Das amerikanische "Cinéma Vérité"
Versuch einer Übersicht (1964)
Inhalt Übersicht Teil I: Interview mit Richard Leacock, Don Alan Pennebaker und Robert Drew Teil II: Zusammenfassung des Programms der Cinéma-Vérité-Verfechter Teil III: Kritische Betrachtung von Absicht und Programm Teil IV: Kanada: „candid eye“ Teil V: Verwandte Spielfilme in den USA
Zum Cinéma Vérité: http://www.documentaryfilms.net/Reviews/CinemaVerite/ http://www.sensesofcinema.com/contents/00/11/verite.html http://www.popped.com/articles98/cinemaverite/index.html http://www.brightlightsfilm.com/31/cinemaverite.html http://www.umanitoba.ca/outreach/cm/vol9/no9/cinema.html http://www.geraldpeary.com/interviews/jkl/leacock.html
Suche nach den Stichworten „Cinéma vérité“, „Candid eye“ bei: http://www.findarticles.com/PI/index.jhtml
usw.
Übersicht
Über eine neue Strömung im Film möchte dieser Bericht informieren, die in unserem Lande nur höchstens dem Namen nach (und meist nicht einmal das) bekannt ist. Doch sehr häufige Publikationen in ausländischen Filmzeitschriften und Beiträge an Filmfestivals, die hie und da von sich reden machen, künden immer wieder von der Bedeutung der neuen Richtung, des Cinéma Vérité, welche vielleicht einmal eine neue Filmform zum Blühen bringen könnte. Da in der Schweiz noch nichts von diesen doch schon recht zahlreichen Werken aus der Zeit etwa der zehn letzten Jahre zu sehen war, kann es hier nur darum gehen, einige Informationen zu geben.
Die ganze reformerische Bewegung teilt sich in hauptsächlich zwei Komponenten auf: eine französische (und teilweise italienische) mit den wichtigsten Vertretern in Jean Rouch, Chris Marker und Mario Ruspoli, und eine nordamerikanische, auf die wir hier näher eingehen möchten, da sie weniger bekannt als die französische und man wohl bisher noch weniger Material darüber zu Gesicht bekam.
Der gekürzten Übersetzung eines Interviews mit den Hauptinitianten, erschienen in "Film Culture", dem Hausblatt der Ostküsten-Cineasten um New York, folgt eine kurze Zusammenfassung des Programms der Cinéma-Vérité-Verfechter, welche in einem dritten Teil einer kritischen Betrachtung unterzogen wird, worauf abschliessend ein Bericht Einblick in die kanadischen Verhältnisse geben soll.
Teil I: Interview mit Richard Leacock, Don Alan Pennebaker und Robert Drew
[Richard Leacock, *1921 in London. Nach den USA 1938. Armeephotograph während des Krieges. Kameramann bei Flahery für die „Louisiana Story“ (1942). Seit 1954 Zusammenarbeit mit Robert L. Drew.]
Interviewer: Richard Leacock, Don Alan Pennebaker und Robert Drew sitzen mit mir um den Tisch. Alle drei Filmschöpfer sind darauf aus, unsere Umwelt im Film einzufangen, auf recht ungewöhnliche Weise, aber trotzdem das Gefühl vollständiger Realität übermittelnd. Unsere Diskussion soll nun ihre Ziele und ästhetischen Prinzipien erhellen. Mr. Drew, möchten Sie bitte mit der Beschreibung Ihrer gegenwärtigen Arbeit beginnen.
Drew: Ich bin Reporter, war lange Jahre Photograph für das "Life" bevor ich mich für den Film zu interessieren begann. Auf der Suche nach Filmreportern traf ich auf Ricky Leacock, welcher so ausserordentliche Reportagen geschaffen hatte, wie ich nie welche vorher gesehen habe. Er zeigte nicht einfach, was vor sich ging, sondern gab einem das Gefühl, gerade am richtigen Ort zu stehen, das Entscheidende zu sehen. Was Ricky unternahm, ist etwas vollkommen Neues, weder mit den Leistungen im Dokumentarfilm noch beim Fernsehen zu vergleichen. Und so arbeiten wir nun intensiv an der Entwicklung einer neuen Art von "Film-Journalismus".
Interviewer: Um diese Einführung zu ergänzen, möchte ich noch beifügen, dass Mr. Drew nun einen leitenden Posten als Produzent versieht bei der Broadcast Division der Time Inc. Mr. Leacock braucht nicht weiter vorgestellt zu werden; seit der "Louisiana Story" haben wir seine Kameraführung oft bewundern können. Mr. Pennebaker war früher Ingenieur und stellte elektronische Ausrüstungen her, bis er eines Tages Filme von faszinierender symphonischer Kraft zu drehen begann. Diese drei Männer, zusammen mit dem abwesenden Al Maysles, arbeiten nun in ihrer eigenen unabhängigen Gesellschaft zusammen. Ihre letzten Filme sind "Primary" und "Cuba Si, Yankee No". Nun wollen wir aber ihre theoretischen Ausführungen hören.
