Tahiti Nui (Gesellschaftsinseln)

 

14.2.

Vier gegensätzliche Empfindungen gestern Abend.:

1 Um 21 Uhr war niemand ausser mir in der Karibik Lounge. Anatoli spielte allein für mich. Das schätze ich ja auch zu Hause, wenn Luciano, Csilla, Nancy oder Kamuran für mich allein spielen.

Leider spielte er nach einem kurzen Auftritt am Abschiedsabend zwei Decks tiefer Gospels in grässlicher Bearbeitung.

2. Es häuft sich: Kaum habe ich zwei Sätze zu andern Gästen geäussert, fragen diese: Woher aus der Schweiz kommen Sie?

Spreche ich heute wirklich ein derartig schauriges Schriftdeutsch?

3. Schon beim Nachtessen mit bloss etwa einem Dutzend anderer Gäste auf dem Lidodeck sprach mich ein Mann auf meine Locken an und meinte, solche Wellen hätte er auch gerne. Er war weitgehend kahl.

Soll ich jetzt den Zopf weiter wachsen lassen?

4. Dass ein Schnupfen mehr als eine Woche trotz Antibiotika anhält, hätte ich nicht gedacht. Aber vielleicht haben sie Schlimmeres, wie Fieber, Schüttelfrost und Schwindel, verhindert.

Nach dem Nachtessen verabschiedete sich ein Gast von mir mit den Worten: wir könnten zusammen eine Klub gründen. Ich fragte, welchen? Er antwortete: Den Klub der Huster. Ich entgegnete, dann hätte der aber viele Mitglieder. Er meinte, etwa 80 % der Passagiere.

 

***

 

 

Morgens um 7 Uhr gerät die Welt ein bisschen aus der Ordnung:

Papeete, die Hauptstadt von Tahiti und von ganz Französisch Polynesien, empfängt uns mit städtischem Charakter und Regentropfen. Die mehrstöckigen Häuser, Gebäudekomplexe und sogar Terrassenhäuser schockieren und erinnern mich an Neapel. Freilich gibt es zwischen dem Beton immer noch viel Grün. Die Stadt hat gegen 30 000 Einwohner – ein paar Hundert Mal mehr als Adamstown auf Pitcairn Island

 

 

 

 

 

Die Häuser am Hafen von Papeete („Der Korb mit Wasser“), der Hauptstadt von Tahiti und Französisch Polynesien

 

Französisch Polynesien als Ganzes besteht aus über 100 Inseln, die über ein Gebiet verstreut sind, das so gross wie Europa ist. Es enthält jedoch nicht einmal 300 000 Einwohner. Zwei Drittel davon leben auf Tahiti, der grössten Insel, die gut 1000 Quadratkilometer misst.

 

Die wichtigsten zwei der fünf Inselgruppen sind die Iles Tuamotu (wo wir auf Fakarava und Rangiroa waren) und der Archipel de la Société. Letztere Bezeichnung ist paradox. Seit 1768 (de Bougainville)  resp.1842 (Du Petit-Thouras) gehören die Gesellschaftsinseln zu Frankreich, mit „Gesellschaft“ ist aber die englische Royal Society gemeint. James Cook taufte die Inselgruppe  ihr zu Ehren so, weil sie seine vier Reisen in der Südsee (1768-79) mitfinanziert hatte.

 

Was machte ich heute Vormittag? Im Pullover unter der Klimaanlage in meiner Kabine sitzen und vier Kapitel Tagebuch auf dem Frontpage vorbereiten. Ferner einige Mails beantworten.

 

Wiederum habe ich es fertig gebracht, dass ich auf der “Jeep Safari“ neben dem Fahrer sitzen durfte. Das Fahrzeug war freilich ein Ford Ranger. Wir fuhren der Küste entlang bis Papenoo und dann in ein Bergtal hinein, das an die Schweiz erinnerte, nur dass die Hänge steiler, höher und bis oben bewaldet sind. Auf der Heimfahrt erzählte mir der Fahrer seine ganze Lebensgeschichte. Seiner Falten und Runzeln wegen hätte ich ihn auf gleich alt wie ich geschätzt; er behauptete, er sei 50.

 

Der Fahrer nennt Tahiti das “Europa“ Polynesiens, da es geschäftig, hektisch und stressig ist. Alle andern Inseln sind relaxed. Papeete ist der Umschlagsort für alles: Waren und Menschen. Wer in die Südsee fliegt, landet zuerst in Papeete und fliegt oder fährt mit dem Schiff auf eine Insel weiter. Umgekehrt kommen alle Produkte von den Inseln zuerst nach Papeete, bevor sie auf andere Inseln oder in die weite Welt hinaus verteilt werden. Und alles heisst „Made in Tahiti“ auch wenn es gar nicht stimmt. So hat Tahiti keine einzige Perlenfarm, aber alle Perlen  aus Französisch Polynesien werden mit dem Ursprungsort Tahiti versehen.

