![]() Der Mensch mit seinen Vermögen und Betätigungen
Eine von zahlreichen Skizzen zur Systemik, Anfang 1974
siehe auch die Zeichnung: Wichtige Vermögen und Tätigkeiten des Menschen
0. Systemik ist die Wissenschaft von den Systemen.
1. Wie jede Wissenschaft ist sie eine Betätigung des Menschen. Sie wird nicht von allen Menschen ausgeübt und Ist auch nicht die einzige Betätigung des Menschen. Auch Ist der Mensch nicht die einzige Sache, die sich betätigt.
2. Voraussetzungen jeder Betätigung sind das Können, das Vermögen, die Fähigkeit zum Tätigsein. Voraussetzungen sind aber auch das Wollen, der Antrieb, der Drang zum Tätigwerden. Fähigkeit und Drang beruhen ihrerseits auf Voraussetzungen (Anlage, Anstoss, Gesundheit, Gelegenheit usw.); diese beruhen wiederum auf Voraussetzungen usf. Beispielsweise sind Voraussetzung für das Verstehen des vorliegenden Textes die Beherrschung der deutschen Sprache - insbesondere ein gewisses Vor-Verständnis von Begriffen und Problemen – und ein Interesse am Antippen von erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fragen.
3.1. Zu den hervorstechendsten Zügen des Menschen gehört, dass er über Sprache und Denken, Bewusstsein und Vorstellungsvermögen, Gestaltungskraft und Handgeschick verfügt. (Andere Kennzeichen sind aufrechter Gang, Nacktheit, Quälen und Töten von Artgenossen, extrauterines Frühjahr usw.) Diese eng miteinander verknüpften Vermögen befähigen ihn u. a. zur Reflexion auf sich selbst und seine Auffassung von sich selbst, auf sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen, zu seinen und anderer Menschen Schöpfungen, zur Natur, über Wirklichkeit und Möglichkeit, Notwendigkeit und Wünschbarkeit. Der Mensch kann also das von ihm Erlebbare und Gedachte, das, was er geschaffen, aber auch, was er unterlassen hat, einer geistigen Betrachtung unterziehen - und diese Betrachtung selbst auch usf.
Eine solche Betrachtung sei im folgenden unternommen:
3.2. In ganz besonderem Masse erweisen Sprache und Denken ebenso Macht wie Beschränktheit des Menschen. Es sind universale Werkzeuge einerseits der Verständigung zwischen Menschen anderseits zur Erschliessung der Welt und von sich selbst.
Über den Menschen und seine Welt, über seine Sprache und sein Denken nachzudenken, sich zu äussern und diese Äusserungen zu verstehen erfordert aber immer schon Kenntnis und Anwendung von Sprache und Denken. So ist der Mensch Schöpfer wie Gefangener seiner Sprache und Sklave seines Denkens, insofern es von der Sprache geleitet ist. Die Grenzen meiner Sprache bedeuten aber nicht die Grenzen meiner Welt, wie Wittgenstein behauptet, denn das Vernehmen von Wörtern und Sätzen ruft Vorstellungen hervor. Mit dem Denken freilich ist nicht aus dem Denken hinauszukommen. Denkend ist der Mensch im Denken, und sich mitteilend oder den Mitmenschen verstehend ist er immer schon in der Sprache.
3.3. Ähnlich erweisen Bewusstsein und Vorstellungsvermögen Ohnmacht und Grösse des Menschen. Insofern Bewusstsein Bewussthaben von etwas ist, muss es immer schon zwischen sich und etwas anderem unterschieden haben, zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Welt, oder zwischen Akteur, Akt, Aktinhalt, -erzeugnis, -ergebnis usw. Auf diese Weise aber lässt das Bewusstsein den Menschen Distanz zu sich selbst und zur Welt gewinnen; und Distanz schafft Überblick, Weite, Befreiung.
