HomeHommage à Albert Vigoleis Thelen

 

Mit Beiträgen von verschiedenen Autoren

 

Seine Heimat ist er selbst

Von Hans H. Schnetzler, Tages-Anzeiger, 26. Januar 1972

 

Der Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen in «Perspektiven"

Von Hans H. Schnetzler, in TV-Radiozeitung, 21. Mai 1972

 

Herz und Verstand im Mörser der Sprache

Von Alfred G. Kauertz, Tages-Anzeiger, 28. September 1978

 

«In Zweifelsfällen entscheidet die Wahrheit»

Von Anton Krättli, Neue Zürcher Zeitung, 14. Oktober 1981

 

Ein fröhlicher Weltverneiner

Von Anton Krättli, Neue Zürcher Zeitung, 13. April 1989

 

Schreiben in einem Zwischenraum

Von Konrad Rudolf Lienert, Tages-Anzeiger, 13. April 1989

 

Abschweifung als Stilprinzip

Von Anton Krättli, Neue Zürcher Zeitung, 24./25. Februar 1990

 

Salto verbale

Von Hil., Tages-Anzeiger Magazin, 12/1990, 5

 

Albert Vigoleis Thelen

Beitrag von Roland Müller in: Schweizer Lexikon, 1993

 

Die Website der Thelen-Freunde ist:

http://www.vigoleis.de/

 

 

 

 

Seine Heimat ist er selbst

 

Das schwere Leben des Albert Vigoleis Thelen

 

Von Hans H. Schnetzler, Tages-Anzeiger, 26. Januar 1972

 

Zwar wird er noch dieses Jahr mit seinem deutschen Pass eine weitere Station in seinem Emigrantendasein aufsuchen, in Wirklichkeit ist er aber staatenlos.

Es handelt sich um den 1903 geborenen Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen. Während andere noch Jahre nach der Machtübernahme durch Hitler nichts ahnten, nichts von Judenverfolgungen beispielsweise gehört haben wollen, verliess Thelen seine Heimat (er nennt sie heute noch »mein Reich« ...) bereits 1931, da er sah, was auf Deutschland zukam, da er bereits 1927 als Assistent an der Universität in Köln Zeuge von Judenverfolgungen war. 1927 schon.

Und er verliess Deutschland, obwohl er - und das verwirrte jeweils Flüchtlingsorganisationen gar sehr! - nicht Jude, sondern (wie er heute sagt) »Hocharier, Vollarier in jenem schäbigen Sinne von 1933« war.

 

Mitleid ist nicht am Platz

 

Seine Heimat ist Albert Vigoleis Thelen seither also selber. Ob er mit dieser Einstellung bereits vor 41 Jahren sein Vaterland verliess oder ob er später aus der Not eine Tugend und sich diese Haltung zu eigen machte, lässt sich heute kaum mehr feststellen. Jeder aber, der Thelen, diesem ebenso brillanten wie menschlichen Dichter, begegnet ist, beglückwünscht ihn zu seiner Einstellung. Mitleid ist nicht am Platz.

 

Andere wären am selben Schicksal zugrunde gegangen. Vorerst (1931) zog er mit seiner Schweizer Frau nach Mallorca. Unter welchen Umständen sie dort ihr Leben fristen mussten, lässt sich eindrücklich im bekanntesten Werk Thelens, in der »Insel des zweiter Gesichts« (1953 bei E. Diederichs,  auch als dtv-Ausgabe in zwei Bänden erschienen), nachlesen, für das er mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet wurde.

Gerade als das Ehepaar sich dort aus dem Schlimmsten herausgearbeitet hatten, kam Hitler an die Macht. Da Thelen auch in Mallorca seine Einstellung den Nazis gegenüber nicht änderte und vor dem deutschen Konsul den Treueid auf den Führer verweigerte, musste er in den Anfangswirren des spanischen Bürgerkriegs die Insel verlassen, um das nackte Leben zu retten.

 

Portugal war eine weitere Station. Die Beziehung hatte das Werk des portugiesischen Mystiker Pascoas geschaffen, den Thelen auf Mallorca gelesen halte und den er später auf deutsch und auf holländisch herausgeben sollte.

 

Dann war auch die Schweiz an der Reihe. Ein Beamter in Basel brachte es nicht übers Herz, die baseldeutsch sprechende Frau Thelen mit ihrem Gatten an der Grenze zurückzuweisen. Illegal, da die Schweizer Grenze Spanienflüchtlingen verschlossen war, liess er sie einreisen. Der Aufenthalt in der Schweiz musste denn auch bis zur Ausweisung teuer bezahlt werden. Ein Publikationsverbot (wer hatte es wohl verlangt?) war nur ein Teil des Preises ...

In Frankreich und wieder in Spanien hatten die beiden Gehetzten später noch ihr Leben zu retten.

 

In der Schweiz

 

Nachdem Albert Vigoleis Thelen und seine Frau wieder während längerer Zeit in der Schweiz, zuerst im Tessin, dann im Welschland lebten, hofften Freunde und Bekannte, dass nun eine Epoche des Arbeitens in Ruhe und Sicherheit angebrochen sei. Da es aber der Schriftsteller (und Ehemann einer Schweizerin) nicht zu einer ständigen Niederlassungsbewilligung in unserem Land brachte, wollen sie, beide um die siebzig, dieses Jahr weiter nach Mexiko auswandern, dem Ruf einer Freundin folgend, wieder einer ungewissen Zukunft entgegen; denn ein sehr bekannter Autor ist Albert Vigoleis Thelen nicht.

 

Er lässt sich so schwer einordnen. »Barock-romantisch« wird sein Schreibstil genannt, und man vergleicht Thelen mit Grimmelshausen und Cervantes. Wer will heute schon Barock-Romantisches - lesen! Wenn er wenigstens ohne Umstände unter die politischen oder gesellschaftskritischen Schriftsteller einzureihen wäre.

Dabei ist Thelens Werk - in einem grösseren Zusammenhang betrachtet - äusserst politisch. Das hat er während vierzig Jahren als Dichter in der Emigration erfahren müssen. Heute noch macht seine offene und gerade Haltung während des Dritten Reichs vielen Leuten, auch Verlegern und Kollegen, zu schaffen, besonders jenen, die in der braunen Epoche weniger konsequent und standhaft waren.

