Home Gedanken zur Anwendung physikalisch-chemischer Gesetze

                     auf das Phänomen Leben

 

Von Max Thürkauf

 

Vortrag an der Jubiläumssitzung der Naturforschenden Gesellschaft in Basel, anlässlich ihres 150jährigen Bestehens (21. Oktober 1967).

 

erschienen in:

Verhandl. Naturf. Ges. Basel, Band 79, Nr. 1, Seiten 9-24, Basel, 15. 7. 1968

(Manuskript eingegangen am 9. November 1967)

 

 

 

 

 

Die Besonderheit der Tätigkeit des Menschen besteht zu einem grossen Teil darin, dass sie durch Werkzeuge getragen wird. Die Schaffenskraft seiner Hände und seines Geistes wird durch diese von ihm selbst hervorgebrachten Mittel sowohl nach Quantität wie auch Qualität um viele Grössenordnungen gesteigert. Die Gesamtheit der Werkzeuge durchdringt mit einer kaum überschaubaren Mannigfaltigkeit unsere Zivilisation und Kultur bis in die letzte Faser. Wir sind heute gewohnt, Gesamtheiten in Spektren aufzulösen, um sie nach den Regeln des dazu verwendeten analytischen Prinzips zu ordnen. Tun wir dies mit der Fülle unserer Werkzeuge, so finden wir am einen Ende dieses Spektrums das überlieferte Handwerk und am andern Ende die reine Mathematik. Der Übergang vom ausschliesslich manuellen zum rein intellektuellen Werkzeug ist kontinuierlich. Wir können uns vorstellen, dass ungefähr in der Mitte dieses Spektrums die Werkzeuge der exakten Naturwissenschaften zu finden sind, denn es ist das Charakteristische an den wissenschaftlichen Instrumenten, dass diese immer aus einer Symbiose zwischen handwerklichem Können und Betrachtungen mathematischer Art entstanden sind.

 

 

Ein Zusammenwirken von Extremen kann nur dann möglich sein, wenn diesen etwas Wesentliches gemeinsam ist. Eine solche Gemeinsamkeit, die eine Verbindung möglich macht, muss auch in der manuellen und intellektuellen Substanz unserer Werkzeuge zu finden sein. Diese Schlussfolgerung berechtigt zu der auf Anhieb etwas scherzhaft klingenden, aus einer Vielzahl von Möglichkeiten als Beispiel herausgegriffenen Frage: Was haben eine Beisszange und die analytische Geometrie gemeinsam? Das eine ist ein Werkzeug und das andere kann als solches verwendet werden. Allerdings gehören die beiden den entgegengesetzten Enden unseres Werkzeugspektrums an. Wer naturwissenschaftliche Forschung betreibt, weiss, dass sich die Betrachtung von Extremwerten oft besonders gut dazu eignet, wesentliches zu erkennen. Nun, das Gemeinsame an der Beisszange und an der analytischen Geometrie ist das mechanistisch-deterministische Prinzip. Alle Zustände und Vorgänge, ob real oder abstrakt, die diesem Prinzip gehorchen, sind einer differentiell-kausalen Betrachtungsweise zugänglich.

 

 

Diese Feststellung ist für unsere Gedanken über die Anwendung physikalischchemischer Gesetze auf das Phänomen Leben von grundlegender Bedeutung. Wir wollen daher die Begriffe «mechanistisch-deterministisch» und «differentiell-kausal» kurz umreissen.

 

 

Auf Schritt und Tritt begegnen wir heute in den von Menschen bewohnten Gebieten der Erde Maschinen verschiedenster Art. In Hinsicht darauf möchte ich mir eine Zwischenbemerkung gestatten: Dies war 1817, im Gründungsjahr der Naturforschenden Gesellschaft in Basel, in keiner Weise der Fall. - Was sind Maschinen? Wirkliche oder gedachte, in jedem Fall von Menschen gebaute Vorrichtungen, die im Stande sind, Vorgänge in einem ganz bestimmten Sinne ablaufen zu lassen. Der Ablauf einer Maschine ist immer mechanistisch-deterministisch, da er auf Grund der Konstruktionselemente und deren Koppelung bestimmt werden kann. Eine Maschine kann in ihre Einzelteile zerlegt und nach der Konstruktionsvorschrift entsprechend dem beabsichtigten Ablauf wieder zusammengesetzt werden. Die Einzelteile haben eine ganz bestimmte Form und sind durch eine Oberfläche scharf voneinander getrennt. Diese Selbstverständlichkeit sei in Hinsicht auf die Betrachtung von Lebewesen betont.

 

 

Auch eine gedachte bzw. abstrakte Maschine muss diese Bedingungen erfüllen. Anders kann man sich eine Maschine gar nicht denken. Also, der Begriff «mechanistisch-deterministisch» ist streng mit dem Ablauf einer Maschine verknüpft. Es soll hervorgehoben werden, dass im strengen Sinne nur eine gedachte Maschine mechanistisch-deterministisch abläuft. Denn jeder wirklichen Maschine droht die Panne, was alles andere als ein deterministisches Geschehen darstellt. Auch die Konstruktion einer Maschine ist auf rein mechanistisch-determistischem Wege nicht möglich. Wenn dem so wäre, so bedürfte die Industrie nur des Reissbrettes und des Schreibtisches. Die teuren Entwicklungs- und Kontrollaboratorien könnte sie sich schenken! Aber die wirkliche Maschine bedarf der Erfahrung, die nicht errechnet, sondern eben nur erfahren werden kann. Man kann diese Tatsache natürlich leugnen und behaupten, dass nicht nur die gedachten, sondern auch die wirklichen Maschinen ein streng deterministisch-mechanistisches Verhalten aufweisen. Die Geschichte unseres Jahrhunderts lehrt, dass diese Zwangsvorstellung bei konsequenter Anwendung in den dialektischen Materialismus führt. Dort wo diese Ideologie zur Staatsräson erhoben wurde, haben die Ingenieure für das Versagen der Theorie mit dem bezahlt, was die Maschine nicht hat - mit dem Leben. Ein streng mechanistisch-deterministisches Verhalten weist nur die gedachte, abstrahierte Maschine auf.

 

 

Obwohl oder gerade weil das Wort «Verhalten» von vielen Autoren im Zusammenhang mit Maschinen gebraucht wird, möchte ich auf die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes aufmerksam machen: Bei den Meistern der Feder verhalten sich Menschen, Tiere und Pflanzen; niemals aber Maschinen. Maschinen laufen ab. Verhalten gehört zum Subjekt, Ablaufen zum Objekt. Diese Zwischenbemerkung mag zufällig sein, aber unwesentlich ist sie nicht. Trifft sie doch für viele andere Worte zu, die in der «Maschinenliteratur» zu lesen sind. Wenn die Worte ihre Bedeutung und ihren Sinn verlieren, kann die Sprache nicht mehr Quell des Verstehens und des Verständnisses sein. Sie wird zum Gerede oder im besten Fall zur Information.

 

 

Wir wollen also festhalten, dass alle mechanistisch-deterministischen Systeme gedachte bzw. abstrahierte Maschinen sind, deren Ablauf formallogisch zu verfolgen und - wenn die Zeit als physikalische Dimension betrachtet wird - vorauszusagen ist. Ich möchte jetzt schon hervorheben, dass die physikalische Dimension «Zeit» die Dauer des Seins nicht zu beschreiben vermag. Es wird diese Tatsache heute, da wir von vielen Uhren aller Art umgeben sind, nur allzuoft übersehen oder vergessen. Auf diese Gegebenheit werden wir zurückkommen.