Eine ähnliche Lösung aus der Enge der irdischen Existenz ermöglicht die Vorstellung. Doch lässt sie sich schwer lenken; der Mensch ist ihrer nicht vollständig Herr. Anderseits stösst sie auf Grenzen. Ihre Beliebigkeit verwehrt es dem Menschen, einen sicheren Halt zu gewinnen, gerade deshalb aber bannt sie ihn durch Faszination.
3.4. Gestaltungskraft und Handgeschick schliesslich ermöglichen die Schaffung von Kunstgebilden höchster Vollendung, von Bauten und Hilfsmitteln, aber ebenso von Vernichtungsmitteln und Folterinstrumenten. Beglückung und Tragik sind gleichermassen damit verbunden. Grenzen sind diesen beiden Vermögen vor allem durch die Begabung gesetzt, ohne die auch eifrige Übung nicht viel erreicht. Von den Wissenschaften erfordern die Naturwissenschaften in besonderem Masse Handgeschick, etwa für Labor- und Sektionsarbeiten, für Restaurations- und Rekonstruktionsarbeiten.
3.5. Sind die Grenzen von Vorstellungsvermögen, Gestaltungskraft und Handgeschick mit der "Natur" des Menschen gegeben, so liegen die Begrenztheiten von Sprache, Denken und Bewusstsein in ihrer eigenen Natur. Diese Schwäche zeigt sich paradoxerweise einerseits als Fort- oder Rückschritt ins Unendliche, anderseits als Drehen im Kreise. 3.5.1. Ersteres zeigt sich etwa in der Folge der Metasprachen: Um über eine Sprache zu sprechen, braucht es stets eine "höhere" Sprache, und um über diese höhere Sprache zu sprechen, braucht es eine noch höhere usf. Letzteres zeigt sich beim Definieren: Die Begriffsbestimmung erfordert Begriffe, die selbst noch nicht definiert sind; sollen diese definiert werden, so sind dafür wiederum Begriffe nötig, auch etwa zur Definition von "Definition" und "Begriff", „definieren“, "bestimmen" und "erfordern" oder „nötig sein“. 3.5.2. Beim Denken finden wir eine Folge von Fragen und Antworten. Jede Antwort lässt sich bezweifeln, jede Behauptung (also auch alle in diesem Buch) mit einer Gegenbehauptung anfechten, jede Festsetzung als weniger sinnvoll als eine andere erachten. Die Zirkularität zeigt sich beim Ausfindigmachen von Voraussetzungen: Es müssen immer schon Voraussetzungen erfüllt sein, damit ich also über Voraussetzungen nachdenken und sprechen kann (vgl. 3.2.) Wie bedeutsam nicht nur etwa physische , sondern auch sprachliche Voraussetzungen (z. B. Begriffe, Definitionen, Regeln) für das Denken sind, zeigt sich beim Behaupten und Verknüpfen von Aussagen, beim Schliessen und Beweisen, wo Wahrheitswerte, logische Partikeln, Variablenbereiche usw. bestimmt werden müssen. Da nach 2. Voraussetzungen zudem prinzipiell auf andere verweisen, ergeben sich für das Denken sowohl Kreisbewegungen von Voraussetzungen als auch Ketten, die nicht abbrechen. 3.5.3. Nicht viel anders steht es beim Bewusstsein. Sobald es sich - wie die Reflexion - auf sich selber richtet, steigert es sich in immer *höhere" Sphären. Anderseits gerät es in Zirkel, wenn es sich Sachen bewusst zu machen versucht, die gar nicht ins Bewusstsein "gehoben“ werden können. Ist sich das Bewusstsein des Nichtbewusstseinsfähigen bewusst, so ist dies zwar im Bewusstsein, aber dennoch nicht bewusst.
