Home Von Zeremonien im allgemeinen und der Aufnahmezeremonie im speziellen

 

 

Der Freymäurer.

 

Seiten 209-216

 

Das XXVII Stück.

 

Leipzig, Sonnabends, den 5. Jul. 1738.

 

 

[vorweg ein kurzer Auszug aus dem siebenten Stück,

Leipzig Sonnabends, den 15. Hornung 1738:

Seiten 50-51:

 

… Weil ich itzt der Nachricht erwähnet, die man von uns in den Zeitungen gegeben: So muß ich meinen Lesern melden, daß solche weder durch die List einer Operistinn herausgebracht worden, noch der Wahrheit gemäß sey. Man findet eben dasselbe in einem englischen Buche, the Massonry dissected, d. i. die zergliederte Freymäurerschaft genannt, wenn ich so sagen darf. Das Buch war 1735 schon zum fünften male in London aufgelegt, und ist so dunkel, zweydeutig und ungewiß geschrieben, und so voller Ausschweifungen und Fehler wider die Historie, daß auch Leute, die uns nicht angehören, daraus schließen, man dürfe diesem Buche nicht trauen. Wer davon überzeugt seyn will, der kann den 4. Th. von den zum Gottesdienste gehörigen Gebräuchen der ganzen Welt, auf der 251. und 252. S. ]?] nachsehen.

Man müßte auch unsere Brüder nicht kennen, wenn man sich einbilden wollte, daß sie an solchen Possen einen Gefallen hätten und sie ausübten. Ich werde zu seiner Zeit vernünftigere Gebräuche unter uns entdecken.]

 

 

            Non haec solennia nobis

Vana superstitio

 

Virgil.

 

Man wird sichs vielleicht noch wohl erinnern, daß ich in meinem siebenten Blatte versprochen habe, dereinsten die Gebräuche zu entdecken, die wir bey der Aufnahme eines neuen Mitbruders beobachten. Ich erfreue mich dahero, daß ich heute solches ins Werk richten kann, nachdem wir in vergangener Woche einen neuen Bruder bekommen haben, da wir eben eine von unsern Hauptversammlungen gehalten. Es sind derselben jährlich viere, als in der Neujahrswoche, in der Osterwoche, in der Johannis- und in der Michaeliswoche.

 

Unser junger Freymäurer ist ein Arzneyverständiger, und ich behalte mir vor, künftig seinen vollständigen Character zu machen; wie ich denn auch die Beschreibung unserer Loge in ein anderes Blatt verspare. Hier werde ich bloß von den vorgefallenen Gebräuchen reden. Doch ehe ich meine Erzählung anfange: So wird mir erlaubt seyn, von den Gebräuchen oder Ceremonien überhaupt etwas zu sagen.

 

 

Man begreift unter dieses Wort alles äußerliche Wesen, welches bey gewissen Handlungen beobachtet wird. Es erstrecket sich die Bedeutung desselben auf alle und jede Gebräuche, die nur etwa vorkommen mögen: Alles wird dahin gezogen, was man unter andern bey den Worten und Reden, bey der Stellung und Bewegung des Leibes, bey den Geberden, bey dem Gehen. Sitzen, Stehen, zur Rechten oder zur Linken, voran oder hinteran, bey der Kleidung, in frölichen oder traurigen Begebenheiten, in Acht nehmen muß. Es pflegt aber dieses äußerliche Gepränge nach besondern Regeln eingerichtet zu seyn. Diese hat entweder eine hergebrachte Gewohnheit, und der davon abhängige Wohlstand, oder das Gutbefinden der dabey vorkommenden Hauptpersonen, oder sonst eines andern Vorschrift festgesetzt, um dadurch einer Sache oder Verrichtung ein größeres Ansehn, und ein desto besser Geschicke zu geben; wiewohl dieses eigentlich nicht die rechte Absicht der Ceremonien ist, wie wir hernach sehen werden.