Leacock: Als ich, noch sehr jung, im Dokumentarfilm begann, stellte ich, zum Beispiel bei den Dreharbeiten an der "Louisiana Story", fest, dass der Gebrauch von kleinen, handlichen Kameras uns eine ungeheure Beweglichkeit verlieh. Alles war möglich. Doch als wir lipppensynchrone Dialog-Aufnahmen drehen sollten, änderte das schlagartig. Nur schwere Tonaufnahmegeräte und ein Monstrum von einer Kamera standen zur Verfügung. So konnten wir nicht mehr den natürlichen Ablauf eines Geschehens filmen, sondern mussten uns der Natur aufzwingen, was mich in nicht gelinde Wut versetzte.
Der Aufzeichnung unverfälschten Geschehens war fortan mein Suchen und Forschen gewidmet (1954 erhielt ich dann Unterstützung von der Time Inc. ). Nach mehrfachen Fehlschlägen gelang es uns vor kurzem, mit der Anwendung neuester technischer Errungenschaften, eine extrem leichte und begliche Ausrüstung zu schaffen, die es uns ermöglichte, mit einem Minimum von Beeinflussung oder Lenkung ein Geschehen zu beobachten und aufzuzeichnen. Wir können mit diesen tragbaren Geräten Ton und Bild gleichzeitig aufnehmen. Keine Scheinwerfer, Stative, Kabel und Anschlüsse, sondern synchrones Tonfilmen überall, jederzeit, ein vollkommen neuartiger Weg zum Film.
Wenn wir nun zu den ästhetischen Aspekten kommen - bis heute war Film hauptsächlich eine Ausweitung des Theaters, wo man eine Handlung beherrscht, gestaltet. Nur wenige Künstler, wie etwa Flaherty, sahen den Film nicht als ein beschränkendes Beherrschen, sondern als ein Schauen, Beobachten.
Interviewer: Die Persönlichkeit des Filmschöpfers soll also möglichst wenig in das Geschehen eingreifen?
Drew: Das ist eine Schlüsselfrage, oft zu Missverständnissen Anlass gebend. Es ist so, dass bei der Aufnahme der Filmende auf keine Weise das, was vorgeht, beeinflusst oder lenkt. Er ist ja vollauf damit beschäftigt, es auf eine bestimmte Art aufzuzeichnen.
Interviewer: Das heisst mit ihrer Filmaufnahme-Methode?
Drew: Ja. Es ist eine unglaubliche Anstrengung, zur richtigen Zeit am rechten Ort zu sein, das, was vor sich geht, überhaupt zu verstehen, zu wissen, was als Wichtiges aufzunehmen ist und auch bereit zu sein, es in seinem wirklichen Ablauf zu erfassen.
Die Subjektivität des Filmschöpfers zeigt sich so im Aufzeichnen, nicht im Dirigieren der Handlung. Daher die Authentizität.
Leacock: Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern: Im Theater oder im gestellten Film kann man alles bezweifeln. Wenn ein Autorennfahrer in Tränen ausbricht, kann das Publikum dem Regisseur, Autor oder Spieler Unechtheit vorwerfen. Wenn wir aber einen der unsern Filme zeigen, besteht kein Zweifel, dass der Rennfahrer weinte. Es ist Tatsache, Wirklichkeit. Reales Geschehen kennt keine Begrenzung, auch seine Bedeutung nicht. Die Schwierigkeit besteht höchstens darin, wie es mitzuteilen ist. Ein Sturm beispielsweise: in "Moby Dick" im Atelier künstlich geschaffen. Sah man den Film, glaubte man, es sei ein richtiger Sturm, lernte aber nichts vom Wesen eines solchen kennen. Beim "Man of Aran" hingegen wartete Flaherty ein volles Jahr auf ein Unwetter. Es stellten sich keine technischen Studio-Probleme, sondern einzig dasjenige des Übermittelns, des Beobachtens mit der Kamera; wie das Gefühl vermitteln, wirklich dabei zu sein? Der Mann hinter dem Apparat erlebt alles als etwas noch nie Dagewesenes, er ist begeistert davon. Oft ist dann sogar das Publikum ebenso überwältigt.
Drew: Gerade hier zeigt sich aber der Schöpfungsakt des Filmenden. Aufzuzeichnen was geschieht, wie es geschieht, hängt ganz von seinem Empfindungs- und Einfühlungsvermögen ab. Wir hatten einmal die Aufgabe in den Slums von Lateinamerika zu filmen. Ricky vollzog sie mit bewunderungswürdiger Subtilität. Er lebte unter diesen armen Leuten: Eine falsche Bewegung hätte ihn zum Regisseur gemacht, und die Leute hätten sofort ihre Natürlichkeit verloren. Ganz behutsam musste er ihnen klar machen, dass er hier sei, Wahrheit über sie zu suchen, nicht sich einzumischen. Nur zu beobachten. Und sie verstanden ihn, achteten seiner Anwesenheit nicht mehr und behielten ihr ungezwungenes Wesen.
Interviewer: Oberflächlich gesehen unterscheidet sich für den Laien Ihre Art zu filmen nicht sehr stark vom Dokumentarfilm, basiert dieser doch auch auf Auswahl des Geschehens, dem Einfangen der Atmosphäre, auf dem Vermitteln eher als auf dem Darstellen. Und doch fühlt man, dass es etwas Anderes ist. Könnten Sie mir Ihre ästhetischen Prinzipien, in welchen Sie sich von andern Filmschaffenden unterscheiden, erklären?
