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Eine Skizze  zur Lebensphilosophie im Januar 1973

 

Der Einstieg in die "Lebensphilosophie" ist nicht so leicht zu finden wie es den Anschein hat.

Bei Nietzsche, Dilthey oder Bergson anzusetzen ist zwar gewiss fruchtbar, doch für eine Grundbesinnung unzulänglich.

Lässt man sich auf Paracelsus und van Helmont, die französischen Moralisten, Rousseau, den Sturm und Drang, die Irrationalisten Herder und Jacobi oder die Romantik verweisen, gewahrt man bald, dass auch hier das Problem nicht an der Wurzel gepackt werden kann.

Müsste man also bei den Vorsokratikern und Aristoteles, bei den Stoikern und Epikuräern beginnen? Sogar dies könnte noch "zu spät" sein, wenn wir an die "Mythen der Völker" (Pierre Grimal, 1963; dt. 1967) und die "Religionen der Erde" (Carl Clemen, 1927/49) denken.

 

Mit andern Worten: Die Entstehung der Welt und des Lebens, ihr Wesen, Sinn und Ziel, ihre Ganzheit, Ordnung und Lenkung sowie die Stellung und Aufgabe des Menschen darin hat die Menschen seit Jahrtausenden beschäftigt. Ob dies in religiöser und magischer, in mythischer und gnostischer, in logischer oder erkenntnistheoretischer Form und Absicht geschah, ist, wie neuere Forschungen gezeigt haben, von sekundärer Bedeutung.

 

Mythen und Glauben auch im 20. Jahrhundert

 

Es ist noch nicht lange her, da herrschte in einem europäischen Land der "Mythos des 20. Jahrhunderts" (Alfons Rosenberg, 1930), und in noch jüngerer Zeit untersuchte Eugen Böhler den "Mythos in Wirtschaft und Wissenschaft" (1965). Schliesslich ist auch der Satz von Carl Friedrich von Weizsäcker (in: "Die Tragweite der Wissenschaft" I, 1964, 3) bekannt: "Der Glaube an die Wissenschaft spielt die Rolle der herrschenden Religion unserer Zeit.“ Von Reinhard Bendix erschien 1972 eine kleine Schrift sogar unter dem Titel: „Der Glaube an die Wissenschaft“.

 

In der Naturwissenschaft fliesst Blut

 

Wir sind den Weg "vom Mythos zum Logos", dessen Bahnung Wilhelm Nestle (1940) bei den alten Griechen ansetzt, anscheinend noch nicht zu Ende gegangen.

Das erhellt deutlich in der "Wissenschaftstheorie". Wolfgang Stegmüller beschreibt unter diesem Stichwort im Fischer-Lexikon "Philosophie" (1967, 348) den Zusammenhang zwischen der theoretischen Stufe und der Erfahrungsstufe einer Naturwissenschaft wie folgt:

  • "Die Gesamtheit der beobachtbaren Vorgänge und Phänomene wird durch eine Ebene repräsentiert. Über dieser Ebene erhebt sich ein dreidimensionales Netzwerk, welches die Theorie symbolisiert." Dieses Netzwerk ist an gewissen Punkten in der Ebene verankert. "Die Berührungspunkte zwischen Netzwerk und Beobachtungsebene (‚Interpretationsanker’) entsprechen den Zuordnungsregeln ... Mittels der Berührungsstellen auf der Ebene fliesst das Blut der empirischen Realität durch die Verbindungslinien bis in die von der Ebene am weitesten entfernten Knotenpunkte des Netzwerkes hinein, welche die Grundbegriffe der Theorie repräsentieren."

 

Die „Masse“ der Physik ist ein lebendiges Organ

 

Ähnliche "Bilder" verwendet auch die Physik. Wir wollen nun nicht von kuriosen Bezeichnungen wie "Spallation", "Kerndesintegration", "Versetzung“, "Zeitumkehr", "Strangeness", "negative Zustände", "verbotene Linien und Zustände" (vgl. Gerald Holton in "Gibt es Grenzen der Naturforschung?", 1966, 88), usw. sprechen, sondern im zehnbändigen "dtv-Lexikon der Physik" (1971, Band 7, 305) unter "Relativitätstheorie" nachsehen was zur Masse gesagt wird.