 

Wir wissen aus der Geschichte, daß in allen Ländern, zu allen Zeiten, und bey allen Völkern, wie roh und ungeschlacht sie auch immer gewesen seyn mögen, gewisse Ceremonien, in ihrem Gottesdienste, in ihren Regimentssachen, bey ihren Heyrathen, Geburthen und Begräbnissen, üblich gewesen sind. Sie sind so mannigfaltig und voneinander so unterschieden, daß man uns ganze Folianten davon hat schreiben, und sie doch nicht alle ausführlich erzählen können. Ein jedes Land, ja fast eine jede Stadt hat bey einerley Sache ganz veränderte und ihre eigene Gebräuche. Es ist solches so bekannt, daß ich kein Exempel davon anzuführen brauche.

Man kann aber dabey wahrnehmen, je einfältiger und unwissender ein Volk ist, desto mehr klebet es an Gebräuchen, und desto überflüßiger ist es damit versehen. Gemeiniglich sind solche vernünftigen Augen noch dazu lächerlich. Wo aber der Gebrauch der gesunden Vernunft überhand genommen hat, da ziehen sich die Gebräuche auch ziemlich ein, und die etwa noch beybehalten werden, haben alle ihre bestimmte Bedeutung, und sind so beschaffen, daß sie die Handlung nicht nur zieren und verherrlichen, sondern auch erklären, und deutlicher machen helfen.

 

Ich mag mich hier nicht in die Untersuchung einlassen, wenn und wo die Gebräuche ihren Ursprung genommen haben. Es ist wohl gewiß, daß man gleich in den ersten Jahren der Welt einige gehabt hat. Wir lesen vom Cain und Abel, daß sie, bey ihrer Verehrung Gottes, geopfert haben. Ist dieses etwas anders, als eine Ceremonie?

 

Es fraget sich aber, wie man darauf habe fallen können, daß man bey den wichtigsten und vornehmsten Handlungen unsers Lebens besondere Gebräuche habe zu beobachten pflegen. Hier darf man nur auf sich selbst Achtung geben, wenn man den ersten Anlaß zu den Gebräuchen und die Qvelle der Ceremonien wissen will. Das menschliche Gemüth ist so geartet, daß es sich, durch sinnliche Vorstellungen, am meisten einnehmen läßt. Wenige Menschen sind zu einem scharfen Nachsinnen fähig, und die auch darinnen geübet sind, können doch niemals so weit kommen, daß sie ihren Sinnen ganz und gar nicht verstärken, einen Eindruck in ihr Gemüthe zu machen.

Man kann niemals so sehr in sich selbst gehen, daß uns das äußerliche gar nicht mehr rühren sollte. Allein gesetzt, daß es auch einige sehr wenige könnten: So wird doch der größte Haufe noch allezeit den Sinnen und der Einbildungskraft nachhängen. Die bündigsten Vernunftschlüsse werden nicht so viel Wirkung bey ihm haben, als ein Gegenstand, der ihm in die Sinne fällt.

 

Brutus hatte sich bey dem römischen Volke, wegen der Ermordung Cäsars, schon gerechtfertiget, ja durch seine Rede das Volk gewonnen: Allein der blutige Rock des hingerichteten Cäsars, den Antonius vor ihn brachte, hatte weit mehr Nachdruck und konnte das Volk auf ganz andere Gedanken bringen.

Diese Schwachheit nun, wenn ich es so nennen darf, daß wir gar zu sehr an den Sinnen kleben, ist die Erfinderinn der Gebräuche, oder wenigstens die Gelegenheit darzu gewesen. Das gemeine Volk fiel selbst darauf, damit es etwas vor sich hätte, wodurch es seine Einbildungskraft erregen könnte; wie wir uns noch täglich gewisse Zeichen machen, wobey wir uns einer Sache erinnern wollen.