 

 

Das den mechanistischen Systemen zugrunde gelegte Denken kann beim Bau von wirklichen, laufenden Maschinen die Erfahrung ganz gewaltig unterstützen. Dabei kann das Verhältnis zwischen Denkarbeit und manueller Handlung die verschiedensten Werte annehmen. Wenn auch heute bei der Konstruktion von Maschinen das intellektuelle Moment immer mehr überwiegt, darf nicht vergessen werden, dass das meiste von diesem Wissen seinen Ursprung in den Bastelerfindungen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hat. War doch der grösste Erfinder jener Epoche, THOMAS ALVA EDISON, der Mathematik abhold. Ich möchte damit betonen, dass die Maschinen in erster Linie von den Händen des Menschen aus dem Schoss der Erde gehoben wurden. Als Epimetheus betrachtet er das empirisch Geschaffene, und in seinem Kopf entsteht das mechanistisch-deterministische System als Abstraktion der Maschine, frei von allem Unvorhersehbaren der Welt, in der wir leben. Dieses Unvorhersehbare erscheint im mechanistischen System als eine Art Tücke des Objektes. In Wirklichkeit handelt es sich dabei nicht um Tücken, sondern um Hinweise dafür, dass die Theorie den wahren Ablauf der Maschine nicht zu erfassen vermag.

 

 

Die abstrahierten Maschinen sind als mechanistisch-deterministische Systeme in ihrem Zustand und Ablauf formallogisch versteh- und verfolgbar. Höhere Mathematik ist für das prinzipielle Verstehen der Maschinen nicht erforderlich, da dieses, wie eben gesagt, formallogisch möglich ist. Die höhere Mathematik wird erst dann unentbehrlich, wenn nach der Dimensionierung, d. h. nach dem « Wieviel» bei den Bauteilen und dem Ganzen des Maschinenprinzips gefragt wird. Es ist dies eine wesentliche Tatsache. Denn eine mechanistische Betrachtungsweise der Natur, die oft und unvorsichtig in den Rang eines Weltbildes erhoben wird, ist nicht anderes als eine abstrahierte Maschine. Das Grundsätzliche solcher «Weltbilder» ist daher auch dann einer philosophischen Kritik zugänglich, wenn der betreffende Philosoph mit den Methoden der höheren Mathematik nicht vertraut ist. Es sind ausschliesslich die quantitativen Probleme, zu deren Diskussion es des mathematischen Werkzeuges bedarf. Denken ist eben nicht nur rechnen. Ich möchte dies auch in Hinsicht auf die Frage, ob Rechenmaschinen denken können, aussprechen und betonen. Es ist daher sowohl eine falsche Einschätzung der Mathematik wie auch eine Überheblichkeit, wenn gewisse Physiker behaupten, dass Philosophieren heutzutage nur noch sinnvoll sei, wenn der Philosoph sich in der Lage befindet, Differentialgleichungen zu lösen.

 

 

Ein einfaches Beispiel soll diesen Sachverhalt erläutern. Betrachten wir eine Wärmekraftmaschine. Durch Abstraktion erhält man das mechanistisch-deterministische Prinzip dieser für unsere technische Zivilisation so wichtigen Maschine, das in seinem Zustand und Ablauf formallogisch ohne den Aufwand von höherer Mathematik verstanden werden kann. Das heisst, die maschinelle Vorrichtung, durch deren Ablauf Wärme in mechanische Arbeit umgewandelt werden kann, ist vorstellbar einzusehen.

Sofort ändert sich die Situation, wenn die Frage nach dem Wirkungsgrad der Maschine gestellt wird. Es handelt sich dabei um das Verhältnis zwischen der gewonnenen freien Energie und der zum Einsatz gebrachten Wärmemenge. Eine Beantwortung dieser quantitativen Frage, die unter anderem zum fundamentalen zweiten Hauptsatz der Thermodynamik geführt hat, ist nur durch die Anwendung mathematischer Werkzeuge möglich.

 

 

Es hat sich erwiesen, dass sich zur mathematischen Bearbeitung von mechanistisch-deterministischen Systemen das Differentialkalkül ganz besonders eignet. Die Differentialrechnung war und ist daher für die Entfaltung der exakten Naturwissenschaften von eminenter Bedeutung. Der Name dieses Hauses (Die Jubiläumssitzung wurde im Bernoullianum zu Basel abgehalten.) ist mit diesem mächtigen mathematischen Werkzeug verknüpft. Denn bald nach der Erfindung der Differentialrechnung durch LEIBNIZ und NEWTON im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts wurde diese von den Brüdern JAKOB und JOHANN BERNOULLI in Hinsicht auf die Bearbeitung von physikalischen Fragestellungen weiter ausgebildet. In der Folge hat sich durch die Anwendung der Differentialrechnung auf mechanistisch-deterministische Systeme, die, wie wir gesehen haben, immer Abstraktionen sind, die differentiell-kausale Betrachtungsweise entwickelt. Im Bereich der Anwendbarkeit dieser Betrachtungsweise, also bei mechanistischen Systemen, waren und sind reiche und durchschlagende Erfolge zu verzeichnen. Aus der Stille der Laboratorien haben diese Erfolge, durch technische Anwendungen offenbart, den Weg in die Welt gefunden. Wie auf anderen Gebieten wird auch hier der Erfolg als schlüssiger Beweis für die Richtigkeit, wenn nicht gar Wahrheit betrachtet. MAO TSE-TUNG schreibt in seiner Schrift: «Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen?»:

«Allgemein gesagt, ist richtig, was Erfolg bringt, und falsch, was misslingt. Das trifft besonders auf den Kampf der Menschheit mit der Natur zu.»

 

 

Durch den Erfolg wurde die Methode zur Selbstverständlichkeit und Routine. Für die zweckbestimmte Anwendung ist die Routine sicher erforderlich. Der Könner bedient sich des Werkzeuges, ohne zu denken. Solange das Werkzeug auf die ihm entsprechende Substanz angewendet wird, ist dies in erster Näherung, das will hier heissen, in Hinsicht auf den Erfolg, sicher richtig. Wird aber das Werkzeug auf eine neue Substanz angewendet, so sind Selbstverständlichkeit und Routine nicht am Platz. Denn die Selbstverständlichkeit ist nicht die Mutter des Denkens, das bei einer wissenschaftlichen Arbeit nie ausgeschlossen werden sollte. Rechnen alleine ist noch nicht denken. Die Folge solchen Vorgehens könnte die Bearbeitung einer Gegebenheit mit ungeeigneten Mitteln sein. Dies müsste, darin sind wir uns sicher einig, zumindest als unwissenschaftlich bezeichnet werden. Nach den Betrachtungen über die mechanistisch-deterministischen Systeme wollen wir jetzt das Wesentliche der differentiell-kausalen Methoden betrachten.