 

Sein bekanntestes Buch, »Die Insel des zweiten Gesichts«, ist das brillant geschriebene und amüsierende Werk eines intelligenten, menschlichen und sehr kritischen Zeitgenossen. Vor nichts schreckt er zurück. Seine oft beissende Ironie nimmt sich des Militärs so gut wie der Vaterländer und der Kirchen »liebevoll« an. Seit Jahren verkauft sich dieses Buch weitgehend ohne Reklame nur durch die Empfehlung begeisterter und berührter Leser. Reich wird der Autor dabei nicht.

 

So hebt er bescheiden mit einer Rente, die ihm als Naziopfer von Deutschland ausgerichtet wird und die er in seiner oft skurrilen Ausdrucksweise »Reichsnaziopferblutronnenrentengroschen« nennt. Und so gross ist diese Rente wohl auch wieder nicht, dass man ihm an zuständiger Stelle ohne Bedenken die ständige Niederlassungsbewilllgung hätte erteilen können, besonders da Albert Vigoleis Thelen als Folge der unzähligen Schicksalsschläge an einem heimtückischen Augenleiden zu tragen hat.

 

Selbst .wenn nun die vielen Leser und Freunde den Wegzug, die Möglichkeit zum immer anregenden Gespräch mit Albert Vigoleis Thelen vermissen, ist - wie erwähnt - Mitleid nicht am Platz. Seine Heimat ist er selber, er bleibt sich selber treu, ob nun im Moment seine geographische »Heimat« Spanien, die Schweiz oder Mexiko ist.

 

 

 

Geheimtip

 

Der Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen in «Perspektiven",

Donnerstag, 25. Mai, 21.05

 

Von Hans H. Schnetzler, in TV-Radiozeitung, 21. Mai 1972

 

Seit zwölf Jahren lebt in Blonay VD der 1903 geborene deutsche Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen mit seiner Schweizer Frau Beatrice. Seit Jahrzehnten ist er ein «Geheimtip» unter Kennern und wird von vielen Kollegen als Meister der deutschen Sprache verehrt - und von vielen wegen seiner konsequenten Haltung den Nazis gegenüber noch .heute 9efiürchtet.

 

Mit seiner Heimat verbindet ihn denn auch nur noch die Sprache. Als er sah, was mit dem Nationalsozialismus auf Deutschland, das er heute noch «mein Reich» nennt, zukam, verliess er es 1931 für immer. Als Folge seiner Haltung auch in späteren Jahren wurde er wie ein Hund durch halb Europa gejagt und mehrmals vom Tode bedroht. Treu begleitet von seiner ebenso standhaften Frau. Spanien, Portugal, Frankreich, Holland und die Schweiz waren Stationen dieses Emigrantendaseins, an dem die meisten wohl zugrunde gegangen wären.

 

Als Spanienflüchtlingen war den Thelens 1936 die Schweizer Grenze verschlossen. Wäre es auf alle Fälle gewesen, hätte sich nicht ein Beamter der baseldeutsch sprechenden Frau Thelen erbarmt und das Paar trotzdem illegal in die Schweiz einreisen lassen ... Ausserhalb Basels entging A. V. Thelen nur knapp einem Anschlag der Gestapo, und er zog sich in ein Tessiner Dörfchen zurück. Wenige Tage vor Ausbruch des 2. Weltkriegs wurden die Thelens des Landes verwiesen. Das Publikationsverbot, das man ihm auferlegt hatte, wurde bis 1960 aufrechterhalten   .

 

Ein politisch gefährlicher Mann also, dieser Thelen? Ja und nein. Ja, weil er sein ganzes Leben lang von einer oft selbst Freunde verwirrenden und beängstigenden Konsequenz war. Er war und blieb immer er selber, um jeden Preis - und sagte und schrieb, was er dachte.

Man kann sich Thelen allerdings nicht vorstellen, wie er mit revolutionärem Gebaren Fahnen schwingend oder Transparente schwenkend durch die Strassen eilt. Aber er übt - meistens mit beissender Ironie - immer Kritik, wo seiner Meinung nach Kritik geübt werden muss. Dabei nimmt er sich des Militärs genauso «liebevoll» an wie der Kirchen oder der Vaterländer. An den Konsequenzen dieser standhaften kritischen Haltung hat er seit über 40 Jahren zu tragen!

 

Populär wird ein Schriftsteller dieser Art allerdings nicht. 1954 erhielt er zwar für seine «angewandten Erinnerungen», das fast tausendseitige Buch «Die Insel des zweiten Gesichts» (1953 bei E. Diederichs, 1970 als zweibändige dtv-Ausgabe erschienen), in Berlin den Fontane-Preis. Unzählige Leser und erstaunlich viele prominente Kollegen sind ihm seither in grosser Verehrung verbunden.

 

Der von Yvan Dalain gestaltete viertelstündige Fernsehfilm, der im März in Blonay gedreht wurde, vermag natürlich nur kurz die Persönlichkeit A. V. Thelens und seiner Frau zu skizzieren. Und um allfälligen Missverständnissen vorzubeugen: Der im Film gezeigte Landsitz in Blonay wird von den Thelens nur als Hauswartpaar (er selber bezeichnet sich als «Einhüter und Diebsverbeller»!) verwaltet. Der Landsitz gehört einer reichen Mexikanerin, die ihn noch dieses Jahr verkaufen will.

Was dann mit den Thelens geschieht? Noch weiss es niemand. Er lebt vor allem von einer Rente (in seiner eigenen Sprache als «Reichsnaziopferblutronnenrentengroschen» bezeichnet), die ihm - als (nichtjüdischem) Naziopfer von der Bundesrepublik ausbezahlt wird.

 

Übrigens: Weitere Einzelheiten aus seinem oft sehr abenteuerlichen Leben wird Albert Vigoleis Thelen in einer Sendung von Radio DRS am 13. Juli schildern, und am 16. Juli ist ein Ausschnitt aus einer öffentlichen Vorlesung vom Frühling dieses Jahres im Radioprogramm zu finden.

 

 

 

75 Jahre Albert Vigoleis Thelen

 

Herz und Verstand im Mörser der Sprache

 

Von Alfred G. Kauertz, Tages-Anzeiger, 28. September 1978

 

Am heutigen Donnerstag vollendet der zu Unrecht vergessene Schriftsteller und Dichter Albert Vigoleis Thelen sein fünfundsiebzigstes Lebensjahr.

Der vom Niederrhein stammende Thelen hat ein abenteuerliches Leben hinter sich. Mit dem «entkaiserten» Einjährigen-Zeugnis in der Tasche, versuchte er sich nach dem 1. Weltkrieg in vielerlei Berufen und irrlichterte ab 1931 durch ganz Europa. Schliesslich floh er mit seiner jungen Frau Beatrice - einer Baslerin aus dem Geschlecht der Burckhardt - vor den Nazis nach Portugal.