 

Diejenigen, die über das Volk herrschten, oder es in den Lehren der Weisheit und Religion unterrichteten, beqvemten sich hierinnen nach ihm. Sie stellten seinen Sinnen solche Gegenstände vor, die sie für geschickt hielten, es auf die Gedanken zu bringen, die es haben sollte. Wenn sie also das Volk auf die Hoheit ihrer Person aufmerksam machen, und sich ein Ansehen erwerben wollten: So glaubten sie solches am ersten zu erreichen, wenn sie sich in prächtiger und besonderer Kleidung sehen liessen.

Die Ceremonien sind daher eigentlich nichts anders, als sinnliche Zeichen und Merkmaale von einer Sache, deren wir uns bey gewissen Gelegenheiten erinnern, und woran wir bey einem Vorhaben gedenken sollen. Die Congianer haben z. E. in Gewohnheit, daß sie ihren neuerwählten König, wenn er sich in den Pallast begiebt, mit Staub und Asche bestreuen. Dieses ist nun wohl nichts anders, als ein Zeichen der Vergänglichkeit und Nichtigkeit, woran der Fürst bey seiner Herrlichkeit gedenken soll.

 

Aus dieser Erklärung läßt sich denn leicht die wahre Absicht aller Ceremonien erkennen, und man kann auch daraus beurtheilen, ob sie tauglich oder verwerflich sind. Ihr eigentlicher Endzweck kann wohl auf nichts anders gehen, als daß man, vermittelst dieser äußerlichen Dinge, die Seele zu gewissen Wirkungen bewege, daß man in ihr höhere Gedanken hervorbringe, daß man sie auf das wahre Wesen der Handlung aufmerksam mache, wovon die Ceremonie nur eine Abbildung ist; oder daß man in ihr gewisse Regungen erwecke, und ihr zur Ehrerbietung, Freude, Liebe, Traurigkeit u. d. gl. Anlaß gebe.

 

Wenn nun eine Ceremonie so beschaffen ist, daß sie uns auf solche Gedanken bringen kann, die uns zu der Zeit vielleicht nicht so gleich einfallen würden, die aber dennoch nöthig sind, daß wir sie haben: So ist sie gut und nützlich. Wir müssen dabey untersuchen, was sie für eine Bedeutung hat, und ob sich die Bedeutung zu dieser Sache schicke oder nicht. Ist das erstere: So ist die Ceremonie vernünftig; schickt sie sich aber zu der vorhabenden Sache nicht: So ist sie unvernünftig.

 

Wir wissen, daß wir niemals anfangen zu gedenken, wenn wir nicht vorhero durch eine sinnliche Empfindung auf eine Sache gebracht worden. Die Sinne müssen erst ein Bild in die Seele drücken, ehe sie auf Gedanken kommen kann. Hat sie aber nur erst ein einziges Bild erhalten: So ist ihre Einbildungskraft schon fähig, viel tausend andere damit zu verbinden. Wollen wir also bey gewissen Handlungen, die zuweilen an sich selbst nicht so beschaffen sind, daß sie uns gleich auf die Gedanken bringen können, die wir dabey haben sollen, dennoch an etwas gedenken, daß hieher gehöret: So müssen wir die Sinne durch etwas einnehmen, welches die Gedanken erregen kann, die bey diesem Vorhaben nöthig sind. Die Sinne würden uns zuweilen auf ganz fremde Dinge führen, und unser Gemüth mit solchen Vorstellungen anfüllen, die von der gegenwärtigen Verrichtung weit entfernt wären, wenn wir sie nicht, durch die dabey beobachtete Ceremonie, gleichsam nöthigten, diese und keine andere Vorstellungen in uns zu erwecken.

 

 

Nunmehro können meine Leser in dem Stande seyn, die Gebräuche der Freymäurer, bey der Aufnahme eines neuen Bruders, zu beurtheilen. Sie dürfen nur überlegen, was diejenigen Personen für Gedanken führen, die bey dieser Handlung zugegen sind, und zu was für Verrichtungen sie dadurch können veranlasset werden, oder was sie dabey vornehmen sollen. Finden sie nun, daß dasjenige geschieht, wodurch dergleichen Gedanken, die sie haben sollen, am füglichsten erregt werden: So werden sie gestehen, daß diese Ceremonien gut und vernünftig sind.

