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Zu Norbert Elias: „Über den Prozess der Zivilisation“

Basel: Verlag Haus zum Falken 1939;

2. Aufl. Bern, München: Francke 1969.

[erneut: Frankfurt am Main: Suhrkamp, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1976;

25. Aufl. 2002;
engl.: The civilizing process. The history of manners. New York: Urizen Books 1978; New York: Pantheon Books 1982;
Rev. ed. by Eric Dunning, Johan Goudsblom, and Stephen Mennell.
Oxford: Blackwell Publishers 2000;
frz.: La civilisation des mœurs (=Bd. 1); La dynamique de l'Occident (= Bd. 2).
Paris: Calmann-Levy 1973-76 ;
it.: La civiltà delle buone maniere. Il processo di civilizzazione. Bologna: Il Mulino 1982.]

 

Zum Vergleich Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozess. 5 Bde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988-2002 (über 3500 Seiten).

 

 

Rezension in den „Basler Nachrichten“, 31.5/1.6.1969

 

Norbert Elias und sein Werk sind unbekannt. Das ist erstaunlich und stellt der soziologischen Fachwelt ein wenig gutes Zeugnis aus.

Als Milderungsgrund mag gelten, dass das hier besprochene, 1936(!) fertiggestellte, 833 Seiten umfassende Werk am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in Basel erschien, wegen der Abstammung des Autors nicht exportiert wurde und deshalb bald in Vergessenheit geriet.

 

Nun liegt die unveränderte zweite Auflage von "Über den Prozess der Zivilisation - Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen" vor.

 

Norbert Elias, Schüler von Karl Mannheim, 1933er-Emigrant und heute Ordinarius für Soziologie an der Universität von Leicester (England), veröffentlichte vor kurzem eine mikrosoziologische Felduntersuchung ("The Established and the the Outsiders",1965) sowie eine Studie zur Soziologie des Königtums und des Adels ("Die höfische Gesellschaft", 1969).

Gegenwärtig arbeitet er an einem Buch über die Entwicklung des Fussballspiels [1971] und an einer "Einführung in die Soziologie" [1970].

 

Statik und Dynamik

 

Die Neuauflage der zwei Bände "Über den Prozess der Zivilisation" hat er um eine über sechzigseitige Einleitung ergänzt, die für jeden Soziologen Pflichtlektüre sein sollte und auch von kulturhistorisch Interessierten mit Gewinn zur Kenntnis genommen wird.

 

In kruder soziologischer Terminologie und vielzeiligen Schachtelsätzen umreisst er meisterhaft die Problematik soziologischer Forschung und Theoriebildung. Er stellt das Verhältnis Individuum-Gemeinschaft in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang und zeigt den uralten eleatisch-heraklitischen Gegensatz von statischer und dynamischer Betrachtungsweise.

 

Scharf wendet er sich gegen die "strukturell-funktionale Analyse" von T. Parsons und R. K. Merton. Diese und ihre Anhänger versuchen Vorgänge auf Zustände zu reduzieren und sehen in Ruhe und Gleichgewicht die Normalität eines Gesellschaftssystems, das durch Schübe und Brüche, "Dysfunktionen" gestört wird, um sich dann erneut seiner in eine (relative) Spannungslosigkeit und Stabilität einzuschwingen. Nach Mustern und Institutionen fixierte Prozesse stehen hier im Blickpunkt.

 

Demgegenüber vertritt Elias eine dynamische Betrachtung - in dieser Hinsicht Th. Geiger, L. Coser, J. Habermas, R. Dahrendorf und der linkshegelianischen Frankfurterschule (M. Horkheimer, Th. W. Adorno: "Kritische Aufklärung", "dialektische Analyse") verwandt.

 

Individuum und Gesellschaft

 

Individuum (Ego; einzelner Handelnder) und Gesellschaft ("soziales System") stehen für Elias nicht in einem Gegensatz, wobei je nachdem ersteres oder letztere das Primat hat, sondern beide stehen in einem unlösbaren Zusammenhang: Es sind zwei "Aspekte" des Menschen, die in einem ständigen strukturierten Wandel begriffen sind und also den Charakter von Prozessen haben (ähnlich in der Psychologie etwa H. Thomae und R. Heiss: "Person als Prozess"), d. h. sie werden und sind geworden.