Seither nennt er Deutschland «das Land meiner Mörder». Mit seiner Frau spricht er deshalb konsequent Portugiesisch, schreibt klassisches Deutsch und flicht aus seinem umfangreichen Fremdsprachenvokabular entsprechend treffende Worte in seine Werke. Nach dem letzten Krieg zog es beide ins Tessin, dann an den Genfersee, wo Frau Beatrice rezensiert und übersetzt, Vigoleis trotz schlechtem «Gesichte» mit starkem Brillenverschleiss bei der Schreiberei ist.

 

Thelen ist ein dichterisches Phänomen. Seine letzten Gedichte beispielsweise tragen den Stempel versteckter Boshaftigkeit, vereint mit der Weisheit des Alters. Die Verse treffen jeden, der mit den geschichtlichen .Abläufen unseres Jahrhunderts und mit den Dingen des Alltags vertraut ist. Immer sind seine Gedichte humorvoll, eingebettet in entschärfte Bissigkeiten, die vor der eigenen Person nicht kaltmachen.

Thelen nimmt sich selbst nicht ernst, wohl aber die Sprache, die geradezu barock wirkt. Seine Vorliebe für Spott und Parodie lebt in dem Bändchen «Vigolotria» und «Der Tragelaph» auf. Ganz anders ist der Gedichtband «Schloss Pascoaes», der sich auf jene Zeit in Portugal abstützt, die die Thelens dort als Flüchtlinge verbrachten.

 

Der Romancier

 

Man zögert bei Thelen, Gedichte und Prosa miteinander zu vergleichen; beide sind von einer fast bizarr-anmutigen Lyrik durchflossen; die Prosa verrät den Vielbelesenen mit einer unendlichen Vielfalt von Wortneuschöpfungen, die sich dem Fluss der Sprache anschmiegen.

Sein grosser autobiographischer Roman «Insel des zweiten Gesichts» erzählt von den Erlebnissen auf Mallorca während der Hitler-Zeit. Der Autor: ein Grimmelshausen des 20. Jahrhunderts. Die Sprache ist altväterlich brillant, geschult an literarischen Hochformen der Goethe-Zeit. Hier fragt man sich, warum ein so an Stoff reiches Buch nicht längst Eingang in die Film- oder Fernsehstudios gefunden hat; Literatur par excellence, die würdig wäre, einem breiten Publikum vorgestellt zu werden.

«Der schwarze Herr Bassetup» (Neuauflage bei Heyne; aus ihm stammen die Titelworte) nimmt die barocke Erzählkunst wieder auf: «... nur ganz grosse Geister können einander lange Zeit schweigend gegenübersitzen, ohne sich der gegenseitigen Dummheit zu verdächtigen ...»

 

Eine zoognostische Parabel nennt Albert Vigoleis Thelen sein kleines Buch «Glis-Glis» über den Siebenschläfer, entstanden als «Fingerübung eines Sehgestörten»; eine Lektüre mit köstlichen Einfällen und Vergleichen.

 

Troubadour und Hofnarr

 

Privat ist Albert Vigoleis Thelen ein jovialer, zu Spässen und Bonmots aufgelegter Mensch. Als Unterhalter ist er genauso gut wie als Schriftsteller. Sein steter Kummer: Ärger mit den Verlegern, als deren «Rindvieh» er sich bezeichnet.

Sein Arbeitszimmer gleicht einer Kuriositätensammlung, sein Sitzmöbel ist ein zahnärztlicher Behandlungsstuhl; ein Totenschädel, als Osterei verpackt und über die Grenze geschmuggelt, grinst freundlich vom Bücherregal. Auf dem Schreibtisch ein Brief: in Ost-Berlin möchte man die «Insel» abdrucken (aber ohne die Ironien gegen Stalin ...!). «Ich lehnte schon immer Ostkastrierungen ab», sagt der Dichter.

 

Thelen trifft Vorbereitungen zu einer Reise ins Kloster St. Gerold (Österreich), wo man ihn feiert und er seine Kunst zu Gehör bringt: Was ich lese, dauert 90 Minuten - einzig die Art, wie ich den Kram vortrage, hält die Leute an der Strippe ..., ich lese langsam, doch mit patriarchalischer Eindringlichkeit, die übrigens nicht ohne Komik ist. Nachher begibt man sich in den Klosterkeller», sagt der Fontane-Preisträger. Stossen wir mit Albert Vigoleis Thelen auf sein neues Buch «Im Gläs der Worte» an, das bald im Claassen-Verlag in Düsseldorf erscheinen wird.

 

 

 

«In Zweifelsfällen entscheidet die Wahrheit»

 

«Die Insel des zweiten Gesichts» von A. V. Thelen in neuer Ausgabe

 

Von Anton Krättli, Neue Zürcher Zeitung, 14. Oktober 1981

 

In einer der drei ergänzenden Berichtigungen, die Albert Vigoleis Thelen späteren Auflagen oder Neuausgaben seines Romans «Die Insel des zweiten Gesichts» beigefügt hat, erinnert er an zwei Äusserungen des portugiesischen Dichters Pascoaes: Die Legende korrigiere die Geschichte, und die Wahrheit sei nichts anderes als eine Legende. Im Frühjahr 1981 hat der achtundsiebzigjährige Dichter noch Nachträge und Ergänzungen formuliert, um die Glaubwürdigkeit seines Memorials zu erhärten. Er besteht darauf; nichts erfunden oder gar erschwindelt zu haben, obgleich er natürlich augenzwinkernd zugibt; mit dem wirklich Erlebten sein eigenes Spiel zu treiben.

 

Das umfangreiche, phantastisch-skurrile und kapriolenreiche Buch «Die Insel des zweiten Gesichts», das «Insel-Memorial» eines vorzeitigen Emigranten auf Mallorca, ist 1953 zum erstenmal erschienen, im Verlag von G. A. van Oorschot in Amsterdam, für Deutschland - wie es im gelehrt-altertümlichen «Kolophon» auf der letzten Seite heisst, «unter dem Marzocco des Eugen Diederichs Verlages zu Düsseldorf».

