Home Lebensqualität - Eine Blütenlese

                     Zitate 1873 und 1972-1974

 

 

John Stuart Mill beschreibt in seiner Autobiographie einen psychischen Wendepunkt seines Lebens. Er dachte, das Ziel des Lebens müsse sein, glücklich zu sein. Und er versuchte es auf alle möglichen Weisen.

„Nie war ich in der Überzeugung schwankend geworden, dass Glücklichsein der entscheidende Test aller Verhaltensregeln sei und der Zweck des Lebens.

Aber jetzt überlegte ich, dass man dieses Ziel nur erreichen könne, wenn man es nicht direkt anstrebt. Nur die sind glücklich (so dachte ich), die ihren Sinn auf etwas anderes gerichtet haben als auf ihr Glück; auf das Glück anderer, auf die Besserung der Menschheit oder auf irgendeine Kunst, irgendein Vorhaben, das sie nicht als Mittel verfolgen, sondern in sich selbst als idealen Zweck. Auf etwas anderes zielend, finden sie beiläufig Glück.“

Diese Erfahrungen verdichten sich schliesslich zu einer Formel: "Frage dich, ob du glücklich bist, und du hörst auf, es zu sein. Die einzige Chance ist, nicht das Glücklichsein, sondern irgendeinen anderen Zweck als das eigentliche Lebensziel zu behandeln."

John Stuart Mill, 1873 – siehe auch am Schluss von: Jeremy Bentham: Utilitarismus und Liberalismus

 

 

"Lebensqualität ist mehr als höherer Lebensstandard. Lebensqualität setzt Freiheit voraus, auch Freiheit von Angst. Sie ist Sicherheit durch menschliche Solidarität, die Chance zu Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, zu Mitbestimmung und Mitverantwortung, zum sinnvollen Gebrauch der eigenen Kräfte in Arbeit, zu Spiel und Zusammenleben, zur Teilhabe an der Natur und den Werten der Kultur, die Chance, gesund zu bleiben oder zu werden.

Lebensqualität meint Bereicherung unseres Lebens über den materiellen Konsum hinaus.

Die Verantwortung für die Qualität seines Lebens kann niemandem abgenommen werden, aber es liegt in der Verantwortung der Politik, positive Bedingungen für die Lebensqualität zu schaffen."

Wahlprogramm der SPD, 1972

 

 

„Es ist sinnlos, Städtebau ohne Verkehrsplanung zu betreiben, Verkehrsplanung ohne Erholungsplanung, Erholungsplanung ohne Landwirtschaftsplanung, Landwirtschaftsplanung ohne Industrieplanung oder Industrieplanung ohne ökologische Landschaftsplanung.

Es ist jetzt ins allgemeine Bewusstsein gedrungen, dass Verschmutzung und Vergiftung unserer Umwelt ursächlich zusammenhängen mit so entlegenen Fragen wie Hubraumsteuer, Lohnniveau in der Landwirtschaft, Prioritäten in der Kommunalpolitik. Es ist erkannt worden, dass Umweltschutz nur unter Berücksichtigung komplexer Systemzusammenhänge sinnvoll zu betreiben ist.

Der nächste Schritt ist die Erkenntnis, dass der Komplex Umweltschutz nur in Zusammenhang mit dem Komplex Raumordnung möglich ist. Dabei stellt sich heraus, dass die Lösung räumlicher Zuordnungs- und Nutzungsprobleme vielfach die Bedingung für eine Lösung von Umweltproblemen ist. Beispiel: Probleme der Luftverschmutzung durch Autoabgase, der Landschaftszerstörung durch Strassenbau und Autofriedhöfe könnten durch eine bessere räumliche Zuordnung der Bereiche Wohnen, Arbeiten und Erholen wesentlich verringert werden."

Michael Lohmann, "Natur als Ware", 1972

 

 

„Das Augenmerk wird zu sehr auf den engen Bereich des materiellen Wohlstandes gelenkt, und die andern Lebensgrundlagen werden vernachlässigt. Selbst wenn Technik und Wissenschaft nur als Mittel zum Zweck eingesetzt werden können, so hängt das Ergebnis davon ab, ob die Ziele gut sind, für deren Erreichung sie benutzt werden sollen.

Die Entscheidung über die Ziele kann aber innerhalb von Naturwissenschaft und Technik gar nicht gefällt werden. Sie wird, wenn wir nicht völlig in die Irre gehen wollen, an einer Stelle getroffen, wo der Blick auf den ganzen Menschen und auf seine ganze Wirklichkeit, nicht mir auf einen kleinen Ausschnitt gerichtet ist ... "

Werner Heisenberg, 1973

 

 

"Ich wollte zeigen, dass die Lebensqualität nach meiner Auffassung keine objektive Sache sein kann. Denn gleich stellt sich die Frage: für wen, die Lebensqualität für wen? Und wer ist dieser Wer, der in dem "für wen" steht?