Wandlungen gehören zu den normalen Eigentümlichkeiten einer Gesellschaft und des Einzelnen in ihr.

 

Eingehend befasst sich Elias mit der falschen Zertrennung in "Innen" und "Aussen" - was ist abgekapselt, wo ist die Grenze? - und fordert, dass anstelle des Renaissance-Bildes vom "homo clausus", wo die Persönlichkeit im Zentrum, als höchster Wert und alleiniges Erkenntnissubjekt steht, dasjenige des Menschen als einer offenen Persönlichkeit tritt, die nur relative, nicht absolute und totale Autonomie besitzt.

Weder existiert das Individuum ausserhalb und unabhängig von der Gesellschaft, noch diese selbst als Abstraktion oder Ganzheit jenseits der einzelnen Menschen, sondern in Analogie zum kopernikanischen Umsturz des geozentrischen Weltbildes gewinnt der Mensch in der Distanz zu sich selbst und vermeintlich allein massgeblichen "Selbsterfahrung" ein neues, reflektiertes und nicht mehr selbstverständliches Verhältnis zu sich und der Welt.

Goethe sagte einmal, "die Natur habe weder Kern noch Schale und es gebe in ihr kein Drinnen und kein Draussen. Das gilt auch von den Menschen" (I, LXIV). Sie sind "von Grund auf zeit ihres Lebens auf andere Menschen ausgerichtet und angewiesen, von andern Menschen abhängig" (I, LXVII).

 

Menschen kommen nur als Pluralitäten, nur in "Figurationen" vor; und nur dieses "von Individuen gebildete Interdependenzgeflecht" (I, LXVIII) nennt Elias Gesellschaft.

Die Soziologie untersucht nicht das Objekt Gesellschaft, welches es gar nicht gibt, sondern der "abstrakte Gegenstand" dieser Wissenschaft (und nicht nur Betrachtungsweise) ist, wie Th. Geiger sagt, der "Mensch als geselliges Wesen". Die Soziologie befasst sich mit der "Sphäre des Zwischenmenschlichen", mit der Geselligkeit (als Daseinsmodus des Menschen) und ihren Erscheinungsformen (z. B. Gruppe, Institutionen).

 

Ineins versucht Elias deshalb langfristige Transformationen ("Entwicklung" genannt) der Gesellschafts- und damit auch der Persönlichkeitsstruktur aufzuzeichnen.

Das Werden von gesellschaftlichen Formationen und der Wandel des individuellen Verhaltens und Empfindens, vorab der "Strukturen menschlicher Affekte und ihrer Kontrollen" werden erforscht, wobei die Fragestellung möglichst voraussetzungslos und frei von Ideologien oder Reaktionen darauf auf "Entdeckung von Tatsachenzusammenhängen und deren Erklärung" ausgerichtet ist.

 

In der Einleitung werden die Entwicklungstheorien des 19.Jahrhunderts erörtert, welche einerseits in das Ideal des Fortschritts und einer bessern Zukunft, anderseits in eine "natiozentrische" Bewahrung von Staat und Macht polarisiert waren.

Gebrandmarkt werden die im 20. Jahrhundert gepflegte, meist pauschale Ablehnung der ersteren Richtung, sowie das bedauerliche Festhalten an der zweiten Auffassung durch den im Grunde antiliberalen, etablierten "bürgerlichen Konservatismus..., der in sehr hohem Masse von den Werthaltungen der vorindustriellen dynastisch-agrarisch-militärischen Machteliten mitbestimmt ist" (I, 304).

 

Der Wandel des menschlichen Verhaltens vom 16. bis 18.Jahrhundert

 

Die minutiösen Einzelanalysen des ersten Bandes befassen sich mit der "Soziogenese der Begriffe 'Zivilisation' und 'Kultur'", wo der Unterschied zwischen der französisch-englischen und der deutschen Auffassung herausgestellt wird.