 

 

Wie bereits dargestellt, kann die Differentialrechnung als das Fundament der differentiell-kausalen Methode angesehen werden. Die entsprechenden Betrachtungen sind daher vom Wesen der Differentialrechnung durchdrungen. Wie der Name schon zum Ausdruck bringt, ist das Charakteristische dieser sowohl für die reine Mathematik wie auch Naturwissenschaft und Technik so bedeutungsvollen Rechnungsart die Betrachtung von Änderungen. Das Besondere, das diese auf einer relativierenden Betrachtungsweise beruhende Rechnungsmethode so erfolgreich machte, besteht in der Möglichkeit, die ins Auge gefassten Änderungen beliebig klein zu machen. Solche Differentiale haben als Quotienten von unendlich kleinen Differenzen endliche Werte,  mit welchen nach den Regeln der Infinitesimalrechnung operiert werden kann. Diese mathematische Möglichkeit, zu deren Auffindung es der Genies LEIBNIZ und NEWTON bedurfte, kommt einer Schwäche unseres Intellektes helfend entgegen. Diese Schwäche besteht darin, dass es unserem Intellekt leichter fällt, ja sogar nur möglich ist, kleine Ausschnitte aus der Mannigfaltigkeit der Welt rational zu betrachten. Das Ganze entgleitet dem Intellekt und ist dem Menschen nur in Beziehung zu sich selbst und mit dem Mass seiner selbst zugänglich. Je mehr wir das Ganze schauen wollen, um so mehr sind wir gezwungen, die Wissenschaft zu verlassen und uns dem Reich der Philosophie und Kunst zuzuwenden. Der Intellekt versinkt in der Seele. In diesem Zustand wird ihm seine Schwäche offenbar. Das Differentialkalkül verheisst eine Überwindung dieser Ohnmacht. Denn mit ihm lässt sich die Gesamtheit der Welt in beliebig kleine, berechenbare Elemente von jeder nur gewünschten Art zerlegt denken. Ich betone: denken. Ob sich die Welt auch wirklich zerlegen lässt, ist eine andere Frage. Doch die Verheissung der Differentialrechnung ist mehr als nur Zerlegung in rational erfassbare kleinste Elemente. Denn die nach dieser quantitativen Methode gewonnenen Elemente, die Differentiale, tragen eine Information, die es erlaubt, mit den Mitteln der Infinitesimalrechnung eine Integration durchzuführen. Es werden dadurch Integrale gewonnen, die ein Ganzes darstellen. Dem Intellekt scheint es dadurch gelungen zu sein, das, was die Seele schauend erfühlt, nämlich die Ganzheit, rational erfasst zu haben. Dieses Vorgehen ist tatsächlich beeindruckend. Denn aus unendlich kleinen, durch ein Kalkül rational erfassbaren Elementen wurde durch Integration ein Ganzes geschaffen, das dem Intellekt zugänglich ist. Das Rezept dafür würde etwa folgendermassen lauten: Man zerlege die Welt nach den Methoden der Differentialrechnung in infinitesimale Elemente. Diese sind, im Gegensatz zur Gesamtheit, der Ratio zugänglich. Durch Integration wird die Gesamtheit wieder hergestellt, die jetzt, nachdem sie die differentiell-kausale Analyse durchlaufen hat, rational erfassbar geworden ist. Im Gegensatz zur Ausgangssituation, dem mechanistisch-deterministischen Prinzip, ist die differentiell-kausale Betrachtungsweise in den meisten Fällen nicht vorstellbar. Doch die Ratio der Physik erhebt nicht Anspruch auf Gestalt und Farbe, so dass dies gewöhnlich nicht als Mangel empfunden wird.

 

 

Von dieser Seite wird die differentiell-kausale Methode meistens beleuchtet. Doch um ein vollständiges Bild zu erhalten, bedarf es noch Licht aus anderer Richtung. Wie schon gesagt, ist die differentiell-kausale Betrachtungsweise nur auf mechanistisch-deterministische Systeme anwendbar. Bei solchen Systemen handelt es sich aber immer um gedachte Maschinen, die durch Abstraktion der Wirklichkeit erhalten wurden. Die Differentiale haben also einerseits die Gedanken dieser Abstraktion impliziert und tragen andererseits die von den Regeln der Differentialrechnung herrührende Prägung. Es ist daher leicht einzusehen, dass eine Integration lediglich wieder ein mechanistisches System liefern kann, das aber, wie wir wissen, eine Abstraktion der Wirklichkeit darstellt. Was durch die differentiell-kausale Behandlung des mechanistischen Systems gewonnen wurde, sind quantitative Aussagen über die diesen Systemen zugrundegelegten Maschinen. Im Bereiche der Maschinen ist dies, wie die technischen Erfolge zeigen, von weittragender Bedeutung. Mit der Kanone kann jetzt nicht nur geschossen, sondern auch getroffen werden. Doch nicht nur in den Händen der Techniker ist die differentiell-kausale Betrachtungsweise ein mächtiges Werkzeug. Vielmehr waren es die Naturwissenschaften, aus welchen die Technik ja ihre Substanz bezieht, die sich dieser Methode seit bald 3 Jahrhunderten und heute mehr denn je bedienen. Den Wissenschaften, welche dadurch an Umfang besonders zugenommen haben, geben wir, entsprechend ihres Anspruches auf Berechenbarkeit, das Epitheton « exakt». Zweifellos muss der Physik der Anspruch zugestanden werden, die exakteste aller Naturwissenschaften zu sein. Durch die mechanistischen Abstraktionen der Physik und deren differentiell-kausalen Behandlung wurden Gesetzmässigkeiten gefunden, die sich für gewisse Teile der Welt als gültig erwiesen. Es sind das diejenigen Zustände und Abläufe in der Welt, welche die dem Phänomen Leben typischen Eigenschaften nicht enthalten. Diese Materie hat - wie wir noch sehen werden, im Gegensatz zum Leben - die Eigenschaft, dass sie sich durch Aufpressen der mechanistischen Matrix in einen Zustand bringen lässt, der einer differentiell-kausalen Behandlung zugänglich ist. Dieses Vorgehen führt zum Modellbegriff der exakten Naturwissenschaften.

 

 

Jede differentiell-kausale Betrachtungsweise bedarf der Modelle. Diese können nichts anderes sein als mechanistisch-deterministische Abstraktionen. Die Modellvorstellungen haben es der differentiell-kausalen Methode erlaubt, zahlreiche Zustände und Vorgänge im Bereich des Nichtlebendigen quantitativ zu beschreiben. Das heisst, die Frage nach dem Wieviel konnte beantwortet werden. Natürlich muss sich die Antwort immer auf das Modell beziehen, an das die Frage gerichtet wurde. Die Wirklichkeit kann dabei mehr oder weniger angenähert werden. Der Annäherungsgrad hängt von der Güte der Modelle und nicht zuletzt von dem ab, was der betreffende Wissenschaftler unter Wirklichkeit versteht. So kann eine graue Wirklichkeit mit Modellen besser angenähert werden als der goldene Überfluss der Welt.

 

 

Aber wie auch immer die Wirklichkeit betrachtet wird, der differentiell-kausalen Betrachtungsweise ist sie nicht zugänglich, weil immer ein Modell als Abstraktion dazwischen steht. Die Güte eines Modelles wird mit Zahlen geprüft, indem am ins Auge gefassten Objekt Messungen durchgeführt werden. Stimmen die Resultate innerhalb einer gesetzten Fehlerschranke mit der Theorie überein, so wird das Modell für gut und als ein Abbild der Wirklichkeit befunden. Doch müssen wir uns bewusst sein, dass diese Betrachtungsweise die Welt mit etwas darstellt, das wir ausserhalb unseres Intellektes nirgends finden können: mit Zahlen! Zahlen erfassen quantitative Aspekte. Aber das Wesen der Welt, ihre Tiefe und ihr Sein sind nicht Quantitäten, sondern Qualitäten. Die Qualitäten sind die Träger der Quantitäten. Die differentiell-kausale Methode erlaubt ein Abzählen der Eigenschaften der Dinge der Welt. Wer unter Abzählen Begreifen versteht, für den muss unter den vorliegenden Umständen die Amortisation unserer Unwissenheit nur noch eine Frage der Zeit sein. Aber Denken ist nicht bloss Rechnen, und die Messbarkeit der Dinge ist nur ein Aspekt der Welt. Auch wenn dieser Aspekt durch die Erfolge der Technik sehr in den Vordergrund gerückt wurde, darf die Einseitigkeit der Betrachtungsweise, die ihm zugrundeliegt, nicht vergessen werden. In einer Zeit, wo materielle Erfolge gerne als ein Beweis für die Richtigkeit der Formel «ex pondere et numero veritas» betrachtet werden, sollte darauf hingewiesen werden, dass auch Geld und Armeen abzählbare Grössen sind.