Seither ist der Roman verschiedentlich neu aufgelegt worden, er existiert als zweibändiges Taschenbuch, und vor kurzem, bald dreissig Jahre nach seinem ersten Auftreten auf der literarischen Bühne; hat der Claassen-Verlag, Düsseldorf, den Wälzer in Leinen gebunden erneut vorgelegt. An verlegerischer Betreuung scheint es dem Werk und seinem Autor nicht eben gefehlt zu haben. Auch die Kritik war von allem Anfang an zustimmend bis enthusiastisch, mit Ausnahme jener Stimmen natürlich, die in Thelens Schelmenroman einen antichristlichen, zuchtlosen und frechen Angriff auf sozusagen alle Tabus und Werte sahen.

 

«Fruchtbares Ärgernis»

 

Als sein Erstling erschien, der sein bedeutendstes Buch bleiben sollte, war Thelen fünfzig Jahre alt und lagen die Erinnerungen, die dem Buch zugrunde lagen, fast zwanzig Jahre zurück. Er wurde für sein Werk mit dem Fontanepreis ausgezeichnet; aber mit der Romantradition, die auf Theodor Fontane fusst, hat die «Insel» weniger zu tun als vielleicht mit Romanformen, die auf Cervantes, Laurence Sterne und Jean Paul gründen.

 

In der Laudatio findet sich die Wendung vom «fruchtbaren Ärgernis in der deutschen Literatur unserer Zeit», und damit ist exakt der Euphemismus formuliert, der das Schicksal dieses aussergewöhnlichen literarischen Werks verbrämt. Denn Thelens «Insel», auch seine Gedichte  und die andern Prosawerke, haben trotz den Bemühungen der Kritik und der Verlage und obgleich vor allem das «Insel-Memorial» von den bedeutendsten Autoren .und Kritikern als eines der wichtigen Bücher dieses Jahrhunderts geschätzt wird, nie den grossen Durchbruch geschafft. Zum Kanon dessen, was man unbedingt kennen muss, gehören sie nicht, obgleich die «Insel» zweifellos mehr als manches andere dazu gehören müsste.

 

Aus dem Geiste der Sprache, ausgeglüht in der Esse der Selbstzerstörung Europas und dennoch sprühend von Schalksnarrheit und Witz, erzählt Thelen, der sich nach dem mittelalterlichen Volksbuch vom Wigalois den Zunamen Vigoleis zugelegt hat, ein zweites Gesicht gewissermassen, von seinen und seiner Gefährtin Beatrice Erfahrungen in Mallorca, wohin sie zogen, um dem Bruder Beatricens zu Hilfe zu eilen.

Auf der Insel finden die beiden Freunde und Einzelgänger auch den gesellschaftlichen und geistigen Vortrupp derer, die vor Hitler, Mussolini und Franco die Flucht ergriffen haben. Dass es, zum Teil wenigstens, Nachfahren alter Geschlechter, Aussenseiter, grotesk-skurrile Existenzen sind, ist für die geschichtliche Situation charakteristisch.

 

«Angewandte Erinnerungen»

 

1933 hat Albert Vigoleis Thelen auf Mallorca den Treueeid auf den Führer und Reichskanzler verweigert. Auf einem britischen Zerstörer gelang ihm mit andern seiner Schicksalsgenossen nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges gerade noch die Flucht, was ihn betrifft nach Portugal.

Seinen Lebensunterhalt hat er auf mancherlei Weise verdient, als Journalist und als Fremdenführer, als Sekretär des Grafen Keyserling und als Übersetzer des Lyrikers Pascoaes auf dessen Schloss in Portugal.

Und von all den Begegnungen, von all den Versuchen, in einer aus den Fugen geratenen Welt das Leben mit Anstand und mit der Grandezza des Vigoleis zu meistern, erzählt das Erinnerungsbuch von der «Insel des zweiten Gesichts» in barocker Breite, mit Schnörkeln und Exkursen, mit Erörterungen, die sich unmittelbar an den Leser wenden und in denen der Erzähler höchstpersönlich seine Dispositionen begründet. Thelens Vertrautheit mit literarischer Tradition, ist in den Tonarten und Stillagen seines grossen Entwurfs ebenso zu erkennen wie seine Virtuosität. Er ist ein .gelehrter und gebildeter Erzähler, dazu ein Schalksnarr, ein fröhlicher Weltverneiner, ein Humorist von hohen Graden. Man liest sein Buch nicht in einem Anlauf, sondern muss sich Zeit nehmen dafür und es zu seinem, Begleiter machen. Man wird es nicht bereuen.

 

Und doch scheint es irgendwie zur falschen Zeit gekommen zu sein. Heinrich Vormweg sagt in «Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart», in die Nähe dessen, was zu seiner Zeit (1953) als grosse Literatur gegolten habe, sei von der Kritik ebenso wie von den Lesern «gewiss nicht zu Unrecht» Albert Vigoleis Thelen gerückt worden.

Die Zurückhaltung und Relativierung, die in dieser Aussage liegt, ist unverkennbar. Zu jener Zeit nämlich, von der Vormweg spricht, mochte ein Werk wie dieser Schelmenroman allenfalls verstanden werden als eine Fortführung dessen, was die grossen Romanciers der bürgerlichen Literaturepoche in Deutschland und in Europa geschaffen hatten. Zeitgemäss jedoch erschien anderes. Das Literaturgespräch hatte sich am Schlagwort vom «Nullpunkt» orientiert, die Gruppe 47 (in der Thelen übrigens einmal, natürlich erfolglos, gelesen hat) zeigte sich interessiert an allem, was: von vermeintlich überholten Traditionen wegführte.

Thelens «Insel» passte wirklich nicht zu der merkwürdigen Vorstellung vom « Nullpunkt», sie ist voller Anspielung auf Geschichtliches, auf stilistische Traditionen, voller weltliterarischer Bezüge.

 

Diskrepanz zwischen Werk und Zeit

 

Die Qualität allein, die unbestreitbare Originalität eines einzigartigen Geschichtenerzählers und die souverän gemeisterte Fülle seiner «angewandten Erinnerungen» genügen offenbar nicht, wenn die Gunst der Zeit anderen Eigenschaften gilt. Thelens Roman war wohl nicht einmal ein «fruchtbares Ärgernis»; sondern einfach etwas, das fremd in der Zeit stand, eine Kuriosität.

 

Viel später hat er einmal, nach seinen Vorbildern und Wurzeln befragt, von sich selber gesagt, er sei - heimatlos seit mehr als vier Jahrzehnten - seine eigene Heimat, als Schreibender in der Immanenz des gelebten Wortes seine eigene Tradition.