Drew: Nach unserer Ansicht sind Dokumentarfilme meistens, mit sehr wenigen Ausnahmen, eitler Schwindel, Betrug. Als Reporter glaube ich nicht, was sie zeigen, denn ich sehe eine lenkende Hand im Hintergrund, künstliche Beleuchtung, wie die Leute auf ihren Einsatz als Spieler warten. Keine Realität ist das, hohl wie Comic Strips oder dergleichen, marionettenhaft. Es gibt wenige, dafür überragende Ausnahmen - Flaherty ist eine.
Interviewer: Ich würde ihn nicht als Dokumentarfilmschöpfer bezeichnen.
Drew: Sie haben recht ... Von meinem Standpunkt als Journalist aus gesehen, ist der Dokumentarfilm eine Ausgeburt der amerikanischen Presse. Er zeigt etwas, das schon schriftlich niedergelegt worden ist. Mit der Fernsehreportage ist es dasselbe, eine illustrierte Erzählung, an den Worten klebend, abhängig von der Presse, offiziellen Quellen, Vorschriften. Was uns von all diesem unterscheidet ist, dass bei jedem Geschehen der Mensch gezeigt wird, wie er in Situationen der Spannung, Bedrückung, Offenbarung und Entscheidung kommt. Diese Momente interessieren uns. Wenn etwas geschieht, das zählt. Vielleicht ist das mehr ein journalistisches als filmisches Prinzip.
Interviewer: Das bedingt aber eine unablässige Wachsamkeit. Wie bewältigen Sie dieses Zeit- und Anstrengungs-Problem? Gewisses geschieht an bekannten Orten in bestimmten Situationen. Aber es ist nicht immer möglich, dabei zu sein. Bei einem Erdbeben beispielsweise. Man ist in diesem Fall einfach gewohnt, seinen Hergang zu rekonstruieren, dramatisch zu gestalten um Glaubwürdigkeit, das Gefühl des Dabei-gewesen-Seins entstehen zu lassen.
Leacock: Es mag scheinen, dass diese ständige Wachsamkeit eine grosse Anspannung bedeutet. Doch habe ich erkannt, dass gerade dadurch viele meiner Vorstellungen von der Welt, in der wir leben, gerade vom Betroffenwerden durch solche Situationen herrühren. So musste ich meine Ansicht über den Krieg, wie ich ihn in den Kinos zu sehen bekam, vollständig revidieren. Damit möchte ich sagen, dass überall, wo man geht, man auf Dinge stösst, mit denen man viel zu wenig vertraut ist. Wichtig ist, sie überhaupt wahrzunehmen und sie dann möglichst echt andern mitzuteilen.
Pennebaker: Das menschliche Auge, im Lauf der Jahrtausende zu einem ungeheuer feinen Instrument geworden, kann ohne weiteres unterscheiden, was echt und was künstlich, ob ein Erdbeben nur rekonstruiert oder real. Aber sobald man etwas anzweifeln kann, stellt man sofort die Echtheit des ganzen Films in Frage. Ein guter Film ist einer, dem man glauben kann. Wie dies zu erreichen ist, weiss ich noch nicht ganz. "Film" verbindet sich für mich mit der Vorstellung, dem Gefühl, dass er kein Vortrag sein soll, aber es wohnt ihm dennoch die hartnäckige Versuchung inne, zu lehren. Dabei versuchen viele Filmschöpfer etwas zu erklären, das sie selbst zu wenig kennen. Für mich ist es aber wichtig, einen Standpunkt zu haben, obwohl man fähig sein sollte ... Ich glaube auch nicht, dass der Film der Wirklichkeit vorgreifen sollte, indem der Kommentator etwas erklärt, das die handelnde Person im Film gar noch nicht weiss. Kurzum: Film sollte etwas sein, das man nicht anzuzweifeln braucht. Man glaubt, was man sieht. Aber der Film zeigt nicht alles, er wählt aus ...
Interviewer: Dies führt aber zu einer Zweischneidigkeit. Sie möchten genau zeigen, was ist, ohne ihre Person zwischen das, was Sie zeigen und das Publikum zu stellen. Doch jeder Filmschöpfer schafft das, was er vorbringen will; es existiert vorher gar nicht. Es existiert überhaupt nie! Das heisst, es läuft als Geschehen ab; aber Ihr Blickwinkel, Ihre Auswahl und eigenwillige Art aufzunehmen schaffen eine Wirklichkeit, die gar nicht vorhanden ist. Oder höchstens vermöge Ihres Beobachtens.
Drew: Nein! Es ist Wirklichkeit. Ob wir Etwas auf diese oder andere Weise sehen, tut seiner Existenz keinen Abbruch. So sieht das Publikum, was wir sehen.
Interviewer: Das ist es ja gerade. Aber vielleicht hätte ein Mann aus dem Publikum am "Tatort" sein Augenmerk auf etwas anderes gerichtet. Sie aber übermitteln Detailaufnahmen, das heisst, Sie wählen bewusst aus und schaffen so künstlich etwas, das vorher gar nicht existiert.
Auch wenn man im Film äusserste Realität zeigt, ist der Film doch erfundene, gestaltete Realität! Anthropologen behaupten sogar, dass die Welt in Wirklichkeit gar nicht existiere, der Mensch "tue nur so, als ob", und jeder habe eine ganz persönliche Vorstellung von ihr. Alles, was man tut oder berührt, ändert sie.