4.1. Dies eine fragmentarische Skizze des Menschenbildes der Systemik. Jede Wissenschaft basiert, bewusst oder "unbewusst" auf einem Menschenbild, und bei jedem ergeben sich Probleme ähnlicher Art, gleichwohl ob von Geist, Vernunft und Verstand, Erkenntnis, Einsicht, Intelligenz und Weisheit, Anschauung und Symbolfähigkeit, Arbeit und Produktivkraft, Werkzeuggebrauch und -herstellung, Soziabilität und Tradition, Religiosität und Spiel, Unmoral und Moral, höherem Streben und Gestik, Mimik, Lachen, Freude und Trauer, Misstrauen und Vertrauen usw. als von Wesensbestimmungen des Menschen die Rede ist.
4.2.1. Die Schwierigkeiten mit dem Humanen rühren davon her, dass der Mensch sich verschiedene Vorstellung davon machen kann, wie und wodurch ihm - nehmen wir möglichst neutrale Begriffe - "Sachen" *gegeben" sind, wie und womit er diese Sachen *meint" und wie, womit und wodurch er seine Vorstellungen, Absichten, Gefühle und Meinungen "kundgibt" und Äusserungen anderer Menschen "versteht". Obwohl diese Fragestellungen in den meisten Einzelwissenschaften heute kaum reflektiert werden, gehören sie doch zum Menschenbild und damit zur Grundlage jeder Wissenschaft. 4.2.2. Die Auseinandersetzung geht über Jahrtausende. Zu einem befriedigenden Abschluss ist sie nie gekommen (das liegt an 3.5.). Da dieser Disput über die "Realität der Aussenwelt", die "Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis", "Wahrheit und Wirklichkeit“, "Ding an sich und Erscheinung" oder "Materie und "Geist", "Erlebnis und Bewusstsein, "Umwelt und Innerlichkeit" oder "Sinn und Bedeutung", "Ausdruck und Darstellung", "Deutung und Erklärung" usw. in und mit der Sprache und dem Denken ausgetragen wird, verwenden die Disputanten immer schon Wörter und Sätze. Hier liegt das Kernproblem: Nicht diese Laut- oder Zeichengebilde selbst meinen Sachen, sondern es ist der Mensch, der mit ihrer Hilfe etwas meint. Was er meint, muss durch Konventionen festgelegt sein. Diese Konventionen werden den heranwachsenden Menschen von andern, älteren Menschen beigebracht: Der Mensch lernt Sachen und Wörter einander zuzuordnen. Da dieser Lernprozess Jahrzehnte dauert und vor allem von der Individualität der beteiligten Menschen und ihrer Umgebung bestimmt ist, fallen diese Zuordnungen meist recht unterschiedlich aus. Das zeigt sich im täglichen Gebrauch und in Wörterbüchern, in Zeitungsartikeln und Ideologien. Obgleich die Sprache das universellste und beste Verständigungsmittel ist, ist sie ein äusserst unzuverlässiges Vehikel. 4.2.3. Auch eine Formalisierung hilft wenig. Die Aussageform "A ^ B" beispielsweise meint gar nichts, wenn ich nicht "A" und "B" banal sprachlich nach ihrem Bereich bestimme, das Zeichen " ^ " als Junktor mit der Bedeutung "und" betrachte und das Ganze durch eine genau umschriebene Handlungsanweisung präzisiere (vgl. 3.5.2.). Erst dann kann ich "A ^ B" deuten als: "Löse sowohl die Aufgabe A als auch die Aufgabe B!" oder: "Erbringe zunächst den Beweis für die Aussage A. Anschliessend beweise die Aussage B" und nicht etwa: "Iss einen Apfel und einen Pferdeapfel." (Walter R. Fuchs: Knaurs Buch der modernen Mathematik. München, Zürich: Droemer Knaur 1966, 69) Doch, wie der Leitspruch der Phänomenologie paradoxerweise lautet: „Zurück zu den Sachen!