 

Das zweite Kapitel, "Über die 'Zivilisation' als eine spezifische Veränderung des menschlichen Verhaltens", untersucht auf etwa 200 Seiten den Wandel der Umgangsformen vom 16. bis 18. Jahrhundert. Es handelt "sich bei dem, was wir als 'zivilisiert' und 'unzivilisiert' einander gegenüberstellen, nicht um einen Gegensatz von der Art des Gegensatzes zwischen 'Gutem' und 'Schlechtem', sondern ganz offenbar hat man es hier mit Stufen einer Entwicklungsreihe zu tun,...die weitergeht" (I, 74).

 

Exemplarische Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Schrift Erasmus' von Rotterdam "De civilitate morum puerilium" (1530; I, 66): "Erasmus ist mit seiner Schrift ... auf der einen Seite der Wegbereiter eines neuen Scham- und Peinlichkeitsstandards, der sich zunächst in der weltlichen Oberschicht langsam herauszubilden beginnt. Er spricht auf der andern Seite mit voller Selbstverständlichkeit über Dinge, die zu besprechen inzwischen peinlich geworden ist" (I, 182).

Das heisst, der in der Renaissance begonnene Um- und Neubildungsprozess - "Die Menschen formen sich und andere mit grösserer Bewusstheit als im Mittelalter" - hat ein "Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle und der Schamgrenze" bewirkt, was wir als "Verfeinerung" oder "Zivilisation" bezeichnen.

Elias zeigt das anhand einer Fülle von stellenweise amüsanten Originalzitaten über Tischsitten und Manieren: etwa das Zubereiten und Essen von Fleisch, die Einstellung zu den "natürlichen Bedürfnissen" oder körperlichen Verrichtungen, das Schneuzen und Spucken, das Verhalten im Schlafraum, die Beziehung von Mann und Frau, die Wandlungen der Angriffslust (Kampf, Jagd, Raub, Verstümmelung, Quälereien), usw.

 

Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde der heutige Stand erreicht: der richtige Gebrauch von Messer und Gabel, Serviette und Schnupftuch, usw. Die Sexualität wird hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens (ins "Privatleben") verlegt und den Kindern verborgen gehalten. Verbote (Triebversagungen) und Tabus werden dem Individuum als Selbstzwänge (statt Fremdzwänge) angezüchtet (Konditionierung), was vor allem bei Kindern mit Angst- und Schuldgefühlen verbunden ist.

 

Feudalisierung und Staatenbildung

 

Die höfisch-absolutistische Gesellschaft bildete sich als massgebliche in Frankreich heraus. Damit vollzog sich auch eine Umformung des Bewusstseins- und Triebhaushaltes und des Verhaltens der Oberschicht im Sinne der "Zivilisation".

 

Nur in Verbindung mit der "Staatenbildung" ist das zu verstehen: "Die Veränderung des Verhaltens und des Trieblebens, die wir 'Zivilisation' nennen (nämlich: Affektverhaltung und Mässigung), hängt mit der stärkeren Verflechtung der Menschen und ihrer wachsenden Abhängigkeit voneinander aufs engste zusammen" (II, 68).

 

So befasst sich Elias im zweiten Band sehr umfassend und fundiert mit der "Soziogenese des Absolutismus". Er greift hierbei bis auf die "Mechanismen der Feudalisierung" (etwa ab 9./ 11. Jahrhundert) zurück, behandelt Herrschaftsapparatur, Handel, Geldwirtschaft (gegenüber der "Naturalwirtschaft") und Kriegstechnik, sowie im einzelnen Kreuzzüge, Minnesang und courtoise Umgangsformen, Wandel des Adels und Klerus, bis er zur "Soziogenese des Staates" (Konkurrenzkämpfe und Monopolbildung im Rahmen eines Territoriums (Königreichs), ab 11. Jahrhundert) kommt.

Genau beachtet er die "Unterschiede im Entwicklungsgang Englands, Frankreichs und Deutschlands" (II, 129ff). Ein Zwischenspiel, die erneute "Stärkung der zentrifugalen Kräfte" (II, 180), bildete der "Konkurrenzkreis der Prinzen", bis dann aber eine endgültige Monopolstellung (z. B. der physischen Gewaltausübung) des Siegers erreicht wurde: Wirtschaft und Politik fallen zusammen (Rechts- und Steuermonopol; Zentralisierung).