So stellt sich ihm dar, was in der Geschichte der Literatur von Zeit zu Zeit vorzukommen pflegt: die völlige Diskrepanz zwischen einem bedeutenden Werk und der Zeit, auf die es trifft. Man muss nur - etwa anhand der von Hubert Fichte in einem amüsanten Kapitel des Romans «Detlevs Imitationen "Grünspan"» zusammengestellten Parolen - bedenken, was um 1950 herum literarische Mode war. 1950 mussten Schriftsteller laut diesem Katalog «den Menschen die Maske abreissen», 1952 mussten sie «Seismographen geistiger Katastrophen» sein, wenig später gar mussten sie «schlecht schreiben, um wirklich gut zu sein».

 

Zur Zeit der Gründung der Gruppe 47 galt die Parole, Schriftsteller müssten sich gegen Kalligraphen wenden - und Thelen ist einer, wenn man so will. Es ist müssig, über die Slogans zu lachen, die Hubert Fichte auf anderthalb Seiten zusammengestellt hat. Es gibt sie, sie beleben die literarischen Zirkel, sie dienen der Abgrenzung des Gestrigen vom Heutigen.

Man warte nur bis zur Frankfurter Messe. Die neue Losung wird bestimmt ausgegeben. Wenn das alles auch mehr Reklame, Geschäft und anregende Begleitmusik ist, so kann es dennoch das Image eines Autors und seinen Start entscheidend beeinflussen.

 

Albert Vigoleis Thelen trat mit seinem aussergewöhnlichen Buch auf; als die Zeichen der Zeit kurzfristig auf andere Erscheinungen zeigten. Je grösser die zeitliche Distanz wird, desto deutlicher tritt der wahre Rang seines Werks ins Blickfeld. Die Kulissen, zwischen denen er zu Beginn der fünfziger Jahre versteckt war, verdecken ihn nicht mehr.

Eins aber bleibt: Er setzt einen gebildeten Leser voraus, er stellt Anforderungen. Ein leichter Autor ist er nicht.

 

Nur fünf Jahre nach der «Insel des zweiten Gesichts» erschien die «Blechtrommel», pikaresk auch sie. Das erste Jahrzehnt der zweiten Jahrhunderthälfte wäre für die deutsche Literatur nur schon darum ertragreich zu nennen, weil es diese beide grossen Romane hervorgebracht hat.

 

 

 

Ein fröhlicher Weltverneiner

 

Albert Vigoleis Thelen gestorben

 

Von Anton Krättli, Neue Zürcher Zeitung, 13. April 1989

 

Im September 1988 konnte er noch seinen 85. Geburtstag feiern. Eine Sammlung von Aufsätzen zu seinen Ehren erschien, für die er sich gutgelaunt bedankte. Am Radio war seine Stimme zu hören. Ein «fröhlicher Weltverneiner» gab Proben seiner ungebrochenen Fabulierlust, indem er .ausmalte, was mit seinen sterblichen Überresten zu geschehen habe.

Schon 1954 schrieb er in dem Gedicht «Letzter Wille»:

 

«An meinem Grabe will ich keine Tränen

die hab' ich alle selber schon geweint,

um gegen eine Welt mich aufzulehnen,

die ich en gros, nicht en détail verneint.»

 

Dieser Tage nun ist Albert Vigoleis Thelen in Viersen, wo er zusammen mit seiner Gefährtin Beatrice zuletzt lebte, gestorben und in aller Stille beigesetzt worden.

In Süchteln am Niederrhein stand seine Wiege, nahe der holländischen Grenze. Aus dem Viersener Gymnasium wurde er vorzeitig entlassen; aber nachdem er viel später zu literarischen Ehren gekommen war, verlieh ihm die Schule das Abitur honoris causa.

Die Dülkener Narren haben ihn gar zum Doctor humoris causa ernannt. Aber er hat auch tatsächlich in Köln Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte und Zeitungswissenschaft studiert. Er war ein Poeta doctus, belesen wie nicht bald ein anderer.

Zusammen mit Beatrice, die er 1928 kennenlernte, einer Schweizerin, trat er alsbald seine Irrfahrt durch die Zeit an.

 

Von 1931 bis 1936, als der spanische Bürgerkrieg ausbrach, lebte er auf Mallorca, wo sein bedeutendstes Werk, der Roman «Die Insel des zweiten Gesichts», spielt - angewandte Erinnerungen an eine verrückte Zeit, ein Hauptbuch der Epoche, als Schelmenroman getarnt, die Geschichte der Verfolgten und vertriebenen unmenschlicher Regime, zugleich ein Buch, das den Ausverkauf der humanistischen Kultur mit Melancholie und Ironie darstellt.

Die Flucht führte das Paar über Frankreich nach Portugal, wo Thelen als Sekretär des Weingutbesitzers und Mystikers Teixeira de Pascoaes untertauchen konnte. Auch nach dem Krieg ging er nicht nach Deutschland zurück, sondern schrieb in Amsterdam seinen zweiten grossen Roman, « Der schwarze Herr Pahssetub».

Und fortan lebte er im Tessin als Gast reicher Freunde, später am Genfersee. Erst in seinen allerletzten Jahren, als er und Beatrice der Pflege bedürftig waren, fand er Platz in einem Altenheim in Viersen.

 

Als 1953 «Die Insel des zweiten Gesichts» erschien, war das Buch zwar ein Fremdkörper im literarischen Umfeld: Nichts da von «Kahlschlag», sondern überbordende Fülle an Anekdoten, an Wissen, an sprachlicher Meisterschaft, an Geist und Witz. Die Kritik, teilweise, verglich mit Jean Paul und mit Cervantes. Der renommierte Fontane-Preis wurde Thelen zugesprochen.

Aber die Gruppe 47 und ihr Leiter reagierten negativ auf ein Buch, das freilich andere Ansprüche stellte als die dort üblichen, und wenn oft bestritten worden ist, die Nachkriegsliteratur sei durch die Gruppe «gemanagt» worden, so ist Thelens literarisches Schicksal ein Gegenbeweis. Er blieb lange Zeit unbekannt, und er ist auch heute noch, nachdem Neuausgaben seiner beiden Romane, auch Taschenbücher davon, auch eine Auswahl aus seinen Gedichtbänden erschienen sind, ein Geheimtip.