 

Ich würde diesen Unterricht von den Ceremonien, und wie man sie beurtheilen soll, nicht gegeben haben, wenn wir diejenigen Gebräuche beobachteten, die man vor einiger Zeit von uns in die Zeitungen gesetzt hat. Man würde dieselben bald für unnütz erklären, und sehen, daß sie nichts, als ein bloßes Spielwerk sind, daß sie gar auf Thorheit hinauslaufen, und das Gemüth mehr von der vorhabenden Sache abziehen, als aufmerksam darauf machen.

Eine vernünftige Ceremonie muß auch dem Wohlstände gemäß seyn. Was für ein Wohlstand aber ist das, wenn man den einen Schuh, wie einen Pantoffel, eintreten und das Knie entblößen muß? Und zu was für nöthigen Gedanken kann das auf dem Fußboden gezeichnete Dreyeck, und die in solche Figur gestellten Lichter Anlaß geben? Was für Spielwerk ist es nicht, wenn man einen durch Harz schrecken will, welches durch ein Licht geblasen wird?

 

Doch ich will hier nicht das Ungereimte entdecken, welches in den vorgegebenen Gebräuchen vorkömmt, sondern nur erzählen, wie es wirklich bey uns zugeht.

 

Derjenige, der unter uns ausgenommen werden will, muß sich erstlich durch einen Mitbruder, der ihn kennet, bekannt machen lassen. Mentor meldete dießmal unsern neuen Bruder an. Er erzählete uns dessen gute Eigenschaften, und stellte uns sonderlich dessen reine Tugendliebe auf eine nachdrückliche Art vor.

Der Meister bedankte sich hierauf gegen ihn für seinen erwiesenen Eifer, der Gesellschaft geschickte Personen zuzuführen. Er befahl uns aber dabey, uns nach den Lebensumständen der gemeldeten Person zu erkundigen, und zwar ein jeder für sich, so viel es ihm möglich wäre, weil Freunde jederzeit das Beste voneinander zu reden pflegen, und die Fehler und Mängel zuweilen nicht sehen oder nicht sehen wollen.

 

Als nun acht Tage nach dieser geschehenen Anmeldung ein jeder dasjenige aufrichtig erzählte, was er von seinem Wandel erfahren harte, und man darinnen nichts fand, welches ihn zu unserm Mitbruder untüchtig machen konnte: So wurde Mentorn der Tag bestimmt an welchem er denselben darstellen sollte. Der Candidat erschien; er mußte aber so lange im Vorsaale bleiben, bis sich die Brüderschaft versammlet hatte. Weil man nun von der Redlichkeit seiner Absicht überführt war, und Mentor uns solche noch einmal bekräftigte: So mußte er ihn, in Begleitung des jüngsten Mitbruders, herein holen.

 

So bald er ins Zimmer trat, stunden die Mitbrüder und der Meister selbst auf, um ihm ihre Hochachtung zu bezeugen. Hierauf ersuchte ihn der Meister, die rechte Hand aufs Herz zu legen, und solche solange also zu halten, als die ganze Ceremonie dauren würde, damit die Versammlung daran ein sinnliches Merkmaal hätte, daß alles aus Grunde des Herzens käme, was er sagen würde. Wir blieben alle aufgerichtet stehen; und nachdem wir gleichfalls unsere Hände aufs Herz gelegt hatten: So fing der Meister mit vernehmlicher Stimme an:

Haltet die Rucklosen zurück, und verschliesset den Eingang vor ihnen.

Hiermit trat ein Bruder an die Thüre, welchem der Meister einen entblößten Degen mit diesen Worten einhändigte:

zum Schrecken und zur Strafe der Laster?