Leacock: Darf ich etwas präzisieren: Wir filmen nicht einfach, was geschieht. Wir haben eine bestimmte Vorstellung, von dem, was wir möchten. Ich bin mir aber bewusst, dass unsere Auffassung dessen, was vorgeht, immer schrecklich falsch ist. So sind wir immer bereit, wenn die Situation sich klärt, uns an den Vorgang anzupassen, statt einfach zu bedauern, dass etwas nicht so abläuft, wie wir es dachten. Weil nämlich das effektive Geschehen meist viel verwickelter ist. Sodass man filmt, worauf man zuerst gar nicht acht gab und das ursprünglich Vorgesehene als unbedeutend erkennt und also weglässt. Das kann eine fünfminütige Szene geben, in fünf Minuten gedreht. Als Resultat zeigend, was kein Regisseur sich vorgestellt hätte und so mehr Erschütterung und Wahrheit in sich bergend als irgendjemand sich vorstellen, schreiben, gestalten könnte.
Etwas ganz anderes scheint mir noch wert, beigefügt zu werden. Nämlich, dass wir als Zweier-Team arbeiten (für Bild- und Ton-Aufnahme). Das Blickfeld der Kamera ist nämlich sehr beschränkt, der Kameramann sieht also sehr wenig von dem, was um ihn vorgeht. So ist es eminent wichtig, dass der Mitarbeiter fähig ist, nur schon durch den Tonfall seiner Stimme den andern auf etwas hinzuweisen, ihm eine Beziehung zum ganzen Geschehen zu vermitteln. Durch diese äusserst feine, sensible Verbindung zwischen den Beiden kriegt der Kameramann wenigstens eine Ahnung der Umgebung. Aber die Entscheidung, jede Kamerabewegung, hängt von ihm ab. Dieser Apparat ist ein Instrument des Sehens, Aufzeichnens und Hörens. Niemand kann dem Mann dahinter vorschreiben, was er zu tun hat. Das ist also eine äusserst delikate Angelegenheit; es braucht dafür viel Fingerspitzengefühl.
Sagen wir, ich filme eine bestimmte Situation. Wenn mich aber jemand fragt, weshalb es in diesem Moment wichtig war, dass ich einen Mann aufnahm, der Zucker in den Kaffee tat, was gar nichts zu tun hatte mit etwas, woran ich mich erinnern könnte - es wäre mir unmöglich zu erklären, weshalb ich es tat. Doch aus irgendeinem Grund war es eben wichtig.
Sobald mehrere Kameraleute dieselbe Szene bestreichen - es müssen nicht einmal alle mit Aufnehmen beschäftigt sein - nehmen sie Teil am ganzen Filmprozess, an Schnitt und Montage, weil all diese Auffassungen und Blickwinkel irgendwie zusammengefügt werden müssen, sodass die verschiedenen Ansichten (konkret und abstrakt) ein einziges, geschlossenes Bild ergeben. Wir filmen nicht einfach etwas und zeigen dann das. Wir bearbeiten es, um das zu erhalten, was uns vorschwebt.
Teil II: Zusammenfassung des Programms der Cinéma-Vérité-Verfechter
[Auszüge aus Interviews]
Es ist ein Aufzeichnen des Lebens, wie es ist. Anstatt dass der Filmschöpfer eine neue Realität schafft, verlegt er sich auf die Erfassung des Wesens einer momentanen Wirklichkeit, wie sie sich im Augenblick des Geschehens darstellt. Also ein Geschehen in höchstmöglicher Treue in seinem natürlichen Ablauf zu verfolgen und zu erfassen suchen.
Wir streben danach, das Hauptsächliche, die geheimnisvolle Bewegung des Lebens zu finden und es wiederzugeben im Sinn einer so exakt wie möglichen Realität, die vom Regisseur entdeckt wurde. Dieser lebt andauernd in Spannung (wie die amerikanische Gesellschaft in endloser Bewegung), immer etwas tuend, immer auf dem Sprung dabeizusein, wenn etwas läuft, und zwar nicht irgend etwas, sondern etwas Dramatisches. Das hat man dann als Geschichte zu erzählen; und gerade das versuchen wir. Den Hauptteil unserer Zeit (nach den zeitraubenden Aufnahmen, wo vom Kamerastandpunkt aus nur der Zufall gilt) verwenden wir auf die Sichtung des Materials: Worin besteht unsere Geschichte, und wie können wir sie zeigen? Wir brauchen aber kein romaneskes, dramatisches Element einzuführen, wir entdecken es im Leben selbst. Die dramatische Kraft, das Interessante und den gefühlsmässigen Gehalt seiner Wirklichkeit möchten wir herausarbeiten und so eine Spannung und Intimität schaffen, dass man meinen könnte, ein wohlausgedachtes Szenario läge allem zu Grunde. Bei allem aber legen wir hauptsächlich Wert auf die menschliche Seite eines Problems, nicht auf soziale oder politische Aspekte.
Methoden und Technik
Neben den Bemühungen hauptsächlich französischer Filmschaffender haben in den USA die Drew Associates (mit Robert Drew, Richard Leacock und Don Alan Pennebaker) sowie die ihnen angeschlossenen Gebrüder Maysles den Versuch unternommen, "ihr" Cinéma Vérité zu finden. Ursprünglich um der Schundproduktion und den miesen Dokumentarfilmen des Fernsehens auf den Leib zu rücken, sind sie heute ganz in seinen Bereich übergetreten. Es geht ihnen also nicht um Filmkunst, sondern um Publikumsbelehrung auf Grund filmischer Mittel, obwohl sie gleichzeitig den Anspruch erheben, auch für den Film wegweisend zu sein.