 

Eine dieser "Verflechtungsapparaturen" nennt Elias "Königsmechanismus". Diese Apparatur bildet sich ... blind und ungeplant im Laufe der gesellschaftlichen Prozesse. Ob sie gut oder schlecht gesteuert wird, das hängt allerdings in hohem Masse von der Person dessen ab, dem die Funktion des Zentralherrn zufällt" (II, 250).

 

Parallel mit der "Verhöflichung der Krieger" (vom 11. bis 18. Jahrhundert) und dann der Schwächung des Adels läuft die Stärkung des Bürgertums (17. Jahrhundert; "Bourgeois Gentilhomme").

 

Diese 300 Seiten umfassenden Ausführungen lesen sich beinahe wie ein überaus lebendiges, aber ebenso verwirrendes Geschichtsbuch.

Ihnen schliesst sich eine 150seitige, langatmige Zusammenfassung, der grossangelegte "Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation", an.

 

Eine Theorie der Zivilisation

 

Die Zivilisation ist nicht planmässig oder rational entstanden, sie vollzog sich in einem strukturierten geschichtlichen Wandel, in den zwangsläufigen "Verflechtungsmechanismen", die eine Eigengesetzlichkeit entwickelten.

Dabei "differenzieren sich die gesellschaftlichen Funktionen unter einem starken Konkurrenzdruck mehr und mehr" (II, 316), was einer "Nivellierung der grossen Kontraste" (II, 424) teilweise entgegensteht, und die Selbstkontrolle des einzelnen nimmt zu: Selbstzwänge als "Schablonen der Triebmodellierung" entstehen und verfestigen sich (Über-Ich-Apparaturen; Gewissen); sie sind parallel den staatlichen zentralen Monopolinstituten.

Das ist der Vorgang einer "leidenschaftslosen Selbstbeherrschung". Hierbei ist nicht die Technik oder Schulerziehung Ursache der Verhaltensänderung, sondern diese sind nur ihre Symbole (II, 345).

 

Zusammenfassend: Es findet ab dem 16. Jahrhundert eine zunehmende Psychologisierung und Rationalisierung sowie Sensibilisierung ("Delikatesse") und Pazifierung statt, eine Differenzierung und Straffung (bis zur Festigung und Stabilisierung) der Trieb- und Affektkontrollen (Regelung und Dämpfung) - deshalb kann beispielsweise die holde Weiblichkeit im 20. Jahrhundert ihre Beine zeigen und im Bikini baden.

 

In diesem Sinn bezeichnet Elias seine Untersuchungen als „historische Gesellschaftspsychologie" (II, 385) und bezieht deshalb auch betont die psychoanalytische Theorie mit ein.

Damit kann er "das Ganze" der Struktur des sozialen Feldes in den Griff bekommen: "Wirtschaftliche Zwecke und Zwänge" und "politische Motive und Motoren" bilden zusammen "das Schloss der Ketten, durch die sich die Menschen gegenseitig binden" (II, 436f).

 

Das Ringen um die Steuerung dieser "Verflechtungszwänge" geht heute weiter. Übermässige Zwänge und vor allem Ängste könnten aber zur Zerschlagung alles Erreichten führen: "Man sieht ... hinter den Spannungen der Erdteile ... bereits die Spannungen der nächsten Stufe auftauchen" (II, 452).

 

Wir "sind" noch nicht zivilisiert (II, 453). "Die Zivilisation ist noch nicht abgeschlossen. Sie ist erst im Werden" (II, 454).

 

Elias' Werk zeugt von profunder Kenntnis; er hat ein enormes Material dafür zusammengetragen. Mag es im einzelnen oder gar im ganzen fragwürdig sein, als Entwurf ist es bestechend.

Elias weiss genau: "Der Prozess der Zivilisation vollzieht sich keineswegs geradlinig" (I, 256), sondern "in einer langen Reihe von Auf- und Abstiegsbewegungen" (II, 342).

Was heute in der Sicht einer "langfristigen Dynamik" oder "Entwicklungsmechanik der Geschichte" vorgeht, ist deshalb noch nicht auszumachen.

 



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