Das bedeutet also, dass die Lebensqualität eigentlich nicht definiert oder beschrieben werden kann wie ein Modell, genausowenig wie der Mensch, der diese Lebensqualität verlangt. Was will dieser Wer? Was will dieser Mensch, was hofft er zu sein?

Und deswegen, glaube ich, scheitern letztlich - ich sage letztlich, das bedeutet nicht, dass sie unterwegs nicht nützlich sind, aber letztlich scheitern die sogenannt wissenschaftlichen Lösungen -, die Lösungen, die man aus der Biologie, der Soziologie oder der ökonomischen Wissenschaft schöpft."

Jeanne Hersch, 1974

 

 

„Lebensqualitätsorientierte Fortschrittskritik gehört heute zur politischen Programmatik der Parteien der Zweiten Internationalen und nicht der Dritten. Das hat seinen letztinstanzlichen Grund im hyperbolischen Charakter der Verheissungen, die für den orthodoxen Marxismus-Leninismus an den technisch-industriellen Fortschritt als Bedingung geknüpft sind.

Es sind das eben nicht nur, sozialdemokratisch, Wohlfahrt, soziale Sicherheit und sozialer Ausgleich, vielmehr darüber hinaus, nachrevolutionär, die vollständige Liquidation aller Herrschaftsstrukturen mit Einschluss der Zwangsordnungen des Staates, in dessen Hinscheiden erst sich die Geburt des Kommunismus vollendet."

Hermann Lübbe, 1974

 

 

"Die Frage nach den subjektiven Komponenten der Lebensqualität, die OECD-Frage nach subjektiven Massen und Indikatoren für Lebensqualität hat eine gleichsam theorielose Herkunft.

Man konstatiert ein gewisses Unbehagen und Unwohlsein, man konstatiert Fehlleistungen der Gesellschaftssysteme, bedrohliche Entwicklungen wie Kriminalität, und das möchte man abstellen, das möchte man nicht haben. Man konstatiert, dass Wirtschaft und Gesellschaft den menschlichen Bedürfnissen nicht ganz entgegenkommen.

Vielleicht ist die dahinterliegende Theorie wiederum die Idee einer vorgegebenen Harmonisierungsmöglichkeit. Wenn man den menschlichen Bedürfnissen nach Entfaltung, nach Glückssuche durch geeignete Strukturen Rechnung trage, dann müssten sie eine Tätigkeit und Interaktion entwickeln und auch politische Ansprüche geltend machen, die zu einer Humanisierung des Systems, aber auch gleichzeitig zur Lösung gewisser Wirtschafts- und Umweltprobleme beitragen könnten.

Im Hintergrund dieser Überlegungen steckt wahrscheinlich ein Automatismus-Gedanke, der bisher nicht weiter überprüft und analysiert worden ist. Die Frage nach den subjektiven Komponenten der Lebensqualität ist so gesehen wirtschaftswissenschaftlich und politikwissenschaftlich von eine kaum zu überbietenden Naivität. Humanitäre Ziele sollen erreicht werden, ohne dass man bisher sehen kann, es habe eine Reflexion stattgefunden über die Art und Weise, das heisst also, mit welchen wirtschaftlichen Mitteln, über welche politischen Mechanismen diese Ziele mit einiger Sicherheit erreicht werden können und ob nicht die selbstvergessene Rekonstruktion der Gesellschaft das Wirtschaftssystem so untersteuert, dass es eine Generation später nicht mehr die Sachen produzieren kann, die erforderlich wären, um eben diese humanitäre Gesellschaft herzustellen."

Gerhard Schmidtchen, 1974

 

 

"Die Politik setzt sich dem Risiko aus, einerseits beim Wort genommen zu werden, dabei aber andererseits das semantische Vakuum "Lebensqualität" in einer Weise mit konkreten Forderungen aufgefüllt zu sehen, über deren Richtung und Reichweite sie keine Kontrolle mehr ausüben kann.

Gerade die Vagheit und Pauschalität eines Begriffs wie Lebensqualität, der taktisch begreifliche Verzicht auf inhaltliche Festlegungen und Abgrenzungen, dürfte nur für den Augenblick als Friedensformel taugen; langfristig dürfte sie die Politik mit Verbindlichkeiten konfrontieren, die sie nicht ohne weiteres wieder loswerden, d. h. dem 'freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte' überlassen kann.

Gerade der 'opportunistische’, klassen- und machtneutrale Gebrauch von Leerformeln räumt der Artikulation von Ansprüchen und Erwartungen Freiheitsgrade ein, die zu fatalen Testbedingungen für die Politik selbst werden müssen. Insofern spricht wenig für eine Interpretation, die dem Kriterium 'Lebensqualität' als einer Zauberformel die Fähigkeit zu einer dauerhaften Vernebelung und Pazifizierung des politischen Bewusstseins der Wählermassen zutraut.“

Claus Offe, 1974

 



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