Vorerst eine kurze Beschreibung ihrer technischen Ausrüstung und ihres Vorgehens: Mit einer extraleichten, mittels eines Bruststativs oder auf der Schulter gehaltenen 16mm-Kamera bewaffnet, gruppieren sich die Mitglieder der Equipe um das Geschehen. Ultraempfindliches Filmmaterial, aber dennoch so feinkörnig wie möglich, erlaubt es ihnen, unter den herrschenden Lichtbedingungen, also ohne zusätzliches künstliches Licht zu arbeiten. Als Ideal schwebt ihnen die Vereinigung von Produzent, Regisseur, Szenarist und Operateur in zwei Personen vor: einem Journalisten und einem Photographen-Filmer.
(Natürlich wird auch für Nachwuchs gesorgt. Momentan sind etwa ein Dutzend Journalisten, Korrespondenten und Magazinphotographen in Ausbildung begriffen; niemand aber aus der Welt des Films, denn es wird alles auf die Television ausgerichtet. - Den gesamten finanziellen Hintergrund stellt übrigens die Time Inc.)
Wenn nun noch andere Mitarbeiter zur Aufnahme eingesetzt werden, haben auch sie bei der Montage dabeizusein, eine riesige Aufgabe, gilt es doch, ungeheure Mengen belichteten Materials (bis zu 30 km oder 120 Stunden) auf eine halbe bis ganze Stunde zusammenzuschneiden.
Das Problem der gleichzeitigen Aufzeichnung des Tons konnte nach langen Forschungsarbeiten gelöst werden: Zwei Mikrophone werden eingesetzt, das eine direkt mit einem Bandgerät verbunden, das andere mit dem Tonsystem der Kamera. Erst ward dies durch überaus hinderliche Kabel bewerkstelligt, nun ist eine absolute Synchronisierung durch den Einbau einer elektronischen Uhr in jedes Tonsystem und jede Kamera gewährleistet: Sie besitzt eine Präzision von 1 sec auf 100 Stunden. Durch ein stetes Steuergeräusch, das sie aussendet, ist es möglich, die Geschwindigkeit der Aufzeichnung auf Band und Film exakt kontrolliert zu halten, sodass es beispielsweise gelungen ist, ein Sinfoniekonzert mit sechs Kameras gleichzeitig zu verfolgen.
Teil III: Kritische Betrachtung von Absicht und Programm
Nun werden bereits einige Einwendungen laut: Die häufige Anwendung des Weitwinkelobjektivs verzieht das Bild, die Kameraführung ist meist sehr unruhig, ein ständiges Schaukeln, und der direkte Ton reproduziert normalerweise ungenügend oder schlecht. Man spricht sogar davon: Das Resultat ist mehr eine technische Leistung denn ein realer Film. Es sind bestenfalls Fragmente von aussergewöhnlicher Intensität, aber kaum genügend, einen Charakter für beliebige Zeit aufrecht zu erhalten; sie sind mindestens doppelt so lang als das Sujet erlaubte oder Interesse beanspruchen kann.
Zudem die unbefriedigende Montage. Dadurch, dass mehrere Aufnahmekomplexe von verschiedenen, individuellen Blickpunkten herrühren, ergibt sich der Zwang einer Montage. Unterschiedliche Teilstücke werden zwischen- und hintereinandergeschaltet (im Gegensatz zu Jean Rouch, der keine Montage verschiedener Kameras verwendet, wird hier künstlich eine eigentlich unerlaubte Spannung geschaffen), wenn eines davon abfällt, ergibt sich eine Lücke, und ist diese dann mit einem Kommentar verstopft, der Erklärungen und Schlüsse herbeizuzwingen bemüht, so ist das Unbehagen, das sich schon bei Auftreten traditioneller (Montage-)Tricks und Mätzchen eingestellt hat, perfekt.
Auf die Frage, ob Kommentar Lüge sei (ausser der Beschränkung auf nackte Fakten) erwiderte Drew: "Es kommt gar nicht darauf an, ob ein Kommentar wahr ist oder unecht. Ein solcher ist einfach schwach, wie es auch ein Vortrag im Film ist. Ein Film ist kein Referat, er ist das Leben. Wir wollen keinen Kommentar, sondern Bilder sprechen lassen.“ Schade, dass er sich, dieses Versprechens zum Trotz, verpflichtet fühlte, z. B. in "Kenya", einem nach eigenem Urteil wenig geglückten Versuch in der Richtung des klassischen Dokumentarfilms, an Stellen fehlenden Dialoges einen wortreichen Sprechertext zu verwenden.
