Wissenschaft und Religionszugehörigkeit
Eine Studie aus den USA Mit Daten von 1920 bis 1961
Erschienen in der „Neuen Zürcher Zeitung“, 17. September 1974 rot = handschriftlicher Einschub anhand einer Manuskriptfassung
Wissenschaft gedeiht am besten in einem Klima von "law and order". Das setzt freilich nicht den Glauben an Autorität oder bestandene Dogmen voraus, denn wo etwa, wie im Bereich der römisch-katholischen Kirche, ein solcher vorherrscht, hat die Wissenschaft einen schweren Stand. Es ist vielmehr das Vertrauen in die rationale Erschliessbarkeit der Welt, die kausalen Gesetzmässigkeiten und die eigene Tatkraft des Menschen, welches die Wissenschaft vorantreibt. Leider haben die soziokulturellen Umwälzungen des letzten Jahrzehnts es vermocht, diesen Optimismus und die Orientierung an einer als vorhersehbar betrachteten Zukunft zu verunsichern.
In diesem Tenor des 'Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen" berichtet Kenneth R. Hardy, Professor für Psychologie an der Brigham Young University in Provo, Utah, über eine ausgedehnte Untersuchung der "Sozialen Herkunft amerikanischer Wissenschafter und Doktoranden" ("Science", 9. August 1974: 497-506). Es handelt sich dabei nicht um eine eigentliche Forschungsarbeit, sondern nur um die Aufarbeitung, statistischen Materials, der eine Skizze über die bisherige Forschungsgeschichte vorangestellt ist und der sich Spekulationen über den religiösen und allgemein weltanschaulichen Einfluss anschliessen.
Geographie und Religion
Die Aufdeckung der geographischen und religiösen Herkunft amerikanischer Wissenschafter kann auf eine gut vierzigjährige Tradition zurückblicken. Hiefür bediente man sich einer ebenso einfachen wie fragwürdigen Methode: Man konsultierte die in regelmässiger Folge erscheinenden Nachschlagewerke "Who's Who in America" und "American Men of Science". Man gewann dadurch Aufschluss über die gegenwärtige Religionszugehörigkeit (H. Lehman, P. Witty, 1931) und den Geburtsort (E. L. Thorndike, 1940 und 1943) der etablierten Wissenschafter. Aus dem Vergleich mit der Religionszugehörigkeit der Gesamtpopulation sowie der Gesamtbevölkerung der einzelnen Bundesstaaten ergaben sich Anhaltspunkte über die Produktivität einzelner Glaubensgemeinschaften, Bundesstaaten und Regionen.
Übervertreten waren vor dem Zweiten Weltkrieg Anhänger "liberaler" protestantischer Gruppierungen (Unitarier, Kongregationisten, Quäker, usw.), untervertreten solche "fundamentalistischer" protestantischer Gruppierungen (Methodisten, Baptisten, Lutheraner, usw.). Fielen die Römisch-Katholischen fast völlig aus, so zeigten umgekehrt die Mormonen - die "Heiligen der Letzten Tage" - weitaus die höchste Produktivität.
Das Übergewicht der Mormonen dokumentierte sich auch in geographischer Hinsicht, schwang doch der Staat Utah weit obenaus. Die produktivsten Gebiete waren die Regionen "Rocky Mountain" (Utah, Colorado, Idaho und Montana) und die Neu-England-Staaten. Abgeschlagen landete der tiefste Süden auf dem letzten Platz.
Anfang der fünfziger Jahre untersuchten R. R. Knapp und H. B. Goodrich den akademischen Background der amerikanischen Wissenschafter, indem sie die Zahl der "erfolgreichen" mit der Gesamtzahl der Absolventen jedes der 500 Colleges (der Jahre 1924 bis 1934) verglichen. Sie stiessen dabei auf die merkwürdige Tatsache, dass sich unter den produktivsten 50 hauptsächlich kleine, vorwiegend protestantisch orientierte "Liberal Arts Colleges" des Mittleren Westens und Westens befanden, jedoch keine Schule in Neu England.
Dies zu erklären versuchend, nahmen sie Bezug auf das bekannte Werk von Max Weber „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904), das von Talcott Parsons 1930 ins Englische übersetzt worden war. Im weiteren machten sie den engen Kontakt mit der Natur und die pragmatische Ausrichtung sowie die Unabhängigkeit und Selbstsicherheit der Bewohner der Grenze zum Wilden Westen („Frontier“) dafür verantwortlich. Einen dritten Grund schliesslich sahen sie in der Herkunft der Wissenschafter aus der ländlichen Mittelklasse, von wo der Weg zum Erfolg im Geschäftsleben oder in etablierte Berufsgruppen weitgehend versperrt ist, hingegen ein Aufstieg in höhere Positionen über die wissenschaftliche Ausbildung möglich ist.