 

 

Da das Modell bei der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise eine grundlegende Rolle spielt, ist es am Platz, den Begriff an dieser Stelle, wenn auch nur beschränkt, zu diskutieren. In seiner «Kritik der reinen Vernunft» definiert KANT die Modelle als Erkenntnismittel. Für seinen knorrigen Stil um Verständnis bittend, zitiere ich:

«Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauung; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken muss sich, es sei geradezu (direkte) oder im Umschweife (indirekte), vermittelst gewisser Merkmale, zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann.»

Und: «Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, als seine Anschauungen sich verständlich zu machen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nicht zu denken. Nur daraus, dass beide sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.»

 

 

Man könnte sagen, dass die differentiell-kausale Betrachtungsweise eine Folge der Beschränkung des menschlichen Geistes ist. Denn er ist nicht in der Lage, die mannigfaltige Wirklichkeit als einheitliches Ganzes zu durchdringen. Wäre dem Intellekt dies vergönnt, so würde er sicher gerne auf die mühseligen Integrationen verzichten, die nötig sind, wenn von einem Differential auf das Ganze geschlossen werden soll. Vielmehr ist der Mensch gezwungen, sein Denken auf Ausschnitte des Gegebenen zu richten. Aber auch an solchen Ausschnitten bleibt das verwickelte und komplexe Verhalten der Natur haften. Doch wenn der eigene Wunsch oder eine von aussen gestellte Forderung verlangen, dass auf diese Transzendenz Licht falle, so fordert die Ratio eine Vereinfachung und Restriktion des Gegebenen auf die wesentlichen Züge der ins Auge gefassten Betrachtung. Eine solche Vereinfachung auf Züge, die uns in Hinsicht auf die Fragestellung als wesentlich erscheinen, führt zum Modell.

 

 

Die empirisch gegebene Merkmalsmannigfaltigkeit wird auf einige wenige Merkmale zusammengefasst, welche dem Intellekt stellvertretend zur Verfügung stehen und diesem ermöglichen, das undurchschaubare Gewebe der Ganzheit zu bearbeiten. Es handelt sich dabei also um eine aus der Wirklichkeit deduzierte Reduktion mit «Als-ob»-Charakter. Modelle, die auf diesem Wege zu einer rationalen Betrachtung der Wirklichkeit gewonnen wurden, wollen wir als Restriktionsmodelle bezeichnen.

 

 

Die ausschliessliche Betrachtung eines Teiles der Welt, eines Ausschnittes, ist Voraussetzung zur Konstruktion von Restriktionsmodellen. Diese Betrachtungsweise ist für unsere Epoche typisch und daher bereits zur Selbstverständlichkeit geworden. Da mir im Rahmen der vorliegenden Überlegungen der Raum für eine Diskussion dieser Tatsache fehlt, möchte ich wenigstens darauf hinweisen, dass während des grössten Teiles der Geschichte der Menschheit den Kulturen eine Betrachtungsweise zugrundelag, die die Welt als ein in sich Geschlossenes, Unteilbares sah. Das Firmament aller Hochkulturen überspannte Weltbilder, die in sich geschlossen und unteilbar waren. Es sei mir an dieser Stelle gestattet, die Geschichtsphilosophie von KURT ROSSMANN zu erwähnen, welche die Ereignisse und Zusammenhänge aufzeigt, die die in sich geschlossene Welt des klassischen Altertums geöffnet und zerteilt haben.

 

 

Ein Restriktionsmodell gelangt erst dann in den Rang der Wissenschaftlichkeit, wenn sein Richtigkeitsgehalt durch ein Experiment bestätigt wurde. Im Experiment wird versucht, die Abstraktion und Reduktion des ins Auge gefassten Teiles der Natur gewissermassen zu materialisieren. Das heisst, das Modell wird für unsere Hände greifbar und für die Sinne wahrnehmbar gemacht. Natürlich kann dabei von einer wahren «Verwirklichung» des Modelles nicht die Rede sein, da das Laboratorium aus eben der verwickelten Welt besteht, von welcher bei der Gewinnung des Modelles abstrahiert wurde. Insbesondere darf nicht vergessen werden, dass zu jedem Laboratorium immer der Mensch gehört. Und doch hat dieser circulus vitiosus wissenschaftlichen Wert, da er das quantitativ Erfassbare, das Messbare einzuschliessen und festzuhalten vermag. Man könnte sagen, das Modell beschreibt mit dem Experiment als Druckerpresse denjenigen Teil der Natur, den man «schwarz auf weiss getrost nach Hause tragen kann». Auf die Frage nach dem Wesen des Experiments kann ich jetzt nicht eingehen. Doch soll sie als Anregung zum Nachdenken über die keineswegs problemlose Beziehung zwischen dem naturwissenschaftlichen Experiment und der Welt, in der wir leben, gestellt sein.

 

 

Einer Prüfung durch das Experiment bedürfen alle Restriktionsmodelle. Ganz gleichgültig, ob diese auf empirischen Tatsachen beruhen oder heuristisch aus dem Wissensvorrat deduziert wurden. Beim letztern kann an die Konstruktion einer neuen Maschine gedacht werden. Der Weg zur Ausarbeitung der Modelle ist deduktiv. Der Prüfung durch das Experiment jedoch liegt die analytisch-induktive Methode zugrunde. Die dem Experiment inhärente Ganzheit wird mit dem durch das Modell gegebenen analytischen Prinzip zergliedert. Dadurch können die Elemente des Modelles sowohl einzeln wie auch in Relation zueinander geprüft werden. So gelingt es, die implizierten, d. h. die wissenschaftlichen Zusammenhänge und das Gefüge der gestellten Bedingungen mit den gegebenen Tatsachen der Wirklichkeit zu vergleichen. Wie wir gesehen haben, wird ein Restriktionsmodell deduktiv-synthetisch konstruiert, aber induktiv-analytisch geprüft. Trotz dem formallogischen Charakter dieser Methoden darf die Rolle der Intuition sowohl bei der Konstruktion der Modelle wie auch bei der Durchführung der Experimente nicht unterschätzt werden. Denn während der Arbeit können dem Konstrukteur oder Experimentator Gedanken oder gar Tatsachen offenbar werden, die in keiner Weise eine mechanistisch-deterministische Beziehung zu seiner Tätigkeit haben. Viele, wenn nicht die meisten Erfindungen sind so entstanden. Es ist dies eine Gegebenheit, die deutlich darauf hinweist, dass Denken nicht nur Rechnen ist. Die Tätigkeit, welcher der Gedanke entspringt, steht zu diesem viel mehr in einer Beziehung wie der Boden zum Baum und nicht etwa wie die Spinndüse zur Chemiefaser.