 

Die aber, die sein Werk kennen, bewundern und verehren in ihm einen Meister der Sprache und einen Erzähler, der eine ganz eigene Form der Abschweifungen pflegt, den «Kaktusstil», wie er es nennt. Und sie bewundern einen radikalen Skeptiker, einen Zeugen der Katastrophen in der ersten Jahrhunderthälfte, einen Schalk; der sich selbst als Kunstfigur und als seinen eigenen Hofnarren so dargestellt hat, dass man von ihm als von einem Don Quijote unseres Jahrhunderts sprechen darf.

 

 

 

Schreiben in einem Zwischenraum

 

Gestorben: Albert Vigoleis Thelen

 

Von Konrad Rudolf Lienert, Tages-Anzeiger, 13. April 1989

 

Normalerweise, falls man das Sterben überhaupt als etwas Normales bezeichnen will, lässt der Tod einen Menschen aus der realen Existenz hinübertreten in eine von Worten. Er ist für uns noch das, was ihm nachgesagt, «nachgerufen» wird. Wie ist es bei einem, der die Schwelle des Todes zu Lebzeiten dreimal gewaltsam, wenn auch vergeblich, zu überschreiten suchte - anderseits aber in dem, was er selber schrieb, antrat gegen das Vergessen seiner Erinnerungen wie auch gegen das verfrühte Gerücht seines Hinschieds?

 

Engagierter Antifaschist - zeitlebens im Exil

 

Albert Vigoleis Thelen, geboren am 28. September 1903 in Süchteln am Niederrhein, gestorben vergangenen Sonntag im niederrheinischen Dülken, wohin er vor gut zwei Jahren in ein Altersheim gezogen war, hat sich als Autor wie als Mensch in eigenartiger Weise in jenem Zwischenraum bewegt, wo Schreiben zum magischen Tun wird gegen die Vergänglichkeit, wo einer vom Nichtvorhandensein bedrohten «realen» Welt eine phantastisch-eigengesetzliche, damit «stabilere» aus Worten sich entgegenstellt.

 

Widerstand hatte der Sprachenkundige als Übersetzer, beim Diplomaten und Verleger Harry Graf Kessler als Sekretär Tätige auch im politisch Realen geleistet: in einer holländischen Zeitung gegen den Faschismus. Schon damals ein Ausgewanderter, in Mallorca, musste er schliesslich vor Franco nach Portugal flüchten und wurde damit vollends zum Exilierten; seine Gefährtin dort, seine gelegentliche Lebensretterin und seine Begleiterin auch auf seinen (vor)letzten Lebensstationen im Wallis und am Genfersee war seine Frau Beatrice von baslerisch-indianischer Abstammung.

 

Erfolgsroman «Die Insel des zweiten Gesichts»

 

Widerstand leistete Albert Vigoleis Thelen aber insbesondere in seinem Werk, aus dem die «angewandten Erinnerungen», der Roman «Die Insel des zweiten Gesichts (1953), herausragen. Deren Erfolg wollte sich mit «Der schwarze Herr Bahssetup» (1956) nicht wiederholen, wiewohl auch dieser zweite Roman Thelens das Lesen lohnt.

Gänzlich ins Gehäuse einer skurrilen Wortwelt, die ihn nun auch tatsächlich überdauert, schloss sich der alternde Vigoleis in seiner Lyrik ein, die unter dem Titel «Im Gläs der Worte» 1979 erschienen ist, sowie in der «zoo-gnostischen Parabel» «Glis-Glis».

 

 

 

Abschweifung als Stilprinzip

 

Albert Vigoleis Thelens Erzählung «Der magische Rand»

 

Von Anton Krättli, Neue Zürcher Zeitung, 24./25. Februar 1990

 

Was ihn veranlassen könne, so viel Aufhebens zu machen von den Schwierigkeiten beim Kauf einer elektrischen Schreibmaschine, fragt sich der Erzähler mitten im Text, und mehr noch, ist  denkbar, dass die Frage von manchem Leser angesichts der zweihundert Seiten gestellt wird.

Unrecht haben beide nicht; aber der Autor jedenfalls meint den Selbstvorwurf nicht ernst. Das Abtriften nämlich, die Erinnerungs- und Geschichtenlust, die ihn auf Nebenweglein und Rastplätze der Reflexion über Schriftstellerei und Leben führt, wo er doch über die Schreibmaschine berichten wollte, ist sein Stilprinzip. Digression ist der Fachausdruck dafür, und Thelen, von dem man sich nach der Lektüre seiner grossen Romane in dieser Hinsicht allerlei gewohnt ist, treibt es damit so weit, dass er einmal, wenn das Stichwort «Leichentransport» fällt, von einem ägyptischen Prinzen zu erzählen anheben will und dann - etwas kokett - dein Satz mit der Bemerkung abschliesst, nicht einmal er selbst wage diese Geschichte hier einzuflechten. Dabei ist sein Geflecht schon bunt genug und überquillt seine Erzählung von Anekdoten, die aus der Geschichte vom Kauf einer elektrischen Schreibmaschine herauspurzeln.

 

Zu sagen, dieser Kauf sei sein Thema, wäre zwar nicht falsch. Tatsächlich beginnt es damit, dass ein Arzt dem Schriftsteller, dessen Augenlicht abnimmt und dessen Finger «sangern» (ein «verschollenes Wort», wie er es liebt: es bedeutet «anbrennen»), die Anschaffung eines die Arbeit erleichternden Geräts verschreibt und sein Verleger ihm die Maschine schenken will.

Es geht nur noch darum, das passende Fabrikat zu finden, und um nicht bei der ersten besten Marke schon zuzugreifen, möchte der Autor noch mindestens ein Konkurrenzprodukt testen. Siegesgewiss besucht ihn deshalb ein Vertreter der Weltmarke «Celestial» in der Villa Rocca vispa in Ascona, wo Thelen damals mit Beatrice als eine Art Hauswart gewohnt hat. Auf der Anfahrt jedoch hat die elektrische Schreibmaschine infolge eines kleinen Zusammenstosses mit einem Jeep der Schweizer Armee Schaden genommen. Bei der Vorführung spielt sie verrückt, gehorcht nicht den Befehlen des sie bedienenden Vertreters und wird schliesslich von einem herbeigerufenen Feinmechaniker demontiert, damit man dem Schaden auf die Spur komme.

 

Wie gesagt, es wäre nicht falsch, den Inhalt der Erzählung in dieser Weise zu resümieren. Aber da es sich um eine «abtriftige Geschichte» handelt (wie der Untertitel vorsorglich warnt), hätte man damit das Wichtigste nicht gesagt. Dieser Erzähler bricht aus, sobald er einen Anlass oder auch nur einen Vorwand dazu entdeckt.

