Fernsehen - aus der Nähe gesehen
„Télévision expérimentale Lausanne“
Ein Bericht von Felice Antonio Vitali
Schweizer Illustrierte, Nr. 13, 28. März 1951
Soeben ist der Schnellzug aus Genf in den Bahnhof Lausanne eingelaufen. Die Reisenden, die ihren Weg durch die Haupthalle nehmen, machen erstaunte Augen. Hinter einem langgestreckten Wandschirm drängt sich viel Volk, Bein an Bein, die Köpfe sieht man nicht. „Was ist passiert?“ schnauft ein Herr mit zwei grossen Koffern. „Wo sind denn heute die Dienstmänner?“ Das Fräulein im Zeitungskiosk deutet nach dem Paravent hinüber: „Sie sind alle dort - pour voir la télévision, Monsieur.“ Wegen des Fernsehens? Tatsächlich da stecken sie mitten in der Menge, die wie gebannt nach dem Billettschalter starrt, aus dem ein Projektionsapparat herausschaut. Es zuckt und flackert, und plötzlich erscheint auf dem erleuchteten Bildschirm ein Fähnchen. Darauf die Worte: Television experimentale Lausanne. Der Reporter blickt zur Bahnhofuhr empor. 18.03 Uhr. Das Fernsehen hat am Lac Léman seine ersten Gehversuche gemacht. Auch im Foyer des Theaters, in einer Passage in den Schaufenstern verschiedener Ladengeschäfte stehen weitere Empfänger, und überall stauen sich die Leute.
Die Initiative zu diesem originellen Werbefeldzug ging von den Stadtbehörden aus und fand, wie man sich vorstellen kann, bei den jungen Technikern und zukünftigen Ingenieuren der Ecole Politechnique begeisterte Aufnahme. Allerdings, ohne die bereitwillig gewährte Hilfe der Direktion von Radio Lausanne und eines führenden Unternehmens der Radioindustrie wäre die Idee nie verwirklicht worden. Während mehrerer Monate soll nun die auf dem Studiodach auf der Höhe von La Sallaz errichtete Sendeantenne ein kurzes tägliches Programm ausstrahlen. Man will also das umstrittene Fernsehen mit seinen vielschichtigen Problemen von der praktischen Seite her anpacken. Und zwar in aller Öffentlichkeit, unter den Augen der lebhaft mitgehenden und interessierten Welschen, die sich sichtlich darüber freuen, dass man ob all dem Studieren das Probieren nicht ganz vergisst.
Die Dauer der Experimente rückt die Frage der Programmgestaltung stärker in den Vordergrund und zeigt so, was für Möglichkeiten in einem kleinen Lande liegen, aber auch, wo ihm Grenzen gesetzt sind. Die Vorarbeiten für die Sendungen begannen vor mehreren Monaten. So drehte schon im Dezember eine Equipe der Condor Film, Zürich, mit der Unterstützung der Swissair und einer Berner Firma, die erste schweizerische Fernsehreportage, den Erlebnisbericht eines Besuches in drei europäischen Studios: Hamburg, Paris, London. Während dieser Flugreise wurde dieser Equipe so richtig bewusst, welche Unsummen an menschlichen Energien, wieviel Können, Zeit und Geld für die Entdeckung und Auswertung des drahtlos gesendeten Bildes schon aufgewendet worden sind, wobei oft auch der Name schweizerischer Forscher fiel, die besonders auf dem Gebiete der Fernseh-Grossprojektion Entscheidendes geleistet haben. Gleichzeitig war es jedoch eine Reise durch drei Entwicklungsphasen: Im provisorischen Hamburger Studio roch noch jeder Raum nach frischer Farbe und atmete Pioniergeist. In Paris triumphierte die schöpferische Phantasie in einer „Grande création“, die alles zu mobilisieren schien, was Frankreich an illustren Namen, bezaubernden Frauen, Charme und Esprit vor Kamera und Mikrophon bringen kann. Und in London? Vielleicht charakterisiert man die in jeder Hinsicht erstaunliche Tiefen- und Breitenwirkung der britischen Television am treffendsten, wenn man feststellt: das Fernsehen gehört heute zum Komfort der Engländer, genau wie das heisse Badewasser. Nicht die reichen, sondern gerade die einfachen Leute bilden die Masse der „Viewers“.