 

Da auch die Landschaft nicht dem Südseetraum entspricht, könnte man sagen: Tahiti ist grotesk. Dazu gibt es noch ein bemerkenswertes Detail: An der Nordküste ist der Strand schwarz, mithin unattraktiv, also wohnen die Armen in der Nähe. An den Hängen oben breiten sich die Villen der Reichen aus, da sie eine tolle  Aussicht aufs Meer haben. An der Südküste ist es umgekehrt: Hier wohnen die Reichen am Strand, da er weiss und fein und mithin attraktiv ist …

 

Der Physiker und Hobbybotaniker Harrison Smith (seit 1921auf der Insel)  hat 1937 eine fremde Blattpflanze eingeführt. Heue droht sie die ganze Vegetation zu zerstören, weil sie wie ein Unkraut rasend schnell wächst und den andern Pflanzen Platz und  Wasser wegnimmt.

 

Statt Haushunde hält man sich hier auch Schweine. Sie werden als Babys ins haus genommen, aufgezogen und später an einer Kette spazieren geführt. Sie sind sehr sauber. Im Schlamm wälzen sie sich nur, um Parasiten abzustreifen, denn sie können sich nicht wie andere Tiere kratzen. Sie sind auch treu und verteidigen das haus gegen jeden, der nicht zur Familie gehört.

 

 

 

Die Nordküste von Tahiti: Blick nach Westen (links) und nach Osten (rechts). Kein Sandstrand, kein Riff, aber schöne Wellen zum Surfen. Der Strand ist schwarz, daher baden und surfen hier nur Einheimische

 

 

 

Habe ich die falsche Fotodatei geöffnet, etwa eine aus den Schweizer Bergen?

„So grün war mein Tal“:

ein Bergbach plätschert munter dem Meer entgegen, und die steilen Hänge sind bis oben dicht bewaldet

 

 

 

… und jede Menge Wasserfälle

 

 

 

Auch eine halb überwachsene Tempelanlage (Marae) darf nicht fehlen. Der dreieckige Stein in der Bildmitte ist die Rückenlehne für den Priester. Der Teil des Tempels, in dem er sitzt, ist ein heiliger Bezirk; niemand sonst darf ihn betreten

 

 

 

Sogar auf Tahiti gibt es wilde Zacken. Einer davon ist auch von Papeete aus sichtbar und heisst „Diadem“

 

 

 

Die unzähligen senkrechten Rillen an den steilen Wänden werden nach Regenfällen zu schmalen Wasserfällen

 

 

 

Eine feine Crevette aus dem Bergbach Papenoo im Norden von Tahiti

 

 

 

„Feierabend“ beim Sundowner: die ersten Lichter von Papeete und einige junge Menschen mit ihren Ausleger-Kanus auf dem Wasser im Hafen …

 

 

 

… der rechts anschliessende Blick gegen Nordwesten enthüllt (in der rechten Bildhälfte) das 14 km entfernte Mooorea

 

 

15.2.

Gestern Abend wieder ein Kontrast: Um 21.15 war auf dem Lidodeck eine „Tahitianische Folklore-Show“ angesagt war, und Anatoli hatte Gershwin auf dem Programm. Mir zuliebe stellte Anatoli sein Spiel so um, dass er mit Gershwin erst um 22.15 begann.

Von der Show sah ich nur die Köpfe, da Zuschauer auf dem Rand des Swimmingpools die Aussicht versperrten. Nur ab und zu konnte ich zwischen ihnen erspähen, dass die spärlich bekleideten jungen Frauen heftig die Hüften schwenkten und schüttelten. Von Anatoli begeisterten mich seine Improvisationen über „The Man I Love“. Grandios haute er „Fragmente“ aus der Rhapsody in Blue in die Tasten.

 

Die Inselrundfahrt im leidlich gekühlten Autocar dauerte sieben Stunden. Schnupfen und Husten halten sich hartnäckig.