Die Schreibmaschinengeschichte ist zwar auch autobiographischer Stoff; aber weit mehr davon, aus der Kindheit, aus den Zeiten auf der «Insel des zweiten Gesichts» und aus den Erlebnissen mit dem «Schwarzen Herrn Bahssetup», wird dauernd eingeflochten, so dass «Der magische Rand» wie eine Fortsetzung der «angewandten Erinnerungen» anmutet. Die Erzählung setzt die Kenntnis des Hauptwerks des Autors voraus. Für sich selbst könnte sie schwerlich bestehen, weil in ihr zu wenig Masse angesammelt ist. Digressives Erzählen bedarf der ausladenden Fülle und setzt eigentlich einen Erzählstrom ohne Ende voraus.

 

Albert Vigoleis Thelen hat kurz vor seinem Tod im April 1989 noch den Vertrag mit dem Verleger unterschrieben, der die Veröffentlichung dieses Manuskripts zum Gegenstand hatte. Ein nachgelassenes Parergon ist es, ausgestattet mit den Stilmerkmalen dieses in seiner Art einmaligen «Halbschriftstellers», wie er sich auch in diesem Text beharrlich nennt, um dann im gleichen Atemzug davon zu berichten, wie er sich als Dichter feiern lässt.

Verschollene Vokabeln liebt er, was ihm - wie er berichtet - die Verlagslektoren immer schon vorgeworfen haben. Er sagt « strauchen» für «straucheln», was die ältere Form ist, und er kennt noch das Verb «striezen» für «müssig umherschweifen». Bei ihm macht man sich's auf der Pfülbe bequem, und den Gegner nimmt man in die Kluppe.

Immer schon haftete dieser Art von Sprachpflege bei Thelen etwas Närrisches an. Es ist fast, als wappne sich der Ritter Wigalois mit dem Harnisch des Grimmschen Wörterbuchs, um gegen die Windmühlen des Sprachzerfalls ins Feld zu ziehen.

 

Der Juni-Verlag, der die Erzählung. «Der magische Rand» veröffentlicht hat, legt zugleich eine Broschüre, «Hommage à Albert Vigoleis Thelen», vor, in der die Laudatio abgedruckt ist, die Hermann Wallmann anlässlich der Feier zum 85. Geburtstag des Dichters in der Stadt Viersen hielt.

Ferner enthält die Schrift den höchst ergötzlichen Briefwechsel zwischen Günther Predelwitz von der Narrenakademie zu Dülken und Thelen, dem am 16. September 1967 von dieser hochedlen Akademie die Würde eines Dr. hum. c. verliehen worden ist. Die Auszeichnung führte der Dichter seither in seinem Curriculum vitae; jetzt kann man nicht nur nachlesen, durch welches «Legatum» er sich anlässlich der Promotion seinen Mitakademikern vorstellte, sondern in einem Bericht über die Promotionsfeier von 1967 auch, was die akademischen Honoratioren anlässlich ihres Besuchs am Genfersee, wo die Thelens vor ihrer Rückkehr nach Viersen ebenfalls in einer Villa von Freunden wohnten, in des Dichters Arbeitszimmer alles vorfanden: Eine Reproduktion der Mona Lisa hing da kopfunter an der Wand, des Vigoleis Schreibtischsessel war ein Zahnarztstuhl mit einem Fliegenwedel; der an einer gelenkig gelagerten Bambusstange mit Kontergewichten befestigt war, und auch die, Unuhr, die in der Erzählung «Der magische Rand» erwähnt ist, war da zu sehen. Vernehmlich tickte sie, hatte aber kein Zifferblatt, jedoch als Perpendikel ein Hühnerbein.

Im Bericht über den Besuch heisst es: «Diese Trophäe und alle die anderen Merkwürdigkeiten dieses wohl einmaligen Studier- und Arbeitszimmers verführten den Dichter immer wieder zu abschweifenden Erzählungen.» Er hat sich dazu jederzeit gern verführen lassen.

 

Albert Vigoleis Thelen: Der magische Rand. Eine abtriftige Erzählung. Juni-Verlag, Mönchengladbach 1989.

Horst Winz (Hrsg.): Hommage ä Albert Vigoleis Thelen. Juni-Verlag, Mönchengladbach 1989.

 

 

 

Leselust

 

Salto verbale

 

Von Hil., Tages-Anzeiger Magazin, 12/1990, 5

 

Wer mit dem Komma knausert, schreibt nie einen Satz.

So prägnant formulierte Albert Vigoleis Thelen, der wahrhaftig kein Geizkragen gewesen ist: Zwei Romane, ein Band Erzählungen und fünf Gedichtbände beweisen es. In vielen Farben schillert und «jeanpault» sein Teutsch, doch ohne dass sich nach der Lektüre ein böser Grimm einstellen würde.

Dieses literarische Allotria oder Vigolotria, wie der Fachausdruck lautet, wird nicht als Selbstzweck veranstaltet, es ist die Umsetzung seiner eigenwilligen Sicht der alltäglichen Lebensbedingungen in einer Welt, die er en gros, nicht en detail verneinte. Er vermag breit zu erzählen und dabei kurzweilig, kauzig zu unterhalten. Orakelbüchern gleich lassen sich die Romane aufschlagen und geben bereitwilligst Erkenntnisse preis wie: «Das Geld ist das Chlorophyll des Menschen ..., wo es fehlt, kommt es zur gefürchteten Bleichsucht ...» Getreu dem Motto: «Dichter sind die Büchsenöffner ihrer Innenwelt ...», lässt er uns ohne Verfalldatum teilhaben an allem, was sich mit seinem erstaunlichen Wortschatz konservieren liess. Und es liegt viel zwischen Augenringherbstmauserfleck und Zwiesel.

 

Natürlich werdet ihr den letzten Willen als faulen Zauber in den Ofen tun. Doch werde meinen ersten ich erfüllen: von diesem Erdenirrsinn auszuruhn.

 

Seit April letzten Jahres kann sein erster Wille geschehen.

 

 

 

Albert Vigoleis Thelen

 

* Süchteln, Niederrhein 28.9.1903, † Dülken, Niederrhein 9.4.1989

 

dt. Schriftsteller und Übersetzer. Zwischen Düsseldorf und der holländischen Grenze aufgewachsen, vorzeitig aus dem Viersener Gymnasium entlassen, studierte Thelen an den Universitäten Köln und Münster Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte und Zeitungswissenschaft. Lernte 1928 Beatrice aus dem Basler Geschlecht der Burckhardt kennen und wurde bereits damals Zeuge von Judenverfolgungen, weshalb er, obwohl selber nicht Jude, mit ihr 1931 über Amsterdam nach Mallorca zog.