Wir finden die Behauptungen, die schwere Masse sei gewissermassen das "Organ" eines Körpers für Gravitationswirkungen, während die träge Masse sein Organ für die Massstruktur der Welt oder das metrische Feld sei. Letztere "weiss, wohin es geradeaus geht und was gleichförmige Bewegung heisst".

Unter dem Stichwort "Masse" (a. a. O., 1970, Band 6, 81) werden diese Organe gar als "Fühlorgane" bestimmt, und die träge Masse "strebt" gleichförmig geradlinige Weiterbewegung an, "wehrt" sich gegen jede Geschwindigkeitsänderung nach Betrag oder Richtung und kann gerade von krummen Bahnen, gleiche von ungleichen Strecken und Zeiten "unterscheiden".

 

Wenn das nicht gerade Mythologie ist, so versteckt sich doch dahinter ein Anthropomorphismus, der denjenigen, wie ihn Verhaltensforscher in Bezug auf Tiere gerne anwenden, weit in den Schatten stellt.

 

Bedeutet das Irrationalismus?

 

Wohlverstanden, wenn hier vom Blut der empirischen Realität und der strebsamen, fühlenden und wissenden Masse die Rede ist, bedeutet das noch lange nicht einen Irrationalismus. Es soll uns aber ein Hinweis darauf sein, nicht unbedacht auf die "Mythen der Völker" herabzusehen, allzusehr auf Rationalität zu pochen und die Lebensphilosophie voreilig des Irrationalismus zu bezichtigen.

 

Als Irrationalisten gelten nämlich auch der Rationalist Pascal, der Voluntarist Maine de Biran und Goethe, der deutsche Idealist Schelling, der Pessimist Schopenhauer, der Begründer der Existenzphilosophie Kierkegaard sowie der Vertreter des transzendentalen oder kritischen Realismus oder der induktiven Metaphysik Eduard von Hartmann.

 

„Auch in der Gegenwart sind mystische Tendenzen nicht zu übersehen“

 

Wer nicht an die völlige Konfusion der Bezeichnungen glaubt, der vergleiche nur einige wohlfeile philosophische Wörterbücher betreffs der Stichworte Vernunft und Verstand, Idealismus, Pantheismus, Philosophie und Metaphysik oder Mythos und Mystik.

 

Eine Antwort auf diese Verwirrung und, je nach Standpunkt, gegenseitige Abklassifizierung versucht Alwin Diemer im Fischer-Lexikon "Philosophie" (1967, 186) zu geben:

  • "Auch in der Gegenwart sind mystische Tendenzen nicht zu übersehen, selbst dort, wo man sie eigentlich nicht erwartet, etwa bei den anscheinend so radikal anti-irrationalen Bestrebungen moderner Wissenschaftlichkeit; gerade hier zeigt sich immer wieder die seltsame Erscheinung, dass Wissenschaftler, ähnlich wie früher Pascal, auf der einen Seite extrem rationalistische Denker und zugleich ausgesprochene Mystiker sein können."

 

Er führt als Beispiel sogar Wittgenstein an. Ein moderneres Paradeexempel wäre etwa des Atomphysikers Bernhard Philberths "in strengster Klausur" entstandenes, über 500seitiges Buch "Der Dreieine" (1970). Es beginnt mit den Sitzen:

  • "Gott hat die Welt geschaffen durch sein Wort ... Der Mensch ist als Gottes Ebenbild geschaffen ... Die Welt - vom Atom bis zu den Sternenheeren des Weltalls, vom flüchtigen Gedanken bis zu den Ideologien der Weltmächte, vom Kindertreiben bis zu den Grosstaten der Weltgeschichte - ist ein ebenso gigantisches wie geheimnisvolles Spiegelbild des allgewaltigen Gottes."
  • Und es schliesst mit den Sätzen: "Er zeigt nicht den Weg. Er sagt nicht die Wahrheit und Er bringt nicht das Leben, sondern allein Er selbst Ist der Weg, Ist die Wahrheit und Ist das Leben; Er, der Herr über das Sein und das Nichts im allgewaltigen Wort; Er, der Herr über Leben und Tod, der Herr des Gerichtes; Er, der Dreieine.“

 

Der Mensch wird immer sprechen

 

Wittgenstein beschloss seinen "Tractatus logico-philosophicus" (1921) mit den Worten: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen." Er selbst hat das nicht getan, genauso wie das weder Buddha, noch die Mystiker des 12. bis 18. Jahrhunderts, weder die Philosophen des Unbewussten und Irrationalen noch eben die Physiker des 20. Jahrhunderts taten.

 

Der Mensch wird nicht aufhören zu denken, zu sprechen und zu schreiben. Sei es über das unnennbare Tao oder die Transzendenz, sei es über das Atman (Selbst) oder das Immanente, sei es über das Chaos und den Kosmos, sei es über das Leben und den Tod, über die Versenkung und das - Schweigen.

 

Wie sieht man die Lebensphilosophie?

 

Genauso wie die Gestalt- und Ganzheitspsychologie als Ablösung der Elementen- und Assoziationspsychologie, die Erlebenspsychologie als Überwindung der Bewusstseinspsychologie betrachtet wird, so kann auch die Lebensphilosophie als Nachfolgerin der Geistphilosophie (so z. B. in Fritz Heinemanns "Neue Wege der Philosophie", 1929) angesehen werden.

Doch in der Psychologie machten sich daneben der Behaviorismus, die objektive Psychologie und, die Verhaltensforschung breit, in der Philosophie die Logistik und Analytische Philosophie, die Phänomenologie, Ontologie und Existenzphilosophie, und schliesslich haben wir auch die ungeahnte Ausbreitung des dialektischen Materialismus festzustellen.

 

Die ältere Lebensphilosophie einfach als Gegenkraft etwa zu Rationalismus und Aufklärung, die Romantik als Gegenbewegung zum Idealismus und zum anbrechenden Maschinenzeitalter, den Vitalismus als Gegenrichtung zum Darwinismus sowie die neuere Lebensphilosophie als Gegensatz zum Positivismus, Neukantianismus und zur machtvoll sich ausbreitenden Naturwissenschaft zu sehen, das hiesse wohl, die Verhältnisse allzu einfach einzuschätzen.

 

Ebenso verfehlt wäre es, mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges den Tod der Lebensphilosophie zu diagnostizieren. Gewiss war damit eine Epoche abgeschlossen, doch dass die Lebensphilosophie durch den Existentialismus und die Renaissance der Phänomenologie, durch die Sprachanalyse und Wissenschaftstheorie oder gar durch Kybernetik, Systemtheorie und Strukturalismus überwunden worden wäre, kann nicht so ohne weiteres behauptet werden.

Zwar finden sich unter dem Stichwort "Lebensphilosophie" in der "Deutschen Bibliographie" nach 1945 zahlreiche Betrachtungen über den "Sinn" des Lebens oder Daseins (z. B. Max Planck, 1947; Hans Reiner, 1960; Helmut Gollwitzer, 1970).

 

Alte und neue Lebensweisheiten

 

Selbstverständlich gab es auch eine Flut eher erbaulicher und moralisierender Natur, wofür hier nur ein Titel stehen soll: "Der Unfug des Sterbens - Der Unfug des Lebens - Das Ende des Unfugs“ (Prentice Mulford, 1950, übrigens bereits Anfang der 20er Jahre in hoher Auflage erschienen).

 

Häufig wurden Auszüge aus Lebensweisheiten von früher wiedergedruckt, z. B.