 

 

 

Papeete am nächsten Morgen. Die Kirche in der Mitte hat wie alle Kirchen in der Südsee einen dünnen Turm ohne Glocken, der eher wie ein Minarett aussieht. Diese kleine Kirche hier nennt sich grossspurig Kathedrale („Cathédrale Nôtre-Dame de l‘ Immaculée Conception“); sie befindet sich inder Verlängerung der Rue Jeanne D‘Arc

 

 

Im Polynesien-Museum: Ineiner Tempelanlage (Marae) wird ein Mensch geopfert. Schulkinder saugen den Stoff der Vergangenheit unbekümmert auf

 

 

 

Die Bedeutung der „Tiki“ ist umstritten. Erstens ist das Wort nicht von Tahiti, sondern von den Marquesas-Inseln, zweitens ist nicht klar, ob es sich um Göttergestalten handelt oder bloss um Götter, die sich in eine andere Gestalt eingefügt habe. Jedenfalls haben diese menschenähnlichen Figuren „Mana“, also heilige Energie. Manche sehen aus wie grosse Lingams

 

 

An der Südküste von Gross-Tahiti im Botanischen Garten, den Harrison Smith angelegt hat. Blick auf die Lagune hinaus. Im Hintergrund ist das Kleine Tahiti (Tahiti Iti) sichtbar

 

 

 

Paul Gauguin, der 1891-93 und erneut ab 1895 in der Südsee weilte, machte auch Holzschnitte. Er verbrachte längere Zeit auf Tahiti, und die letzten 20 Monate auf einer Insel (Hiva Oa) des Marquesas-Archipels; er starb 1903 mit 55 Jahren.

Seine Bilder sind in den Museen der ganzen Welt (in der Kunsthalle Basel hängen die schönsten) und in unzähligen Privatsammlungen verstreut

 

 

 

Am Zugersee?

Nein: Blick vom Mittagessen auf die südöstliche Lagune von Tahiti Nui (Gross Tahiti). In der rechten oberen Bildhälfte sind die Brecher am Riff gut sichtbar. Im Hintergrund Tahiti Iti (Klein Tahiti)

 

 

 

Das legendäre Arahoho- Blasloch („Trou du Souffleur“): Das Meer prallt so heftig gegen die Felsen, dass es durch die Löcher wie ein Springbrunnen in die Höhe schiesst und erst noch donnert

 

 

Die Nordküste von Tahiti:

schwarze Steine, stiebende Wellen;

recht der schwarze Sandstrand, wo einige Einheimische baden; am Hang im Hintergrund die Villen der Reichen

 

 

Pointe Vénus, der nördlichste Punkt von Tahiti: Hier wollte James Cook am 3. Juni 1769 den Durchgang der Venus vor der Sonne beobachten.

Links das heute frisch gemalte Denkmal dafür. Der Stern steht für die Sonne, die Kugel auf der Säule für die Venus.

Rechts der Leuchtturm daneben, den der Vater des Schriftstellers Robert Louis Stevenson erbaut hat

 

 

 

James Norman Hall (1887-1951) schrieb zusammen mit  Charles Nordhoff (1887-1947) zahlreiche Geschichten aus der Südsee, unter anderem

„Mutiny on the Bounty“ (1932; verfilmt 1935 mit Clark Gable, 1962 mit Marlon Brando und noch später mit Mel Gibson),

„The Hurricane“ (1936; zwei Jahre später verfilmt mit Jon Hall und Dorothy Lamour, 1979 mit Jason Robards und Mia Farrow),

„Men Without Country“, 1942, zwei Jahre später verfilmt mit Humphrey Bogart und Michelle Morgan).

Seine Villa ist heute eine Gedenkstätte. Sein Sohn erwarb als Kameramann drei Oscar; seine Tochter lebt heute noch hochbetagt in Kalifornien

 

 

 

18.30: Jeder Abend ist eine neuer Abend

 

 

Was denkt man so bei „Tanz an Deck“? Die Albatros-Band spielt ab 21.15 gute („stimmungsvolle“ wie es im Tagesprogramm heisst) Tanzmusik. Zum Abendessen war ich wieder einmal in den Salon gegangen, weil ich die vier Grazien verabschieden wollte, die kurz nach 20 Uhr von Bord gehen mussten (Flug über LA und Paris nach Hause).

Wie vor einigen Tagen unterhielt ich mich mit zunehmendem Weinkonsum angeregt mit meiner Tischnachbarin über’s Tanzen. Nachher sassen wir an entgegengesetzten Enden auf dem Lidodeck. Höchstens zwei Dutzend Gäste waren auch da. Nach einiger Zeit begannen zwei Paare zu tanzen. Das sah schrecklich nach Tanzstunde aus.

Was dachte ich? Ich will mich nicht blamieren. Ich „muss nicht“. Es ist schön, „nicht zu müssen. Ich sollte einfach den schön warmen Abend geniessen.

Also weder etwas Gescheites noch Substantielles.

Am nächsten Morgen beim Aufwachen fällt mir die beste Ausrede ein: „Ich bin nicht ihr Typ.“ Vielleicht ist es gar keine Ausrede, sondern es stimmt. Wenn ich mich im Spiegel anschaue, denke ich: Ich kann ja gar niemandem gefallen – auch nicht J.; ich werde mich daher nach der Reise auch nicht bei ihr melden.