Nach einem kleinen Stillschweigen fing er wiederum an:

„Laßt uns die Tugend verehren, wo wir sie finden! Laßt uns ihre Diener hoch halten, in welchem Lande wir sie antreffen? Laßt uns den Sokrates, Xenophon, Epiktet, Seneca, Antonin u. den Confucius preisen! Laßt uns ihr Gutes annehmen und ihnen nachahmen! Wir wollen der Ermahnung des großen Cato folgen, und uns bestreben, gesund, freudig und vergnügt zu seyn.“

 

Hierauf sprach der älteste Bruder:

„Laßt uns die Sitten des güldenen Weltalters zurück bringen! Laßt uns die Gleichheit beobachten, und einander als Brüder ansehen? Laßt uns als wahre Freunde mit einander leben. Keiner verlaße oder verachte den andern, sondern helfe ihm, wo er weis und kann, und sorge auch für seine Nachkommen.“

 

Wir beantworteten solches insgesamt mit den Worten:

Das soll geschehen!

 

Nach diesem wendete sich der Meister zu dem Candidaten und fragte ihn:

„So sind sie denn entschlossen, der Tugend und der Wahrheit nachzugehen? Wollen sie sich von den Irrthümern und den Vorurtheilen des Pöbels losreissen? Lieben sie die wahrhafte Freyheit, und erklären sie sich für einen geschwornen Feind der Lügen und Laster, und ihrer Tyranney? Bedenken sie sich wohl. Die Unternehmung ist schwer.“

 

Der neu angehende Freymäurer beantwortete dieses ungefähr so:

„Ja ich kündige hiermit den Lastern den Krieg an, und trete bloß deswegen zu ihnen, damit sie mir durch ihre Weisheit hülfliche Hand, in Bestreitung derselben, leisten. Sie werden mir Unterricht geben, die Irrthümer zu besiegen, welches unsere grausamsten Tyrannen sind.“

 

Nicht wir, fiel ihm darauf ein Bruder in die Rede, sondern die Weisheit wird solches thun.

„Wir wollen sie auf dem Wege der Tugend begleiten, und uns mit gemeinschaftlicher Hand den Tempel der Glückseligkeit erbauen.“

Der Meister setzte hierbey hinzu:

Das kann geschehen.

 

Hiermit setzten wir uns nieder. Ich aber überreichte dem Candidaten das Schurzfell, die weisse Mütze, und die Handschuh für sich und seine künftige Geliebte.

„Man erinnert sie“, waren dabey meine Worte, „diese Frauenzimmerhandschuh einer solchen Person zuzustellen, die ihr Herz durch ihre Tugend gewinnen wird. Ungeachtet wir kein Frauenzimmer in unserer Versammlung haben: So sind sie doch verbunden, auch an deren Glückseligkeit zu arbeiten, weil ein Theil der Unsrigen davon abhängt.“

 

Nach diesem führte ich ihn zu dem Lehnstuhle des Meisters, wo er die Mauerkelle empfing und solche küsste.

Indem ihm der Meister solche überreichte, redete er auf folgende Art zu ihm.

 

„Sie werden nunmehro unser Mitbruder, und wir werden sie von nun an dafür halten. Nimm denn dieses Werkzeug von uns zur Erinnerung, daß du ohne Unterlaß arbeiten müssest, den Tempel deiner Glückseligkeit zu bauen. Du wirst ihn auf die wahre Tugend gründen müssen, wenn er bestehen soll. Sie ist ein unbeweglicher Fels, und du kannst dein Gebäude auf ihm bis an den Himmel hinaufführen. Je höher du es bringen wirst, desto angenehmer wirst du der unendlichen Weisheit seyn.

Fürchte dich nicht, daß dich ein Schwindel überfallen, und von deiner Höhe herabstürzen werde; wenn du nicht selbst wieder begierig herabeilen, die Spitze für gefährlich halten, und sie verlaßen willst.

Die vollkommne Weisheit wird dir aus ihrem ewigen Sitze die Hand reichen, um dich auf ihren Schooß zu setzen, wenn du deinen Bau zu Ende gebracht hast. Du wirst wohl dabey die sinnlichen Wollüste, die ungereimten Gewohnheiten der Menschen, welche Natur, Vernunft, Religion und alles, was heilig ist, unter  die Füsse treten, und die Laster, als einen Schutt, zuerst aus dem Wege räumen müssen.