“ 4.2.4. Konventionen müssen festgelegt sein, und das geschieht mittels Sprache. Erlernt werden beide in Schritten von Vorverständnissen. Ein erstes Vorverständnis betrifft die Zuordnung von hinweisender Gebärde und Zuordnung selbst ("Siehe, diese Sache, die ich dir jetzt und hier zeige, heisst 'Tisch'", oder: "Das ist ein Tisch und dies ist ein Stuhl", später: "Der Stuhl steht am Tisch" und: "Der Tisch ist gedeckt, d. h. es sind Sachen darauf, auf denen, mit denen und woraus man essen und trinken kann; und das wird 'Gedeck' genannt" usw.). Auch derjenige, der die Zuordnungen zeigt, hat sie einst selbst lernen müssen. Dessen ist er sich kaum bewusst, ausser in Fällen, da ihm die Kenntnis von Zuordnungen fehlt, beispielsweise für Farbtöne, Bäume, Vögel, Automarken, Fremdwörter, Fachbegriffe usw. Mit den Zuordnungen verbinden sich Vorstellungen. Diese sind jedoch derart individuell, dass derjenige, der Wörter und Sätze äussert, keinerlei Gewissheit hat, im Vernehmenden dieselben Vorstellungen hervorzurufen, die er selbst hat. Jeder stellt sich vermutlich unter Tisch, rot, Eltern, Xenophobie, Geist, Freiheit, System etwas anderes vor. 4.2.5. Vorstellungen sind bildhaft, und es scheint, dass der Mensch nicht nur in überwiegendem Masse in Bildhaftigkeit, sondern auch viel häufiger in Vorstellungen lebt, als dass er Sachen der Aussenwelt tatsächlich "sieht". Auch wenn er die Augen offen hat, schieben sich die meiste Zeit Vorstellungen vor das "geistige Auge", sofern er nicht die Absicht hat, seine Aufmerksamkeit ausdrücklich auf Gebilde und Ereignisse der Aussenwelt zu richten. Ob Gedanken ebenfalls Bildcharakter aufweisen, ist eine offene Frage. Während Vorstellungen jedenfalls beliebig sind und häufig eine Art Eigentätigkeit entfalten, steckt hinter dem Gedanken eine Anstrengung: das Bemühen, Wesentliches zu erfassen. In einem vielfältigen Tätigkeitsnetz von Suchen und Vergleichen, Abwägen und Kombinieren werden Vermutung, Behauptungen, Absichten und Vorstellungen geprüft. Das Denken ist eine Betätigung, die sich sowohl des Vorstellungsvermögens als auch der Sprache bedient, an deren Produkten arbeitet und damit "Gedanken" schafft, die ständiger Korrektur und Neugruppierung fähig sind, sofern die "Anstrengung des Begriffs" und die Anwendung von Regeln und Kriterien zur Ordnung von Vorstellungen dahinter stehen. Auch diese Vorschriften und Gesichtspunkte selbst müssen stets überprüft und neu zusammengestellt werden, was unter Zuhilfenahme des Bewusstseins geschieht. 4.2.6.1. Eine Besonderheit des Vorstellens und Denkens sowie des Sprechens und Schreibens, Hörens und Lesens ist ihr Ablauf in der Zeit. Es ist nicht möglich "alles auf einmal“ sich vorzustellen und zu denken, sich über alles auf einen Schlag zu äussern, einen Text im Nu zu lesen. Überhaupt jede Tätigkeit erfolgt sukzessive. Der Mensch ist nicht imstande, eine grössere Zahl von Betätigungen gleichzeitig auszuführen. Gewiss kann er gleichzeitig beispielsweise gehen und denken, aber er kann nicht gleichzeitig gehen und schreiben, sich ärgern und sich freuen, sich einen Tisch und einen Baum vorstellen. Vorstellungen und Gedanken können sich freilich ausserordentlich rasch ablösen, Körperbewegungen aber schon weniger und Gefühle noch weniger rasch. Immerhin erlaubt aber die Automatisierung gewisser körperlicher und geistiger Betätigungen, beispielsweise beim Lenken eines Autos oder Vorbereiten eines Experimentes, ein Nebeneinander mehrerer Tätigkeiten. 