Bei einer späteren Untersuchung von A. W. Astin (1962) kristallisierten sich unter 265 Colleges zwei besonders produktive homogene Gruppen heraus: vier New Yorker Schulen mit hohem Anteil an jüdischen Studenten und die drei vorwiegend unter dem Einfluss der Mormonen stehenden Universitäten von Utah.
Produktiver Norden und Osten
Kenneth R. Hardy konnte diese Ergebnisse bestätigen. In seiner Studie, die knapp 300 Colleges in den USA und Puerto Rico umfasst, vermochte er überdies bedeutende Veränderungen im Zeitraum von 1920 bis 1961 zu registrieren. Anhand eines "Produktivitätsindexes“, der die Besitzer eines Doktordiploms mit den Bildungsinstitutionen in Zusammenhang brachte, an denen sie ihren ersten akademischen Grad (das Bakkalaureat) erlangt hatten, konnte er neben der herausragenden Stellung von Utah und der kleinen protestantischen *Liberal Arts Colleges" nachweisen, dass:
1. die Staaten des Nordens viel produktiver als diejenigen des Südens sind, vor allem im Bereich der Naturwissenschaften, wobei die nordöstlichen Staaten mehr Doktorate in den physikalischen, die nördlichen (von Wisconsin westwärts) in den biologischen Wissenschaften abgeben. Die Staaten der Prärien schwingen in den Bildungswissenschaften obenaus. Puerto Rico rangiert derart abgeschlagen am Tabellenende - ausser in den biologischen und Bildungswissenschaften -, dass dies der Autor nicht einmal einer besonderen Erwähnung würdig hält;
2. im Vergleich der Perioden von 1920 bis 1939 und von 1950 bis 1961 die Staaten des "Middle Atlantic" nämlich Pennsylvania und New Jersey, angeführt von New York - und hier wiederum dank den Schulen von New York City -, einen Aufstieg vom siebten auf den zweiten Platz in der Produktivitätsskala erlebten. Die Neu-England-Staaten stiegen vor allem dank Massachusetts und New Hampshire von Platz vier auf Platz eins, während die Region der Rocky Mountains weit zurückfiel;
3. eine kleine Gruppe von sechs ausserordentlich produktiven Mädchen-Colleges besteht: Bryn Mawr (Pa.), Mount Holyoke (Mass.), Radciliffe (Mass.), Vassar (N. Y.), Wellesley (Mass.) und Goucher (Md.), die in beiden Perioden unter den 17 produktivsten Schulen zu finden sind.
Die religiösen Schulen
An die Interpretationsversuche seiner Vorgänger anknüpfend, versucht Hardy durch Analyse des religiösen Hintergrundes der einzelnen Colleges die weltanschaulichen Grundlagen erfolgreicher Schulen und ihrer Absolventen zu erhellen, obwohl die Zugehörigkeit oder Orientierung nach einer religiösen Richtung nur lückenhafte Hinweise gibt. Immerhin lässt sich festhalten, dass die meisten religiösen Schulen produktiver sind als die übrigen. Dies mit Ausnahme der 20 römisch-katholischen, darunter als weisse Raben "The Catholic University of America" (D. C.) und "Gonzaga University".
Allen voran stehen die von den Quäkern, der "Society of Friends", unterstützten drei Colleges. Gut im Rennen liegen auch die zwei respektive drei der Reformierten und Evangelischen sowie die drei der Mormonen und die neun der Presbyterianer. Die "Church of the Brethren" (2 Schulen) verbesserte sich im Laufe der Zeit vom neunten auf den dritten Platz, während die Kongregationisten (1 Schule) und die Methodisten (19 Schulen) an Terrain verloren. Die nördlichen sechs Schulen der Baptisten konnten sich verbessern, indes die vier südlichen noch unter die Lutheraner sanken.
In Verbindung mit andern, meist indirekten Daten, muss dieses Bild durch Unitarier (keine Schule) und Juden vervollständigt werden. Können die Unitarier auf eine beachtliche Tradition, beispielsweise in Harvard, zurückblicken, so ist der Aufstieg der Region von New York seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem den Kindern und Enkeln verarmter jüdischer Einwanderer vorab aus den osteuropäischen Ländern zuzuschreiben, hatten sich diese doch in den Jahren 1880 bis 1929 in grosser Zahl in den "Middle Atlantic"- und Neu-England-Staaten niedergelassen.
Soziale Herkunft?