Allein erschrick vor dieser Arbeit nur nicht. Ist sie gleich im Anfänge schwer: So wird sie dir doch immer leichter werden. Laß dich auch von deinem Baue nicht abhalten, noch vielweniger verleiten, ihn wieder niederzureissen, wenn er dir anfangs nicht gar zu prächtig oder glänzend vorkommen wird.

Du wirst freylich um dich und neben dir Leute beschäfftiget sehn, die dem Glücke mit erstaunlicher Pracht Tempel aufrichten. Diese können dir leicht von aussen herrlicher und besser vorkommen. Allein dein Bau wird doch weit gründlichere und dauerhaftere Schönheiten haben. Du wirst ihn nach den unbeweglichen Regeln der Natur aufführen, und was darnach eingerichtet ist, das wird und bleibt allezeit vollkommen.

Der Grund, worauf jene bauen, ist so schlecht beschaffen, daß ihr Gebäude von dem geringsten Winde erschüttert, und von denen Stürmen, welche Haß, Neid, und andere Leidenschaften erregen, umgeworfen wird. Es ist nur ein bloßer Anstrich, was daran so prächtig scheint, und die Zeit wird solchen schon nach und nach abwischen, da du denn eine elende Hütte, anstatt des stolzen Pallasts, erblicken wirst.

Unser Gebäude aber wird allen Zeiten Trotz bieten können, ja von Tage zu Tage schöner werden, je mehr wir daran arbeiten.“

 

Nach diesen Worten umarmte er ihn, küßte ihn dreymal, nennte ihm den Großmeister der Gesellschaft, dessen Namen der neue Mitbruder mit einem Wunsche für dessen glückliches und langes Leben wiederholete. Darauf brachte ich ihn zu den andern Stühlen, wo er einem jeden die Hand gab, ihn auf die Brust küßte und auf gleiche Art einen Kuß von ihm bekam, um dadurch anzudeuten, daß diese Vereinigung von Herzen gehe.

 

Wie dieses vorbey war und der neue Freymäurer seinen Platz eingenommen hatte: So wurde ein silberner und übergüldeter Becher, wie ein Herz gestaltet, auf den Tisch gesetzt. Er war von erhabener Arbeit, und die Zierrathen daran stellten den Herkules auf dem Scheidewege vor, wie er der Tugend die Hand gab, und die Wollust von sich wies.

Nachdem dieser Becher mit Wein angefüllet worden, trank der Meister zuerst, und überreichte ihn dem zu seiner Linken sitzenden Mitbruder. Dieser gab ihn den andern bis er zu dem neuen Mitbruder kam. So oft einer trank, gaben wir einander kreuzweis die Hände, so daß um den ganzen Tisch herum gleichsam eine Kette gezogen wurde, zum Zeichen unserer festen und unauflöslichen Freundschaft.

 

Als der neue Freymäurer den Becher bekam, hielt er die Mauerkelle in der rechten Hand und sagte:

„Wie dieser Becher die Gestalt eines Herzens hat: So sehe ich den darinnen befindlichen Wein, als das Sinnbild meines Blutes an.

Ich versiegele damit meinen ernstlichen Vorsatz, beständig und eifrig an derjenigen Glückseligkeit zu arbeiten, wozu ich gebohren bin.

Ich bekräftige hiermit den Entschluß, allen den Reizungen zu widerstehen, womit mich andere Geschöpfe von meinen Bemühungen abzuziehen suchen möchten.“

 

Wir sprachen darauf einmüthig:

Die Weisheit zeige sich dir nur in ihrem rechten Glanze: So wirst du deinen Vorsatz niemals fahren laßen.

 

Dabey gaben wir ihm allesamt die Hand, wünschten ihm Glück, entdeckten ihm die Ursachen unserer Verschwiegenheit, und er gelobte an, alles zu beobachten, was von einem rechtschaffenen Freymäurer erfordert würde.

 

W.

 


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