 

 

Ein durch Restriktion gewonnenes Modell kann durch das Experiment nicht nur geprüft, sondern auch vervollkommnet werden. Durch Induktion und - wie wir gesehen haben - nicht zuletzt Intuition kann die gewünschte Vollkommenheit, wenn auch nicht erreicht, so doch angestrebt werden. Dieses Vorgehen wird von KANT in seiner Prolegomena wie folgt zum Ausdruck gebracht:

«Analytisch forschen heisst: dass man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich ist.»

 

 

Neben den Restriktionsmodellen, die aus der Anschauung entstanden sind und daher einen prüfenden, der Anschauung zugänglichen Vergleich mit der Wirklichkeit zulassen, besteht eine zweite Gruppe von Modellen. Wir wollen sie Fiktionsmodelle nennen, da nicht die Anschauung, sondern die Phantasie Ursache ihres Bestehens ist. Im Gegensatz zu den Restriktionsmodellen ist hier jeglicher anschaulicher Vergleich mit den Gegebenheiten der Natur ausgeschlossen. Die Gestalt verschwindet, es bleibt nur die Zahl. Das heisst: Die Mathematik in Form der differentiell-kausalen Betrachtungsweise ist einziger Mittler zwischen der uns offenbaren Welt und den Fiktionsmodellen. Auch die raffiniertesten Apparate beschreiben uns keine Gestalt, sondern liefern ausschliesslich Zahlen als Folge der beim angewendeten Modell implizierten Fiktion. Das will aber nicht heissen, dass Fiktionsmodelle keine wissenschaftliche Bedeutung haben. Im Gegenteil. In der modernen Naturwissenschaft erfreuen sich die Fiktionsmodelle einer ganz besonderen Prosperität. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn beim betrachteten Gegenstand die Gestalt keine oder eine nur nebensächliche Rolle spielt. Zum Beispiel in der Atomphysik und Quantentheorie. Denn ein Gestaltsatom gibt es nicht und Quanten erheben keinen Anspruch auf eine Gestalt. Mehr noch, die konsequente Verfolgung des Gedankens von Gestalt und Form schliesst die Existenz eines gestalthaften Atoms aus. Unter diesem logischen Zwang verlor das moderne Atommodell, das ein Fiktionsmodell im eigentlichen Sinne ist, eine der schönsten Eigenschaften der Gestalt: die Anschaulichkeit. Wie die Gestalthaftigkeit der Welt mit solchen Atomen erklärt werden soll, ist eine Frage, die zu denken gibt. Jedenfalls war es gerade diese Frage, die den bedeutenden Physiker ERNST MACH, dessen Name heute durch die Überschallflugzeuge populär ist, an der Realität der Atome zweifeln liess. Als nützliche und erfolgreiche Arbeitshypothese liess er sie durchaus gelten.

 

 

Wird eine Gegebenheit in Betracht gezogen, deren Erscheinung vorwiegend durch die Gestalt geprägt ist, so ist die Anwendung eines Fiktionsmodelles als Mittel zur wissenschaftlichen Bearbeitung inadäquat. Es ist daher sicher falsch, Fiktionsmodelle auf das Phänomen Leben anzuwenden, da ein vorherrschendes Merkmal aller Lebewesen die ihnen eigene Gestalt ist. Auf Besonderheiten der Gestalt der Lebewesen und ihrer Organe werden wir noch zu sprechen kommen.

 

 

Es sei hier vorweggenommen, dass zu diesen Besonderheiten die Tatsache gehört, dass es nicht möglich ist, die Gestalt eines Lebewesens durch die Integration einer differentiell-kausalen Betrachtung zu beschreiben. Da Atommodelle Fiktionsmodelle sind, die wegen ihrer Gestaltlosigkeit niemals eine Gestalt zu erfassen vermögen, ist ihre Anwendung auf das Phänomen Leben eine den betrachteten Gegebenheiten zuwiderlaufende Handlung. Das schliesst natürlich nicht aus, dass die Handlung trotzdem durchgeführt wird. Was würde von der Geschichte übrig bleiben, wenn die Menschheit solches Tun aufgrund besseren Wissens immer gemieden hätte? Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die auf der Atom- und Quantenvorstellung beruhenden, vor wenigen Jahren aufgekommenen, aber heute bereits zur Selbstverständlichkeit gewordenen Begriffe wie molekulare Biologie oder Quantenbiologie nicht über allen Zweifeln erhaben sein können. Selbstverständlich ist alles Leben mit der Materie, die unter der Betrachtungsweise der modernen Physik ein diskontinuierliches Verhalten aufweist, als Träger der Lebensformen aufs innigste verwoben. Diese Tatsache sollte aber nicht vergessen lassen, dass es mit Hilfe der Diskontinuitäts-, d. h. Atomvorstellung nicht möglich ist, eine der wesentlichsten Züge der Lebewesen auch nur in fernster Andeutung zu verstehen: ihr Werden und ihre Gestalt. Wenn man trotzdem den Begriff «molekular» als ein der Biologie adäquates Epitheton betrachtet, steht dem Schritt, mit weiteren wesentlichen Zügen des Lebendigen im gleichen Sinne zu verfahren, nichts mehr im Wege. Wenn wir dabei an die Innerlichkeit denken, so würden Begriffe wie molekulare Psychologie oder Quantensoziologie durchaus in denselben Rahmen passen. Natürlich kann man lächeln und sagen, dass es sich nur um Ausdrücke handle, man müsse schliesslich dem Kind einen Namen geben. Da aber die Sprache ein wichtiges Mittel der Verständigung ist, sind falsche, unzutreffende oder missverstandene Ausdrücke bzw. Begriffe immer wieder die Ursache von folgeschweren Irrtümern. Im betrachteten Fall geht es um das, was unser Sein trägt: um das Leben. Beim Gedanken an die Manipulationen, die aufgrund von Fiktionsmodellen am Lebendigen durchgeführt werden, fallen mir angesichts der Unwiederbringbarkeit alles Lebens, die Worte ein, die CROMWELL an die Presbyterianer gerichtet hat:

«Ich flehe Sie an, meine Herren, wenigstens in Betracht zu ziehen, dass Sie sich auch irren könnten.»

 

Zusammengefasst können diese Betrachtungen über die naturwissenschaftlichen Modelle etwa wie folgt dargestellt werden: Beide, Restriktions- und Fiktionsmodelle sollen eine bestimmte Gegebenheit in der Natur repräsentieren. Bei Fiktionsmodellen kann der Richtigkeitsgehalt der Konstruktion im Gegensatz zu den Restriktionsmodellen nicht durch Anschauung oder eine den Sinnen direkt zugängliche Messung geprüft werden. Modelle sind Erkenntnismittel. Restriktionsmodelle können, durch die experimentelle Prüfung modifiziert, zum Erkenntnisziel werden. Das Werkzeug selbst wird zum Werk. Naturwissenschaftliche Modelle werden immer in der Absicht konstruiert, früher oder später als Erkenntnisziel gelten zu können. In Anbetracht der unübersehbaren Vielgestaltigkeit der Natur kann eine solche Annäherung an die Wirklichkeit nur asymptotisch sein. Fiktionsmodelle bleiben ihrer Definition nach Erkenntnismittel. Sie tragen die Möglichkeit der Metamorphose, welche das Mittel zum Ziel werden lässt, nicht in sich. Trotzdem werden Fiktionsmodelle als Erkenntnisziele eingesetzt. Besonders in der modernen Forschung. Wird dies getan, so sollte sich der betreffende Wissenschaftler bewusst sein, dass er mit einer in den letzten Konsequenzen nicht verifizierbaren Hypothese arbeitet. Fehlt diese Einsicht, so ist die Tätigkeit zumindest unwissenschaftlich.