4.2.6.2. Wenn es eine der Absichten oder Aufgaben des Denkens ist, Ordnung herzustellen, sich Klarheit und Gewissheit zu verschaffen, dann bedeutet das vor allem ein Bemühen um thematische Gliederung. Fehlt eine solche in der Mitteilung von Vorstellungen und Gedanken, z. B. in einer politischen Rede oder in einem Essay, in einem Handbuchartikel oder in einer Reisebeschreibung, so gilt das als wirr. Nun sind auch dem Denken Grenzen gesetzt. Alles zu ordnen, ist dem Menschen nicht möglich. Fr kann dies nur in kleinen Teilbereichen. Grosse Bereiche zu einem Ganzen zusammenzufassen, ist ihm versagt, ebenso letzte Sicherheit oder Deutlichkeit zu erreichen. Das liegt eben an der zeitlichen Reihenfolge und an der Unabschliessbarkeit des Denkens (vgl. 3.5.2.). 4.3.1. Dennoch strebt der denkende Mensch nach Ordnung, indem er Ursache-Wirkungs-Ketten ausfindig macht, Ganzheiten aufgliedert und die Glieder neu zusammenstellt, Tätigkeiten plant usw. Eine Abhandlung zu schreiben, einen Banküberfall zu begehen, eine Werbekampagne zu starten oder eine Reise zu unternehmen, ein Fernsehprogramm oder ein Budget zu gestalten, ja schon für Ernährung und Kleidung zu sorgen, erfordert stets einen Plan. Gewiss gibt es auch Tätigkeiten, die planlos ausgeführt werden, und häufig werden Pläne erst im Verlauf der Tätigkeit gefasst, umformuliert, detaillierter ausgearbeitet oder durch andere ersetzt, doch in der überwiegenden Zahl der Fälle lebt der Mensch nach Plänen, nach Programmen, betreffen das Arbeitszeit und Pensum oder Körperpflege und Hobbys. Freilich erfordert auch die Planung von Plänen, die Koordination und Kontrolle von Plänen wiederum einen Plan usf. So wäre also das Planen, stets verbunden mit Vorstellungen und Absichten (vor allem Weg und Ziel, Mittel und Zweck), eine besondere Form des ordnungsschaffenden menschlichen Denkens. Dabei bedeutet das Problem erkannt zu haben und sich der Schwierigkeiten bewusst zu sein bereits einen grossen Schritt auf die Lösung einer Aufgabe zu. 4.3.2. Wie erkennt der Mensch aber überhaupt etwas? Sofern die Sprache etwas über Sachen aussagt - und auf dieser Hoffnung beruht ein grosser Teil der Wissenschaft, wenn sie nicht Selbstzweck sein möchte oder aus Freude an mathematischen und logischen Konstruktionen betrieben wird - müsste man sie „beim Wort" nehmen - ohne dass wir gezwungen wären, gleich jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Dann stellen wir bald fest, dass die Sache mit dem Zuordnen etwa von Sache und Begriff oder dem Gegebensein und Meinen von Sachen gar keine so einfache Sache ist. Wie der Mensch so "können" - das macht uns die Sprache weis - auch Sachen allerlei. Ob sie auch „wollen“, bleibe dahingestellt. Jedenfalls kann ich sagen: Etwas springt mir in die Augen, kommt mir zu Ohren, sticht mir in die Nase, beisst auf der Zunge, bedrückt mich, stösst mir sauer auf, erregt meine Neugierde, weckt mein Interesse und fesselt meine Aufmerksamkeit; dabei läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Weiter: Ein Gedanke durchfährt mich, eine Vorstellung peinigt