologische Literatur ernst nehmen soll, dann bleibt der Mitmensch. Man kann ja sich selbst nur in der Auseinandersetzung und Gemeinschaft mit andern Menschen erfahren. Daher liegt in den sog. "Selbsterfahrungsgruppen" ein richtiger Kern.
Eines ist zu bedenken: Man kann sich am besten mit und durch Menschen erfahren und erkennen, die man kennt, die einem im positiven - oder auch negativen - Sinn nahestehen.
Ich finde und sage es ganz deutlich, erstens: Man darf nicht mit der Seele, sei es die eigene oder diejenige anderer Menschen, spielen, und zweitens: Man sollte mehr auf die eigene Kraft und Ausdauer, auf die Selbstheilungskraft der Familie und die menschenbildende Förderung in der selbstgewählten Gruppe vertrauen. Im Vertrauten kann man Stärke gewinnen. In diesem Kreise nur kann Böses gebannt, können Fährnisse erfolgreich bestanden, können Zweifel überwunden werden, und wenn es auch einige Zeit dauert: Wenn Psychologie ein hohes Ziel haben müsste, dann ist das: Hilfe zur Selbsthilfe. Und dies kann nur in der Liebe zum Menschen geschehen.
Meine Werkstatt ist die ganze Welt
Erstaunt es nach alledem, dass ich jetzt [1978] in einer Computerfirma arbeite? Wichtig ist für mich, dass ich in einer zentralen Abteilung beschäftigt bin, die mir Einblicke in eine Weltfirma verschafft, die ich auf keine andere Weise erhalten würde. In dieser Arbeit gewinne ich Erfahrungen, die mir bislang noch fehlten.
So bin ich zwar immer noch ein Suchender, aber mein Welt- und Menschenbild soll und wird sich auf neue Weise runden. Ich werde mich mit der Struktur und Führung eines Grossunternehmens auseinandersetzen und beobachten, wie der Mensch sich darin verhält.
Das ist Sozialpsychologie am eigenen Leib erlebt.
Wenn ich nun sage, ich sei zwar nicht mehr in meinem Beruf tätig, aber immer noch ein Psychologe, so stimmt das nicht ganz. Was habe ich denn stets getan? Ich habe die Umwege zu Hauptwegen gemacht: Wie beim Autofahren muss man die Umleitung geniessen und sich an dem erfreuen, was es da zu sehen gibt.
Ich forsche also im Feld, im Leben. Damit ist meine Werkstatt die ganze Welt mit ihren psychologischen und sozialen, aber auch technischen und wirtschaftlichen Verhältnissen geworden.
Der Weg ist mir vorderhand klar vorgezeichnet - nämlich möglichst viel zu lernen -, und den Willen dazu habe ich mir ungebrochen erhalten. Und das heisst nichts anderes: Man muss aus seinem Schicksal, den Zufällen und Verhältnissen das Beste machen. Man darf nicht verzagen, wenn es nicht so läuft, wie man gerne möchte.
Man muss die früheren Ambitionen in neue Aufgaben ummünzen. Der in jedem Menschen schlummernde Quell lebendiger Energie hilft einem dabei, im Verein mit der Familie und der Gruppe. So bleibt man im gemeinschaftlichen Lernen und Reifen sich selber treu.
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