Bei Jean Rouch, der eine allzuleicht gefundene Wahrheit vermeiden, dafür "an die Quelle der sozialen Komödie (und Tragödie) hinabdringen möchte", ist das Wichtigste, dass seine zur Filmaufnahme gewählten Personen wissen und empfinden, dass sie gefilmt werden. (Sie werden gefragt und stellen Fragen. - Ob dafür die filmische Form der Gesprächsaufzeichnung unbedingt erforderlich ist, bleibe dahingestellt.) ) Die amerikanische Equipe aber will die Leute vergessen machen, dass sie sie filmt, sie dürften sich dessen nicht bewusst sein. Das sollte ermöglichen, das Individuum in seiner (unbeobachtet geglaubten) Spontaneität zu packen, sodass ein Charakter auf dem Bildschirm lebt, seine Autonomie bewahrt und im Besitz seiner ganzen physischen und psychischen Personalität bleibt. Ändern aber Personen, die gewahr werden, dass sie im Blickpunkt stehen (denn unbeobachtet kann man nicht aus der Nähe filmen), nicht ihr Verhalten? Fällt einem Betrachter dies auf, so führt er es auf die ungenügende Technik zurück.
Noch weiter haben sich Leacock und Drew auf die Äste hinausgewagt, indem sie nicht die Fragwürdigkeit spontaner, echter Darstellung sondern einer Schauspielerin (Jane Fonda) verfolgten, also Natürlichkeit im Gespielten suchten.
Über das Resultat schrieb ein Kritiker: Verhält sich eine Spielerin so, wie sie es normal tun würde, wenn sie eine Kamera auf sich gerichtet weiss? Sie müsste sich ja in diesem Fall gegen ihre eigene Natur, als Schauspielerin, auflehnen. Man begeht wohl kaum eine Unterstellung, dass Jane Fonda, wie in minderem Masse alle andern Menschen auch, sich in einer solchen Situation so benimmt, wie sie sich gerne auf der Leinwand sehen möchte. Sie projiziert also in dieser Zeit ein Wunschbild in ihr eigenes Verhalten. Und mit dieser Feststellung dürfte die Frage nach der Authentizität und Spontaneität der Aussage der Atmosphäre beantwortet sein.
Des weitern könnte man diese Filmschöpfer einer Ungehörigkeit bezichtigen. Denn, geht es an, dass man einfach Leute ihrer Privatsphäre beraubt, ihnen nachstellt, sie mit sichtlicher Freude ausquetscht, blossstellt und sich anmasst, ein Urteil über sie abzugeben, zu behaupten, das sei jetzt die Wahrheit über diese Person?
Damit kommen wir gerade zum Kernpunkt unserer Betrachtung. Wie nie zuvor, haben diese neuen Filmmethoden einen grossen und berechtigten Beitrag zu dem alten, aber grundlegenden Problem geleistet: Kann absolute Objektivität überhaupt existieren? Und von da an ist es rückschliessend nur ein kleiner Sprung zu der Frage: Ist dieses ganze Cinéma Vérité nicht einfach Betrug, Heuchelei? Gerade weil ihre amerikanischen Vertreter die ernsthaftesten, mit den lautersten Absichten versehen, gleichzeitig rührend naivsten Filmschöpfer sind, die an ihre Sache glauben, ist ein solcher Einwurf gerechtfertigt. Ist ihre Sicht wirklich die einzig richtige, rechtfertigen sie das Vertrauen, das man in sie setzt, indem sie die ganze Wahrheit bringen, nichts verschweigen und bewusst weglassen, keinen Tatbestand verfälschen? Warum kann es soweit kommen, dass der Zuschauer mit einem vollkommen falschen Bild der Situation aus dem Kino tritt - trotz der redlichen Bemühungen der Hersteller des Films?
Auch die noch so versuchte Objektivität lässt bei ihrem Verfahren das Engagement der Autoren mehr denn je sichtbar werden. Geben sie doch zu, dass die Montage schon während der Aufnahme überlegt sein, filmisches Material produziert werden muss, das man später auch verwenden kann. Und was ist Montage anderes als: ausgewählte Sujets sichten, dann werten und schliesslich nach dem Leitbild einer bestimmten Vorstellung zusammenfügen, ansonsten etwas völlig Bedeutungsloses entsteht.
Obwohl diese Filmschöpfer also auf ihre Glaubwürdigkeit (indem sie vorgeben, der Realität treu zu sein) pochen, schleicht sich doch ein unangenehmes Gefühl von Unredlichkeit ein. Und wer wagt zu behaupten, er hätte noch nie etwas von Tendenz gehört?
Kurz und gut: Diese Pioniere und Verfechter eines Film-Journalismus, der Ciné-Reportage, welche auf Grund eines "cinematic Rousseauism" der "vérité émotive" nachspüren, sich als die berechtigten Nachfolger des italienischen Neo-Realismus betrachten (von dem sie zu loben wissen: „eine Spontaneität, geschaffen durch die bewegliche Anwendung einer Technik, die vom Todeskampf gezeichnet“), gegen den üblichen Dokumentarfilm ins Feld ziehen („nichts als Geschwätz, nur aus Kommentaren und Erzählung bestehend, gelenkt, künstlich“) und nichts mehr mit den "Konserven-Formen" von Literatur (wie bei Resnais), Theater (Kazan) oder den plastischen Künsten (Antonioni), nichts mit "Text-Buch-Prinzipien" zu tun haben wollen, sondern ihrem Vorbild, dem "great old man", Flaherty (bei dem Leacock Kameramann war) verehrungsvoll nacheifern, haben gewiss eine neuartige, bewunderungswürdige und entwicklungsfähige Technik und Strömung ins Leben gerufen, die für einige wenige, vereinzelte Sujets prädestiniert (Life-Aufnahmen nicht reproduzierbarer Ereignisse), für andere, weitaus die meisten aber (auch die sie schon selber angegangen haben), verfehlt erscheinen muss; konventionelle Mittel eignen sich auch heute noch vielerorts bedeutend besser.