 

 

Einige Beispiele sollen dem Versuch dienen, den Modellbegriff zu veranschaulichen. Jedem Modell liegt das Denken zugrunde, dem es als ein Schema entspringt. Dieses Schema kann sowohl formal als auch mit Hilfe von materiellen Mitteln dargestellt werden. Das heisst, Restriktions- und Fiktionsmodelle können als formale oder materiale Konstruktionen auftreten. Bei materialen Modellen wird versucht, das Konstruktionsmaterial nach Möglichkeit den Anforderungen hinsichtlich der Quantität wie auch Qualität anzupassen. Fiktionsmodelle erheben keinen Anspruch auf eine Darstellung von Qualitäten, da diese bei quantitativem Betrachten a priori ausgeschlossen werden.

 

 

Materiale Modelle sind den Sinnen zugängliche, meist visuelle Darstellungen der dem Denkschema inhärenten Ideenkomplexe. Ein materiales Modell ist eigentlich eine Projektion unserer Vorstellung in die Anschaulichkeit unter Anwendung eines geeigneten Affinitätsprinzips. So sind Demonstrationsmodelle, die zu Lernzwecken dienen, meistens Wirklichkeitsausschnitte, die auf zweckdienliche Dimensionen reduziert und transformiert wurden. Wir können dabei z. B. an einen Globus als Modell der Erde denken. Materiale Forschungsmodelle sind vom gleichen Prinzip geprägt. Der Unterschied zum Demonstrationsmodell besteht lediglich im Verwendungszweck.

 

 

Ein weiteres Beispiel ist ein Organismus, der als Modell eines anderen Organismus aufgefasst wird. Dies ist - die Feststellung sei hier vorweggenommen - nur unter Zugrundelegung einer mechanistisch-deterministischen Auffassung des Phänomens Leben möglich. Werden Pharmazeutika, welche für die Humanmedizin bestimmt sind, zuvor bei Tieren angewendet, so wird das Tier stellvertretend für den Menschen eingesetzt; es dient der Forschung als Modell. Organismenmodelle sind materiale Modelle, die - im Gegensatz zu allen übrigen - nicht von Menschen konstruierbar sind. Die menschliche Aktivität besteht lediglich im Suchen nach einer Analogie zwischen den ins Auge gefassten Organismen. Daraus geht hervor, dass der Modellbegriff die Organismen dann nicht einschliesst, wenn man das Modell als ausschliesslich menschliche Konstruktion oder als Denkschema definiert. - Als Beispiel eines materialen Fiktionsmodelles kann das gezeichnete oder plastisch dargestellte Atommodell genannt werden.

 

 

Bei den formalen Restriktionsmodellen wird ein Teil der empirischen Mannigfaltigkeit in den Bereich des reinen Denkens übertragen. Formale Fiktionsmodelle hingegen entstehen durch Abstraktion des reinen Denkens auf Quantitäten. In beiden Fällen handelt es sich um gedankliche Konstruktionen, die an Stelle empirischer oder gedachter Gegebenheiten stehen. Zum Ausdrücken dieser gedanklichen Konstruktionen bedient sich die Wissenschaft meistens einer Symbolsprache, die mit Formeln geschrieben wird. Der Begriff des formalen Modelles schliesst daher in erster Linie alle wissenschaftlichen Formeln ein, welche für einen gegebenen oder postulierten Sachverhalt stehen. Durch Konvention repräsentieren sie als symbolische Aussagen festgelegte Tatbestände. Gemäss den Konventionen werden die Symbole verknüpft, um eine formale Darstellung der in Betracht gezogenen Zustände oder Abläufe zu erhalten.

 

 

Ein Modell kann bezüglich der Realität die verschiedensten Ausprägungen aufweisen. Es gibt keine Norm, welche die Konstruktionen begrenzt. Modelle haben den Charakter eines Analogon. Jedem Sachverhalt können verschiedene Analogien zugedacht werden. Modelle tragen daher einen Vorläufigkeitscharakter, da sie nur solange gültig sind, als die Analogie ausreicht. Auch eine nach rationalen Maßstäben absurde Konstruktion fällt in den Bereich der betrachteten Modelle. Als Beispiel möchte ich die Bemühungen zum Bau eines perpetuum mobile nennen. Haben wir doch für die Gültigkeit der Hauptsätze der Thermodynamik keine anderen Beweise als die Misserfolge der Unglücklichen, die an der Erfindung dieser utopischen Maschine gearbeitet haben.

 

 

Bei den vorausgegangenen Betrachtungen über die Modelle entstanden viele Gedanken in gemeinsamer Arbeit mit Fräulein BARBARA SAEGESSER, die im Rahmen ihrer philosophischen Dissertation einen Vergleich zwischen dem Idealtypus bei MAX WEBER und dem Modellbegriff in den modernen Naturwissenschaften anstellt. Ich möchte Fräulein SAEGESSER an dieser Stelle meinen besten Dank für ihre Mitarbeit aussprechen.

 

 

Wie aus den bisherigen Überlegungen zu ersehen ist, haben Modellbetrachtungen für die Naturwissenschaften eine fundamentale Bedeutung. Denn die Methoden der Naturwissenschaften sind deduktiv. Das heisst, dass die Unfähigkeit des Intellektes, die Welt in ihrer Ganzheit nach Raum und Zeit zu erfassen, uns zwingt, aus der Mannigfaltigkeit Besonderheiten herauszugreifen und diese durch Abstraktion einer wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich zu machen. Diese Abstraktion führt unmittelbar zum Modellbegriff. Wird eine quantitative Behandlung einer Gegebenheit angestrebt, so muss das zugrundegelegte Modell mechanistisch-deterministisch sein. An diesem Modell wird die Mathematik als Werkzeug angesetzt. Sie formt daraus die differentiell-kausale Betrachtungsweise der exakten Naturwissenschaften. Um der Deutlichkeit willen möchte ich das, was auf der Hand liegt, noch einmal aussprechen: Jeglicher differentiell-kausalen Betrachtung liegt ein mechanistisch-deterministisches Modelldenken zugrunde!

 

 

Wie wir gesehen haben, konnte die differentiell-kausale Betrachtungsweise in jenen Bereichen der Natur, wo das Phänomen Leben weggedacht werden kann, beträchtliche Erfolge verzeichnen. Im sich immer weiter auflösenden Spektrum der exakten Naturwissenschaften erfreut sich heute am einen Ende die Physik der reinen Quantitäten, und am anderen Ende ringt die Chemie darum, die Qualitäten durch Quantitäten zu ersetzen. Auf diesem Boden, durch ökonomische Begehren gedüngt, wuchs und wächst die Technik, die als der Wissenschaft Herold die Erfolge aller Welt kundtut. Doch all diese Erfolge wurzeln in einer gedachten, materialistisch-deterministischen Weltkonstruktion, in der das Leben weggedacht ist. Wird die daraus entstandene differentiell-kausale Betrachtungsweise auf das Phänomen Leben angewendet, so darf dieses Vorgehen wenigstens nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet werden. Andernfalls ist wegen der Unwiederbringlichkeit alles Lebens unbedingt mit Trugschlüssen zu rechnen, deren Folgen irreversibel sind.