Nun hat das alles mit Wissenschaft noch nicht viel zu tun und noch weniger mit der sozialen Herkunft der amerikanischen Wissenschafter. Nicht jeder Doktorhut macht einen Wissenschafter aus, und im allgemeinen versteht man unter Erforschung der, sozialen Herkunft die Analyse des familiären und ethnischen Hintergrunds, im einzelnen also Familienkonstellation und -verhältnisse, Einkommen und Vermögen, Beruf und Status, ferner Hausbesitz und Komfort, Volks- und Parteigruppenzugehörigkeit, usw.
Infolgedessen hätte man gerne etwas hierüber sowie etwa auch über die Bedeutung der Einwanderer überhaupt - beispielsweise während des Dritten Reichs oder über die Iren, Polen, Italiener - und nicht zuletzt über die Neger und Puertorikaner vernommen. Ebenfalls interessieren würde die Stellung Kaliforniens, weist doch dieser Staat mit etwa 20 Millionen gleichviel Einwohner auf wie New York. Unter den produktivsten 50 Schulen finden sich jedoch nur zwei von Kalifornien (das "California Institute of Technology" und "Pomona"), während es von New York in der ersten Phase drei, in der zweiten zwölf, von Massachusetts, das nicht einmal soviel Einwohner wie die Schweiz zählt, sieben respektive acht sind.
Wissenschaftsfördernde Werthaltungen
Ohne über weitere Daten wie Befragungen oder Lebensläufe zu verfügen, äussert Hardy abschliessend Vermutungen über die kulturellen Werte, welche die wissenschaftliche wie College-Aktivität vorantreiben und für die Unterschiede in regionaler und institutioneller Hinsicht namhaft gemacht werden könnten.
Hohe Produktivität beruht demzufolge 1. auf der "naturalistischen" Annahme, die Ordnung der Welt unterstehe einer kausal-deterministischen Regulation, sei also weder unerkennbar noch mysteriös; 2. auf der Hochschätzung breitgefächerten Lernens und Wissens (im Gegensatz zum Anti-Intellektualismus vor allem in den Südstaaten); 3. auf dem optimistischen Glauben an die Fähigkeit des Menschen, die Wahrheit zu entdecken, das Gute zu verwirklichen und die Welt aus eigener Kraft in ewigem Fortschritt zum Bessern zu verändern; 4. auf der verantwortlichen Übernahme einer ernsthaft und langfristig zu betreibenden Aufgabe im Gegensatz zu einem fatalistischen Hinnehmen dessen, was gerade verfügbar ist; 5. auf der Achtung der Gleichberechtigung und dem Einsatz für benachteiligte Minderheiten, im Unterschied zu autoritärem und militärischem Gehabe; 6. auf dem Kampf gegen ungeprüft überlieferte und vor allem durch enge kirchliche Tradition gefestigte, die Vergangenheit betonende Überzeugungen, 7. auf dem pragmatischen und entschlossenen Angehen der gegenwärtigen Probleme und dem Glauben an die Möglichkeit ihrer Bewältigung in absehbarer Zeit durch eigene Anstrengung.
Umso erstaunlicher ist es, dass Hardy den grossen Aufbruch der sechziger Jahre keine positive Seite - nicht einmal die Erfüllung von Punkt 5 und 6 - abzugewinnen vermag. Das kann darin liegen, dass sein Blickfeld nur bis 1961 reicht und dass er diese sieben Punkte weder empirisch abgestützt noch auf zwingende Weise irgendwoher abgeleitet hat. Ob etwa die Quäker die einzigen sind, die einem strengen Pazifismus huldigen, kann heute durchaus in Zweifel gezogen werden. Und wenn in vielen andern Studien nicht nur eine Säkularisation der Religionen, sondern auch eine Loslösung der Wissenschafter von ihrem religiösen Hintergrund festgestellt wurde, wäre durchaus zu fragen, ob es tatsächlich der von Hardy mit Zitaten belegte Bezug auf Gott bei den Unitariern, Quälern und Mormonen ist, welcher das wissenschaftsfördernde Klima trägt.
Keine absoluten Zahlen und prozentuale Verteilungen
Statt solchermassen etwas hausbacken anmutende Spekulationen, hätte man also lieber etwas über die doch ungemein vielfältigen sozialen Faktoren sowie die Veränderungen in den letzten zwölf Jahren gehört. Nicht schlecht hätte diesem Bericht auch die Angabe von orientierenden absoluten Zahlen und prozentualen Verteilungen angestanden.
So aber hat der Riesenberg von kompliziert errechneten Produktivitätszahlen nur Kirchenmäuse geboren.
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