Diese kurzen, vielleicht etwas heftigen Anmerkungen wollen keinesfalls als bösartige oder überhebliche Kritik verstanden werden, sondern sollen ein klein wenig helfen, die Problematik des Cinéma Vérité darzulegen, zumal seine Verfechter allzusehr von ihrer Sache voreingenommen zu sein scheinen, unbelehrbar auf ihrem Standpunkt verharren (was sich bei verschiedenen Diskussionen in letzter Zeit leider deutlich zeigte).
Doch eine gewisse Einseitigkeit ist bei allen Pionieren, die irgendeinem Gebiet vollkommen neue Möglichkeiten erschliessen, seit jeher anzutreffen gewesen, und das war gut so, denn sonst hätten sie gar nicht zu ihren umwälzenden Neuerungen gelangen können. Wenn also die Erkenntnisse dieser neuen Filmschöpfer tiefer und überlegter ausgeweitet werden und ihre Anhänger und Nachfolger den richtigen Weg weiterverfolgen, so lässt sich diesem in seinen Ansätzen durchaus hoffnungsvollen Unternehmen eine Zukunft voraussagen.
Teil IV: Kanada: „candid eye“
Kanada ist eines der grossen Länder, welche seit Bestehen des Films sich nie mit abendfüllenden Spielfilmen beschäftigt haben; diese Produktion wurde von andern Ländern, hauptsächlich den Vereinigten Staaten, befriedigt. Dafür spezialisierte man sich sehr bald auf industrielle und Dokumentarfilme, vor allem unter der initiativen Leitung des "National Film Board" oder "Office National du Film", welches 1939 von John Grierson begründet wurde.
Das anfangs der Fünfzigerjahre aufkommende Fernsehen meldete bald umfangreiche Forderungen für Sendematerial an. Dabei kam es weniger auf die photographischen und dramaturgischen Qualitäten als auf die Quantität und schnelle Lieferung der vom ONF hergestellten Filme an. Die durch die aussergewöhnlich starke Nachfrage angekurbelte Produktion hatte ein sofortiges Suchen nach neuen Aufnahmemethoden und -instrumenten zur Folge: Improvisation und Spontaneität wurden grossgeschrieben; bis auf das Format von 8mm ging man in den Versuchen hinunter. Dann begann man die Cinéma-Vérité-Ansätze aus Europa zu übernehmen, allerdings in der Form des "candid eye", mit der Technik der "images choc", der unvorbereiteten Aufnahmen (ähnlich wie Leacock-Maysles, im Gegensatz zu den arrangierten der Franzosen), Ereignisse einfangend, direkte Reportagen, "Momente der Wahrheit"; man sprach von Aufnahmen im Affekt, mit "esprit de recherche", als audio-visuelle Dokumente, bei denen der Ton das Bild führen soll.
Es bildeten sich einige Produktionsgruppen, in denen jeder Mitarbeiter je nachdem ganz verschiedene Funktionen übernehmen kann, wechselweise Regisseur, Szenarist oder Cutter ist; dabei wird besondere Bedeutung der Zusammenarbeit zugemessen, die gleichzeitig aber dem Individualismus des Filmschöpfers mehr Entwicklungsfreiheit lässt als das früher mit der strengen Arbeitsteilung der Fall war.
Das Vorgehen und die Aufnahmetechnik ist dieselbe wie bei Leacock-Maysles: Tauchen in Gruppen und Situationen; der Kameramann mit einer ultraleichten Kamera auf der Schulter sich darin bewegend; direkte Tonaufnahmen mit "micro-cravates".
Bei den fertigen Filmen treten zwei Eigenarten besonders hervor: Die Bildfolge wird oft mit klassischer Musik (Bach-Vivaldi zu einem Boxmatch) und meist recht aufdringlichem Kommentar unterstrichen, im Sinne einer kontrapunktischen Steigerung der Expressivität des Geschehens -, und zum andern das oftmalige Abgleiten ins Aufzeichnen lächerlicher oder absonderlicher, gefährlich einseitig zu interpretierenden Details, ein Interesse am Verfolgen einzelner Bewohner einer Stadt bei ihren Tätigkeiten (Arbeiter, "Durchschnittsbürger"), oder an Isolierten, Aussenseitern der Gesellschaft (Gescheiterte, Alkoholiker, Geisteskranke). Es ist ganz klar, dass diese einfachen Objekte in einem eindeutig gefärbten Milieu zugleich die dankbarsten und profiliertesten sind zum Erproben der neuen Mittel, weil man ihnen trotz ihrer anekdotischen Oberflächlichkeit (Was ist hier speziell, was allgemein verbindlich?) den Mantel einer sozialen Analyse umhängen kann.
Doch versprechen die Namen einiger führenden Gestalten: Wolf Koenig, Roman Kroitor, Claude Fournier und Claude Jutra auf Grund ihrer bisherigen Leistungen einiges; und Michel Brault hat zudem mit seinem "Pour la suite du monde" ein Werk geschaffen, dem man die geradlinige Fortsetzung der Poesie eines Flaherty nachrühmt und es als vorderhand beachtlichstes Werk des amerikanischen Cinéma Vérité bezeichnet.