 

 

Eine Schwierigkeit in der Beurteilung dieser Situation besteht darin, dass die entsprechende Urteilskraft nicht, wie die naturwissenschaftlichen Kenntnisse, exponentiell anwächst. Im Gegenteil! Das Studium der exakten Naturwissenschaften wirr wegen des zunehmenden Wissens aus Zeitmangel immer mehr Ausbildung statt Bildung. Erschreckend wird die Bilanz, wenn man bedenkt, dass die Bildung eine: Menschen mindestens soviel Zeit erfordert wie eine qualifizierte Ausbildung in irgendeiner Disziplin der modernen Naturwissenschaften. Bildung heisst vertraut sein mit der Kultur und Zivilisation, in denen man lebt. Vertraut sein mit der Vergangenheit, Gegenwart und den Perspektiven der Zukunft. WINSTON CHURCHILL sagte, ein Staat bestehe aus der Gemeinschaft der Lebenden und der Toten. Ein Beispiel aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts soll zeigen, wie schwer es uns geworden ist, die Anwendung von mechanistischen Betrachtungen auf die innigste Erscheinung des Phänomens Leben, nämlich auf das Leben des Menschen, im richtigen Lichte zu sehen. Wählen wir aus den vielen Gegebenheiten LENINS Formel:

«Elektrizität + Sowjetsystem = Sozialismus.»

Allzugerne sind wir hierzulande geneigt, ausschliesslich den Summand «Sowjetsystem» als falsch zu bezeichnen. Es braucht hier wohl nicht betont zu werden, dass der dialektische Materialismus, welcher der Vater des Sowjetsystemes ist, seinen Ursprung im Positivismus des vorigen Jahrhunderts hat. Wenn auch jener Positivismus heute gerne als überlebt betrachtet wird, so ist doch zu beachten, dass seine Nahrung auf dem Boden der mechanistisch-deterministischen Betrachtungsweise gewachsen ist. Auf demselben Boden, aus dem die differentiell-kausale Methode der exakten Naturwissenschaften hervorging. Das heisst, Elektrizität und Sowjetsystem haben dieselbe philosophische Wurzel, so dass in LENINS Formel beide Summanden in Hinsicht auf das Menschenleben als bedenklich erscheinen müssen. In der direkten Anwendung der differentiell-kausalen Betrachtungsweise auf das menschliche Leben und Dasein kommt deren Beziehungslosigkeit zum Lebendigen wohl am deutlichsten zum Ausdruck, weil die Tat uns selbst betrifft. Doch sind die Zusammenhänge bei der Anwendung von physikalisch-chemischen Gesetzen auf das Leben im allgemeinen, eben auf das Phänomen Leben, sehr analog. Dem muss auch so sein, denn alles Leben ist aufs innigste miteinander verflochten.

 

 

Die Bestrebung, das Phänomen Leben als Ganzes zu erfassen, führt unser Denken in Gebiete, wo die mechanistisch-deterministische Modellvorstellung versagt. Die Gestalthaftigkeit des Lebens und der Welt überhaupt tritt in den Vordergrund. Die Zusammenhänge können differentiell-kausal nicht mehr erfasst werden. Von dieser Warte aus wird offenbar, dass Denken mehr als Rechnen ist. Wir müssen diese Gegebenheit hinnehmen, auch wenn der Intellekt aufbegehrt und versucht, seine Ratio dem teleologisch-finalen Geschehen aufzuzwängen. Die Befreiung von diesem Zwang führt zur morphologischen Betrachtungsweise, die zu ihrer Tätigkeit auch der Modellvorstellung bedarf. Doch unterscheiden sich die morphologischen von den mechanistischen Modellen etwa im gleichen Sinne wie die Lebewesen von den Maschinen. Wie die Lebewesen selbst sind sie differentiell-kausalen Betrachtungen in keiner Weise zugänglich. Denn sie veranschaulichen denjenigen Teil des Denkens, der nicht Rechnen ist. Wenn auch über das Verhältnis der qualitativen und quantitativen Geisteskräfte gestritten werden kann, so ist doch die Existenz der einen und anderen Form des Denkens evident.

 

 

Falsch wäre es, die Möglichkeiten der einen oder anderen Denkart zu überschätzen. Doch die Geschichte lehrt, dass jede Epoche die epochemachenden Kräfte überschätzt hat. Es wäre eine Anmassung gegenüber der Geschichte, zu glauben, dass unsere Epoche vor einem solchen Irrtum gefeit sei. Die geistige Grundlage der hervorragenden Kräfte unserer Zeit ist die auf der materialistisch-deterministischen Anschauung beruhende differentiell-kausale Betrachtungsweise. Da deren Überschätzung aufgrund geschichtlicher Erfahrung zumindest in Betracht gezogen werden muss, ist es sicher gestattet, die folgende Frage zu stellen : Hat nicht eine Überschätzung des differentiell-kausalen Denkens die Morphologie mit ihrer Sicht auf die Geschlossenheit und Ganzheit des Phänomens Leben in den Hintergrund jener Bühne gedrängt, auf der heute die exakten Naturwissenschaften die Hauptrollen spielen. In Anbetracht dieser offenen Frage ist es heute, da wir das 150jährige Bestehen unserer Naturforschenden Gesellschaft feiern, am Platz, die Bedeutung der morphologischen Betrachtungsweise klar zu erkennen.

 

 

Keine andere Betrachtungsweise gibt uns die Möglichkeit, das teleologisch-finale Verhalten des Lebens in seiner unauflösbaren Ganzheit darzustellen. Daher sind die Modelle der Morphologie immer Ganzheiten, die, wie ADOLF PORTMANN sagt, das Zeitgeschehen im Raume verweilen lassen. Es gibt da keine Differentiale, die sich zur Gestalt der Erscheinungsform integrieren lassen. Der Baum des Lebens lässt sich nicht in Atome auflösen. Nur dort, wo der Intellekt das Leben wegdenkt, gelingt es ihm, Differentiale aufzustellen und diese durch eine Integration in den Raum und die Zeit der Physik auszudehnen. Doch im Leben bedeutet der Raum Gestalt und die Zeit Dauer. Dauer ist dasjenige, was zwischen Werden und Vergehen, zwischen Geburt und Tod oder ganz einfach zwischen zwei Herzschlägen liegt.

 

 

Wenn im Spektrum der exakten Naturwissenschaften am einen Ende die reinen Quantitäten der Physik und am andern Ende die qualitativen Vorstellungen der Chemie stehen, so erscheint unter einer analogen Aufgliederung die morphologische Betrachtungsweise eingerahmt von einer schauenden, beschreibenden Wissenschaft auf der einen Seite und der darstellend-expressiven Kunst auf der anderen Seite. Als Beispiel für diese Antipoden könnten MENDELS Arbeiten über die Vererbung und NIETZSCHES Gedanken, die ihn zur Aussage führten «Was der Vater war, das wird der Sohn», genannt werden. Oder auch die Phylogenese der Paläontologen und die Idee der Urpflanze GOETHES sind ein solch sich ergänzend Paar von Wissenschaft und Kunst.

 

 

Es wäre unwissenschaftlich, entweder nur die differentiell-kausale oder nur die morphologische Betrachtungsweise als naturwissenschaftliche Arbeitsmethode gelten zu lassen. Eine Methode kann für die andere Ergänzung oder Hilfe sein. In der Gegensätzlichkeit könnte die eine die andere zur Besinnung anhalten. Doch sind bei der Anwendung der einen wie auch andern Betrachtungsweise deren Herkünfte klar zu erkennen.