  • "Die Lebenskunst nach den Inschriften des Tempels zu Delphi" (Carl Gustav Carus, 1968),
  • "Tao, der Sinn des Lebens" (Paul Mühsam, 1970),
  • "Vom glückseligen Leben" (Seneca, 1946ff),
  • "Vom wesentlichen Leben. 12 Sprüche des Angelus Silesius" (Konrad Nagel, 1947),
  • "Deines Lebens Sinn" (Immanuel Kant, 1951),

ferner von Georg Christoph Lichtenberg, Wilhelm Dilthey, Max Scheler, Rudolf Steiner, Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Ralph Waldo Trine, Oswald Spengler, Johannes Hessen, Johannes Müller und Gustav Adolf Farner.

 

Dem Erleben widmeten sich der Psychologe Werner Fischel (1949, 1967), Konrad Zucker (1952) und Alfred Loewenstein (1962), ontologischen Fragestellungen August Brunner (1950) und Hans André (1952).

 

Läuft die Biochemie der Metabiologie und Biophilosophie den Rang ab?

 

Seit der theoretische Physiker Ernst Schrödinger 1944 mit seinem Büchlein "What ist life?" und der Zoologe Adolf Portmann 1947 mit seinem "Problem des Lebens" Marksteine setzten, ist der Strom der Literatur darüber in den Naturwissenschaften nicht mehr abgebrochen.

Je nachdem richtete man sich mehr philosophisch, physikalisch oder biochemisch aus. Eine Verbindung versuchten Erich Heintel (1944) und Rudolf Ehrenberg (1950) in je einer „Metabiologie“, Rainer Schubert-Soldern in einer „Philosophie des Lebendigen auf biologischer Grundlage“ (1951), Ernst Fuhrmann in den "Grundformen des Lebens - Biologisch-philosophische Schriften" (1962) und Bernhard Rensch in seiner "Biophilosophie auf erkenntnistheoretischer Grundlage" (1968).

 

Gegenwärtig hat das Biochemische eindeutig die Oberhand gewonnen. Eine echte und den neuen Erkenntnissen Rechnung tragende Lebensphilosophie steht noch aus. Elemente der Vorkriegs-Lebensphilosophie haben sich aber recht gut erhalten, beispielsweise in der sogenannten Hermeneutik, ferner in der Kulturkritik und - wie einst in der deutschen Jugendbewegung - bei der Beat-Generation, den Gammlern und Hippies.

 

Diese Zusammenstellung lässt erkennen, dass mehrere Stränge der Lebensphilosophie unterscheidbar sind. Ganz grob könnte man drei unterscheiden,

  • einen historischen,
  • einen biologischen und
  • einen ethisch-lebenspraktischen.

Doch dies ist unbefriedigend.

 

Die Frage nach dem Sinn des Lebens (Franz Müller-Lyer, 1910) ist zwar verwandt aber nicht identisch mit der nach dem "richtigen Leben" (Raoul Heinrich Francé, 1929) oder der "Lebensweisheit" (Albert Maria Weiss, 1893; Moritz Schlick, 1908). Da kann es ebenso um "Sinnverwirklichung" (Friedrich Alverdes, 1936) wie un eine „Deutung des Daseins – Biophilosophie“ (Rudolf Sieber, 1951) oder "Philosophie der Lebensziele" (Alexander Pfänder, 1948) gehen. Ob dies eher unter historischen, hermeneutischen oder wertphilosophischen Gesichtspunkten vollzogen wird, ist dem freien Ermessen anheimgestellt.

 

Es ist wenig verwunderlich, dass sich unter dem Stichwort "Lebensphilosophie" nach dem Zweiten Weltkrieg soviel Schriften in dieser Hinsicht finden. Das mag an den Herausgebern der "Deutschen Bibliographie" liegen, die eine einseitige Vorstellung über diese Art von Philosophie unter einer solchen Bezeichnung haben. Mehr als man meinen könnte, stellen sich auch bei den Erörterungen der Geschichte von Natur und Kultur Wert- und Sinnprobleme.

 



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