[Michel Brault, *1928 Montréal. Amateurfilme mit Jutra 1949/59. Kameramann für das Fernsehen zwischen 1953 und 1960. Für je zwei Filme von Rouch und Ruspoli an der Kamera. Gilles Groulx, *1931 Montréal. Zuerst Cutter und Regisseur beim Fernsehen. Claude Jutra, *1930 Montréal. Zuerst Komödiant. Seit 1950 beim Fernsehen. Wolf Koenig, *1929 Dresden. Nach Kanada 1936.]
Nun liegt es also einzig an der Zeit und dem Einsatz dieser Filmschöpfer, ihre Bemühungen zu einer lebens- und bestandfähigen neuen Filmform auszubauen; die Voraussetzungen dazu sind vorhanden.
Teil V: Verwandte Spielfilme in den USA
Unter dem Leitbild eines spontanen Films, der „roh, unperfekt, aber lebendig, in der Farbe des Blutes“ Themen und Menschen behandeln sollte, die bisher nur ungenügend oder überhaupt nicht zur Darstellung gekommen waren, baute sich in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre an der Ostküste der USA, vor allem um New York, eine Strömung auf, die 1960 im Manifest der ‚Group’ ihre Fundierung erhielt. Unkommerzielle junge Regisseure machten sich mit einem sehr bescheidenen Budget von 40 000 bis höchstens 800 000 Franken daran, Rassenprobleme, Aussenseitertum, überhaupt das Leben in einer grausamen Welt des Hasses, des Elends und der Unmenschlichkeit eindrücklich aufzuzeichnen.
Die wichtigsten Werke dieser Gruppe (die heute infolge der Ignoration durch Produzenten und Verleiher, aber auch des Publikums wieder zerfallen ist), welche sich von den vorgängigen Filmen von Lumet, Ritt, Aldrich, Mann und Kubrick stark unterscheiden, sind:
Wenn auch diese Filme nicht unmittelbar zum Cinéma Vérité zu zählen sind, besteht gleichwohl eine grosse Affinität dazu. Einerseits durch die Themenwahl, die Absicht, ungeschminkt das Leben einzufangen, anderseits durch die (zumindest teilweise) Übernahme der Technik, wie tragbare Kameras, mit denen man die Menschen auf der Strasse verfolgt, oder dann die direkten Tonaufnahmen. Spontanes Spiel von Laien, ungekünstelter und unvorbereiteter Dialog, sowie der beinahe vollständige Verzicht auf künstliche Bauten und Dekors gehören dazu.
Gleichwohl ist aber die Differenz etwa zwischen den Werken von Mekas, Cassavetes und Rogosin ausserordentlich gross; der eine kommt von der Sprache (Lyrik) her, der andere von der künstlerischen Gestaltung und der dritte vom Problem, einem Anliegen.
Da das Cinéma Vérité hauptsächlich eine thematische und technische Form ist, die mehr Gewicht auf die Darstellung einer Gegenwartssituation, von sozialen oder ethnographischen Problemen und Aspekten legt als auf einen allfälligen Kunstanspruch, sei hier als kurz zu besprechendes Beispiel «Come Back Africa» herausgegriffen [die Kamera bediente der Schweizer Ernst Artaria].
Von einem Zulu, der in Johannesburg ein unermüdliches Ringen darum führt, Arbeit, eine Anstellung zu erhalten, um seine Familie ernähren zu können, handelt der Film. In einer elenden Wohnung irgendwo in der grauen und trostlosen Vorstadt hausen diese Neger; ihre einzigen Freuden sind ihre Musik, Spiele und Tänze. Innere Zwistigkeiten, Trennung in Parteien und ein Bandenterror sind nicht dazu angetan, die Situation zu verbessern. Eine ausführliche, packende Diskussion unter intelligenten Schwarzen wirft anschaulich den vielschichtigen Problemkomplex auf, verzichtet auf Schwarz-Weiss-Malerei, stellt dafür Verschiedenes klar und dar: auf beiden Seiten Missachtung, Ungerechtigkeiten, ungenügende Verständigung und fehlendes Verständnis, ein Mangel an gutem Willen, etc. («Die Weissen möchten uns gerne patronisieren und uns vertrösten: In einigen Jahrzehnten werdet ihr dann auch zivilisiert sein»).
Wenn auch die im Gesamteindruck etwas einseitig erscheinende Sicht dieses Dokuments Anstoss erregen könnte, so ist doch das Bemühen um ernsthafte Aufrichtigkeit und gleichzeitig Objektivität nicht zu verkennen. Es versucht auf die verschiedenen Ansichten von Schwarz und Weiss einzugehen, nicht zu verallgemeinern und vor allem einfach zu zeigen, was bisher unbekannt war. Die Eindrücklichkeit der atmosphärisch sehr dichten Zeichnung wird im Gegensatz zum Cinéma Vérité gerade dadurch erreicht, dass man eine dramatische Gestaltung und Konzentrierung des Geschehens wagte.
(Die ersten vier Teile erschienen 9.5.-20.6. 1964 in der Zeitschrift „Film+Radio"; eine in der Reihenfolge einzelner Abschnitte veränderte Fassung der Teile II-IV, ergänzt durch Teil V, erschien in der Juli-Nummer 1964 der Filmzeitschrift „Cinema“, 484-492, mit einer ausführlichen Dokumentation)
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