 

 

Da ist die differentiell-kausale Methode mit ihren Wurzeln im mechanistisch-deterministischen Modellbegriff und dem Drang zum reinen Intellekt, der den Blick auf das Detail richtet und das Ganze aus dem Differential zu integrieren und verstehen versucht. Anders die Morphologie mit ihrer Schau auf das Ganze, verwurzelt in des Menschen Gestalt, als Mass für die Formen des Lebens. Ihre Tätigkeit ist zwischen Intellekt und Seele ausgespannt, zwischen Wissenschaft und Kunst. Ihr Ursprung findet sich in der Anschauung des Lebens.

 

 

Müssig wäre es, darüber zu streiten, welche der beiden Betrachtungsweisen die bessere oder gar richtige ist. Denn keine Betrachtungsweise vermag unsere Beschränkung zu sprengen. So oder so stossen wir allzubald auf die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens. Damit die Wissenschaft von menschlicher Grösse getragen werde, bedarf es dieser Einsicht. Andernfalls führt wissenschaftliche Tätigkeit zu einer Aktivität, die dem Verhalten von Fliegen an der Fensterscheibe gleicht. Auch wenn GOETHE seinem Faust heute ein anderes als NOSTRADAMUS' Buch in die Hände gäbe, würde er den Erdgeist immer noch mit dem alten Dialog entschwinden lassen:

 

Faust:    Der du die weite Welt umschweifst,

Geschäftiger Geist, wie nah' fühl ich mich dir!

Geist:    Du gleichst dem Geist, den du begreifst,

Nicht mir!

 

 

Wenn die Anwendung der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen auf ein ins Auge gefasstes Phänomen zur Erkenntnis führt, dass ein Zustand, ein Verhalten oder der Ablauf des beobachteten Geschehens unabhängig von der Richtung, aus der die Beobachtung durchgeführt wird, sich immer wieder bestätigt, so gibt die Wissenschaft dieser Tatsache den Rang eines Naturgesetzes. Mit Hilfe dieser induktiven Methode haben sowohl die differentiell-kausale als auch die morphologische Betrachtungsweise ihre Naturgesetze gefunden. Es ist selbstverständlich, dass sich der Charakter der nach der einen oder anderen Methode gefundenen Naturgesetze im gleichen Sinne unterscheidet, wie die Betrachtungsweisen selbst. Die Morphologie hat ihren Ursprung in der Schau und Betrachtung der Gestalthaftigkeit des Lebens. Ihre Gesetze erfassen die geschaute Erfahrung vom Werden, Sein und Vergehen der Lebensformen in Dauer und Gestalt. Die Gesetze der exakten Naturwissenschaften hingegen stellen alle differentiell-kausalen Ausdruckssormen von Beobachtungen dar, die aus der Sicht einer mechanistisch-deterministischen Modellvorstellung gewonnen werden. In letzter Konsequenz handelt es sich dabei immer um eine Erkenntnis dessen, was wir selbst hervorgebracht haben. Aus diesem Grunde tritt nirgends das Phänomen Leben als Grundlage eines differentiell-kausalen Gesetzes der exakten Naturwissenschaften auf. Denn in allen mechanistischen Modellen wird das Leben bewusst oder unbewusst weggedacht.

 

 

Etwas Einziges ist den morphologischen und kausal-differentialen Naturgesetzen gemeinsam. Es handelt sich dabei um eine Tatsache, an welche wir beim Wunsch, die Natur in den Griff zu bekommen, nicht gerne denken. Nämlich, dass die Natur an keines der vor uns gefundenen Gesetze gebunden ist. Es wäre heutzutage, wo mit Zeitabschnitten von der Grössenordnung Millionen oder gar Milliarden Jahre in die Vergangenheit und auch Zukunft extrapoliert wird, unwissenschaftlich, wenn eine solche Gebundenheit aufgrund der täglichen Erfahrung und ein paar Jahrhunderten Geschichte postuliert würde. Aber Häuser werden immer so gebaut, als ob es keine Erdbeben gäbe.

 

 

Aus unseren Betrachtungen geht hervor, dass bei der Anwendung physikalischchemischer Gesetze auf das Phänomen Leben mit einer Methode gearbeitet wird, deren Werkzeuge in einer gedachten, vom Leben abstrahierten Welt gebaut wurden. In einer Welt also, die es für uns nicht gibt. Ansporn für diese Anwendung sind die Erfolge der exakten Naturwissenschaften, welche sich beim Bau von Maschinen und der Synthese von chemischen Substanzen offenbaren. Aber es ist zu bedenken, dass die Auffindung von physikalisch-chemischen Prozessen in Lebewesen noch lange kein Hinweis dafür ist, dass das Leben auf physikalisch-chemischen Prinzipien beruht. Eine ganz verneinende Stellung nimmt KANT in seiner Kritik der teleologischen Urteilskraft ein:

«Es ist nämlich ganz gewiss, dass wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloss mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennenlernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiss, dass man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen oder zu hoffen, dass noch etwa dereinst ein NEWTON aufstehen könnte, der auch nur die Erzeugung eines Grashalmes nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde; sondern man muss diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen.»

 

 

Nun, die Wissenschaft soll frei und ohne Grenzen sein. Wie steht es aber mit der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse? Jede Anwendung dringt zutiefst in das Leben ein, da es für uns keine Welt ohne Leben gibt. Dabei erst wird die Unwiederbringbarkeit der Leben und des Lebens deutlich. Die naturwissenschaftliche Aktivität begann mit dem Barock. Seit dieser Zeit, also im Verlaufe von dreieinhalb Jahrhunderten, wurden exponentiell zunehmend über 40 Vogel- und- 45 Säugetierformen ausgerottet. Jeder mag diesen Verlust aus eigenen Perspektiven betrachten. Eines jedoch ist gewiss, dass kein einziger Naturwissenschaftler sich der Verantwortung für die Anwendung seiner Erkenntnisse entziehen kann, indem er sich in sein Laboratorium einschliesst. Wie jede Freiheit verlangt auch die Freiheit der Wissenschaft ein strenges Befolgen ethischer Gebote. Wo dies fehlt, wird die wissenschaftliche Tätigkeit immer mit dem Blut der Kreatur oder gar Menschen bezahlt.

 

 

Man sage nicht, dieser Preis wäre um des Fortschrittes willen notwendig. Alles was einen solchen Preis fordert, ist kein Fortschritt. Wenn man mir sagt, dass bei Ausschluss dieses Preises die gesamte auf den Methoden der differentiell-kausalen Betrachtungsweise beruhende Naturforschung eingeschränkt, wenn nicht gar in Frage gestellt würde, so ist meine Antwort: Ja. Eine Arbeitslosigkeit unter den Geisteskräften würde nicht ausbrechen, denn zur Bewältigung der heute vorliegenden technischen Errungenschaften bedürfte es einer geistigen Arbeit, die wahrscheinlich grösser, sicher aber schwieriger wäre, als alle bis jetzt geleistete wissenschaftliche und technische Arbeit.

 

 

Doch keine Angst! Die exakten Naturwissenschaften sind von einer solchen Umstellung nicht bedroht. Denn es ist einfacher und es scheint dem Menschen besser zu liegen, die Natur mit den Mitteln der Technik auszubeuten als sie zu gestalten. Wer Augen hat zu sehen, der kann schon heute sehen, wohin diese Ausbeutung führen wird. Es ist mir bewusst, dass einige in diesem Vortrag zum Ausdruck gebrachte Gedanken als ein Schwimmen gegen den Strom bezeichnet werden könnten. Doch, wer zur Quelle kommen will, muss gegen den Strom schwimmen.