Unter welchen abenteuerlichen Umständen sie dort ihr Leben fristen mussten, hat er in seinen fast 1000seitigen "angewandten Erinnerungen des Vigoleis" unter dem Titel "Die Insel des zweiten Gesichts" (1953 bei Diederichs, 1970 bei dtv, 1981 bei Claassen, 1983 als Ullstein-Taschenbuch, 1987 in der "Bibliothek des 20. Jahrhunderts") meisterhaft geschildert. Er wurde dafür mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet und als "Grimmelshausen des 20. Jahrhunderts" bezeichnet.

 

Nachdem Hitler an die Macht gekommen war, verweigerte Thelen vor dem deutschen Konsul den Treueeid auf den Führer. Deshalb - und wegen scharfzüngiger Artikel gegen die Nazis in holländischen Gazetten - musste er in den Anfangswirren des spanischen Bürgerkriegs (1936) mit Beatrice die Insel verlassen, um das nackte Leben zu retten. Klaus Antes berichtet (in Jürgen Pütz 1988): "Nächste Station: das Tessin, wo ihn die Schweizer Polizei zum ungebetenen Gast erklärte [Landesverweisung 1939]. Es begann eine Odyssee durch halb Europa, die Verfolger [Gestapo) stets im Rücken, bis ihnen der portugiesische Dichter und Mystiker Joaquim Teixeira de Pascoaes, dessen Werke Thelen übersetzte, in seinem Schloss [sieben Jahre] Unterschlupf gewährte.

Salazar, der Diktator, wähnte hinter Thelens Stirn kommunistische Umtriebe und wies ihm die Tür [1947]. Weiter mussten sie über Holland nach Ascona [1954] und von dort nach [Blonay 1960 und] Lausanne [1973]."

 

Über 30 Jahre konnten sie in der Schweiz Ruhe und ein kärgliches Auskommen finden, Frau Beatrice mit Rezensionen und Übersetzungen, Thelen trotz eines hartnäckigen Augenleidens mit Erzählen und Dichten, Schreiben und Lesungen. Als sich die gesundheitlichen Beschwerden mehrten, zogen die beiden 1986 ein letztes Mal um, in ein Seniorenhaus in Thelens alter Heimat.

Kurz zuvor waren ihm vom Lande Nordrhein-Westfalen der Professortitel, von der Stadt Viersen der Ehrenring ("in Würdigung Ihres literarischen Gesamtwerkes") und vom deutschen Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz I. Klasse verliehen worden.

 

Weitere Werke:

 

Der schwarze Herr Bahssetup. Ein Spiegel. Roman, München 1956, als Heyne-Taschenbuch 1977, erneut Düsseldorf 1983

Glis-Glis. Eine zoo-gnostische Parabel, entstanden als Fingerübung eines Seh-Gestörten, Hildesheim 1967

Im Gläs der Worte. Gedichte, Düsseldorf 1979 (enthält: "Schloss Pascoaes", 1942, "Vigolotria", 1954, "Der Tragelaph", 1955, "Runenmund" 1963, und neu "Abgesang").

 

Ferner aus dem Portugiesischen übersetzt von A. V. T.: [Joaquim Pereira] Teixeira de Pascoaes: Paulus, der Dichter Gottes, Zürich 1938; Hieronymus, der Dichter der Freundschaft, Amsterdam 1941, Zürich 1942; Das dunkle Wort. Aphorismen, Zürich 1949.

 

Literatur

 

Schnetzler, H. H.: Seine Heimat ist er selbst. Das schwere Leben des A.V.T., in: Tages-Anzeiger 26.1.1972

Krättli, A.: "In Zweifelsfällen entscheidet die Wahrheit". "Die Insel des zweiten Gesichts" von A. V. T. in neuer Ausgabe, in: Neue Zürcher Zeitung, 14,10.1981, 35

mehrere Autoren über A. V. T. in: die horen, H. 2, 1984

Enklaar, J. und Aler, J. (Ed.): A. V. T., Amsterdam 1988

Pütz, J. (Ed.): In Zweifelsfällen entscheidet die Wahrheit. Beiträge zu A. V. T., Viersen 1988

Winz, H. (Ed.): Hommage à A. V. T., Mönchengladbach 1989.

 

Beitrag von Roland Müller in: Schweizer Lexikon, 1993

 

 

Weitere Literatur:

 

Gisela Bongart: Albert Vigoleis Thelen. Dichtungstheorie und Schreibpraxis in humoristischer Tradition. Magisterarbeit TH Aachen 1985.

Cornelia Schrudde: Untersuchungen zu Albert Vigoleis Thelen. Die Insel des Zweiten Gesichts. Magisterarbeit Universität Siegen 1989.

Jürgen Pütz: Doppelgänger seiner selbst. Der Erzähler Albert Vigoleis Thelen. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1990.

Albert Vigoleis Thelen: Sie tanzte nackt auf dem Söller. Das Leben des Albert Vigoleis Thelen. Aus seinen Texten zusammengestellt von Jürgen Pütz. Hildesheim: Claassen 1992.

Adriaan Morriën: Zu Gast bei Albert Vigoleis Thelen. Sonderdruck, Bremerhaven: Verlag für Neue Wissenschaft 1992.

Klaus-Jürgen Hermanik: Ein vigolotrischer Weltkucker. Die Prosa des Albert Vigoleis Thelen im Zusammenhang mit dem deutschsprachigen Pikaroroman. Frankfurt am Main: Lang 1996.

Albert Vigoleis Thelen: Briefe an Teixeira de Pascoaes. Hrsg. von António Cândido Franco, übers. von Ulrich Kunzmann. Zur Einführung: Die geweiste Flucht. Bonn: Weidle 2000.

Jürgen Pütz: Lauter Vigoleisiaden oder: Der zweite Blick auf Albert Vigoleis Thelen. Mit zahlreichen Fotos, erstveröffentlichten Briefen, Werkverzeichnis, Dokumenten & Faksimile. Die Horen, Nr. 199, Heft 3/2000. Bremerhaven: Ed. Die Horen im Wirtschaftsverlag NW, Verlag für Neue Wissenschaft 2000, 2. Aufl. 2001.

 




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