 

16.2..

Wo sitze ich? In „Cybernesia“. Die Übertragungsrate ist 50-55 Kib/s. Was ich nicht verstehe: Warum kann ich nur Mails empfangen und nicht senden? Wievielmal ich auch auf „Senden/Empfangen“ klicke, die 7 Dinger bleiben im „Postausgang“ Aber hier ändern bei fünfen die Zeiten in der Rubrik „Gesendet“, bei den zwei andern steht – ein grammatikalisches Rätsel: „Keines“

 

Meine Cousine Irene hat mit dem Lesen und Betrachten meiner Berichte eineinhalb Stunden am Computer verbracht. Das schmeichelt mir. Sie hätte nun einmal gerne ein Foto von mir gesehen – „und nicht nur die gut genährten, älteren Menschen“.

Das mag ich ihr nicht antun. Im Moment sitze ich in einem lila T-Shirt mit dreiviertellangen Ärmeln (echt weibisch, ich werde es nachher fortwerfen) und einer uralten, langen, bunten Badehose und ebensoalten Turnschuhen (schon in der Karibik gebraucht), eine Bauchtasche umgebunden, an einem Pult im Einkaufszentrum Vaima und schaue durch eine Glasscheibe in eine Passage hinaus. Es läuft nicht viel. Ab und zu schlendert eine Tahitianerin vorbei. Die meisten sind dick. Auch die andern gefallen mir nicht; sie sehen irgendwie asiatisch aus

In den Hosentaschen habe ich gefaltete Kleenex-Tüchlein für (gegen?) meinen Schnupfen. Die billige Rolex Quartz aus China, die mir Albert vor etwa zehn Jahren aus China mitbrachte und die ich stets in den Ferien trage, läuft immer noch. Übrigens: Das Netbook tut tapfer seine Dienste. Mühe habe ich einzig mit der etwas kleiner als üblichen Tastatur: Ich lösche häufig ganze Zeilen oder füge Sätze mitten in einen früheren Text ein.

 

Peter V. ist nach sechs Wochen aus Kuba zurück. Er war schon fünfmal, mit dem Flugzeug, in der Südsee, doch die Osterinsel fehlt ihm noch. Heidi hat offenbar einen Teil der Serie über die MS Albatros im Fernsehen erhascht: Casablanca Bar, Thomas, Tänzer, usw. Sie freut sich auch über meine Bilder der „unendliche Weite des Meeres, Wolken, Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge“. Egon und Renate berichten: „Hier nur Mistwetter mit Graupelschauern und Nebel.“

 

 

 

Das Innere der 1875 erbauten „Kathedrale“ von Papeete

 

 

 

Eine weltliche Kathedrale: die Markthalle von Papeete (Mapuru a Paraita). Ordentlich, aber in wildem Durcheinander werden Kraut und Rüben angeboten, insbesondere Früchte und Gemüse, Holzschnitzereien und Öle. Die Früchte im Hintergrund des dritten Bildes sind geschälte Kokosnüsse

 

 

 

Papeete: Der Eingang zum Hôtel de Ville, dem Rathaus, einer weiteren Art von Kathedrale. Hintendran befindet sich ein Neubau im Kolonialstil, der an den Palast der Königin Poimaré IV. erinnern soll

 

 

Es kommt mir vor wie wenn ich Fotos als Trophäen sammelte. Wie einst die Indianer die Skalpe ihrer Feinde an den Gürtel hängten, so hänge ich meine mit Bedacht geschossenen Fotos in die Word-Datei und hernach in die Website. Ein bisschen Show ist schon dabei.

 

 

 

… und jeder Abend ist neu. Ein kleines Frachtschiff hat sich vom Fracht-Pier (rechts) gelöst und fährt nun in einer Kurve in den Abend hinaus

 

 

Na, endlich, kann man sagen: Jetzt hat er schliesslich doch mit seiner Tischnachbarin getanzt. Von den 700 Passagieren wagten höchstens vier Paare diesen Schritt. Die Szenerie war durchaus romantisch: Um 21.30 begann die Atlantis-Band auf dem Lidodeck zu spielen, eine halbe Stunde später liefen wir aus, unendlich langsam, weil sich offenbar der Anker nicht hieven liess, und allmählich liessen wir die breite Lichterkette von Papeete im Dunkeln zurück.

Um 23 Uhr fragte mich die Tischnachbarin, warum ich nicht schon früher mit ihr getanzt hätte. Ich antwortete, ich sei eben „ein Langsamer“. Dann liess sie mich allein, und ich bestellte ein weiteres Glas Wein.