Aufstieg oder Niedergang der Kultur? Jenseits des Kanals zerbricht man sich nicht den Kopf darüber. „Mache das Beste daraus!“, lautet dort die Devise.
Sendung
Die Sendungen gehen von diesem behelfsmässig eingerichteten Versuchsstudio aus - ein kleiner Raum im Kellergeschoss von Radio Lausanne. Sein Inventar: Kamera, Mikrophon, sieben Scheinwerfer. Tisch und ein paar Stühle. Der Operateur steht auf einem rollenden Podium, das von einem Gehilfen vor- und rückwärts bewegt wird. Davor zwei Akteure des Eröffnungsprogramms. Regisseur, Ansagerin, Ingenieur und Techniker ergänzen das Personal. Auch die 40 Meter hohe Sendeantenne steht in La Sellaz oben.
Empfang
Und hier das, was man während derselben Szene auf dem Schirm des Demonstrationsapparates in der Bahnhofhalle sah. Aus dem flimmernden Licht guckte plötzlich ein erstauntes Clowngesicht, und weissgeschminkten Lippen formten ein langgezogenes Aaah! Die Kinder lachten, aber unser Photograph schwitzte. Fernsehbilder, gestand er uns, sind schwer auf die Platte zu bringen.
So urteilt das Publikum
Der Gymnasiast: „Wenn es kommt, will ich mir den Empfänger selber bauen. Ich bin ein begeisterter Bastler. Allerdings, etwa zwei Jahre muss ich wohl noch warten. Das Fernsehen bringt vielleicht gewisse Gefahren mit sich. Aber, sind Schwierigkeiten ein Grund, um einer Sache auszuweichen?»
Die Dame mit der Feder: „Mais c'est épatant! Ich möchte einen solchen Apparat gerne zu Hause. Doch wahrscheinlich ist er ziemlich teuer, oder nicht? Ich bin dafür, selbst wenn es Opfer kostet. Die Kinder würden sich riesig freuen.“
Die Skeptikerin: „Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass ich das in meiner Stube haben möchte. Ich bin mit der Musik auch ganz zufrieden, wenn man keine Bilder dazu sieht. Non, Monsieur, ich kann mich wirklich nicht dafür begeistern.“
Der Dienstmann: „Ich erinnere mich noch gut, dass die ersten Radioapparate auch gar nicht billig waren. Ich habe mich immer für Radio und Film interessiert. Wissen Sie, bevor ich Dienstmann wurde, war ich Kameramann.“
Die Schweiz - Fernseh-Drehscheibe Europas?
Zwei von vier kompetenten Stimmen
Hamburg
Dr. Werner Nestel, technischer Direktor des Nordwestdeutschen Rundfunks: „Wir haben in Deutschland vor etwa zwei Jahren angefangen, wieder an Fernsehen zu denken und uns schon damals auf die 625 -Zeilen-Norm festgelegt, die heute zur internationalen Norm geworden ist. Wir freuen uns, dass sieh auch die Schweiz dafür entschieden hat, sodass wir infolgedessen keinerlei technische Schwierigkeiten mit einem zukünftigen Programmaustausch haben werden. Dank ihrer zentralen Lage besitzt die Schweiz den grossen Vorteil, als Drehscheibe für Europa fungieren zu können, und ich glaube, es wird möglich sein, die Sprachschwierigkeiten im Fernsehen zu überwinden, so dass wir einen guten und für alle Teile befriedigenden Programmaustausch haben werden.“
Bern
Dr. Walter Gerber, Beauftragter für das Fernsehen der Generaldirektion PTT, sagt uns: Das Heimfernsehen einzuführen, ist zweifellos eine schöne und interessante Aufgabe der kommenden Jahre. Als weitere Entwicklungsstufe des Rundspruchwesens eröffnet ee neue Möglichkeiten der Erbauung und Belehrung. Unser künftiges Heimfernsehen soll aber nicht nur ein neues Ausdrucksmittel sein. Wir erwarten von ihm eine Bereicherung des Programmschaffens, und nicht zuletzt neue Betätigungsmöglichkeiten für Handel, Gewerbe und Industrie. Die Grösse des Vorhabens zwingt uns allerdings zu einem wohlabgewogenen, schrittweisen Vorgehen. So unterscheiden wir heute drei äussere Aufgaben:
„Nume nid gschprängt, aber gäng hü!“
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