mich, Wut packt mich, eine Idee lässt mich nicht mehr los, es sei denn, der Schein trüge oder es sei mir nichts Besseres mehr eingefallen. Diese beliebig vermehrbaren Beispiele zeigen nicht nur die Bildhaftigkeit auch der Sprache und die "Aktivität" der Sachen, sondern auch, dass die Beziehung Mensch-Sache vielschichtig und wechselseitig ist. Nicht nur der Mensch ist Subjekt, sondern auch das vermeintliche Objekt. Ein ganzes Arsenal von Formulierungen steht zur Beschreibung dieses Verhältnisses zur Verfügung, wobei auch bei allgemeineren Formeln die Bildhaftigkeit deutlich zutage tritt: Die Sache erscheint oder scheint nur so, zeigt, offenbart, enthüllt sich, bietet sich dar, tritt mir entgegen, macht sich mir vernehmlich. Sie wirkt auf den Menschen ein, zahlt sich aus, duldet keinen Aufschub oder drängt sich auf, affiziert seine Sinne, ruft Sinnesempfindungen hervor, bewegt sein Gemüt, überhaupt seine Fassungskraft, erschüttert Vorstellungen und wirft gar sein Selbstbild über den Haufen. Umgekehrt heisst es vom Menschen nicht nur, er erkenne, begreife, verstehe, entdecke, erfasse, meine, erkläre, kläre, skizziere Sachen, er nehme sie wahr oder hin, stelle sie sich vor, beurteile, bewerte und beweise sie, sondern er könne auch einer Sache, die ihn über Gebühren beanspruche, zu Leibe rücken oder auf den Grund gehen, er könne auf eine Sache stossen und dann von ihr abstrahieren, er erlebe etwas oder schliesse auf etwas, er mache etwas ausfindig und sehe etwas ein, er werde aus einer Sache nicht schlau oder kümmere sich einen Deut darum, oder finde, man solle lieber die Hände davon lassen, die Sache komme ihm spanisch vor. 4.3.3. Solch schlichte Beispiele illustrieren die Problematik von "Sinnlichkeit und Verstand“, "Anschauung und Denken", "Einbildungskraft und Urteilskraft", "reine und praktische Vernunft", "Begriff und Idee". Es gibt vielerlei Lösungsvorschläge, wie diese Problematik in den Griff zu bekommen oder auf den Begriff zu bringen sei. Dies geschieht mit Sätzen, die wenig besagen, wenn man nicht weiss, wie der Autor seine Begriffe aufgefasst haben will. Wenn beispielsweise Klages behauptet, die Objekte seien "entfremdete Subjekte" und die Dinge "bloss abgenötigte Erzeugnisse der Ichtätigkeit des Vergegenständlichens" (1929, 121 u. 146) oder "die 'Projektion' des Ichs in die Wirklichkeit" (1921, 21), so sagt das demjenigen nichts, der die Klagessche Optik - etwa den Gegensatz Erleben-Denken und Bild-Ding - nicht kennt; es verleitet ihn höchstens zu Behauptungen, die Klages' Intention entstellen. Ähnliches trifft für Husserls "Prinzip aller Prinzipien" zu oder auf Heideggers Satz: "Das Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis ist das Phänomen der Welt" (1927, 86) oder auf diejenigen Wittgensteins: "Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit ... Das Bild ist eine Tatsache ... Die Tatsache muss, um Bild zu sein, etwas mit dem Abgebildeten gemeinsam haben ... Das Bild hat mit dem Abgebildeten die logische Form der Abbildung gemein ... Was das Bild darstellt, ist sein Sinn ... Die Gesamtheit der wahren Gedanken sind ein Bild der Welt" (Tractatus, 2.12.-3.01) usw. 4.3.4. Verrät uns die Sprache etwa mehr über den Menschen, der sie gebraucht, als über die Sachen und das Verhältnis Mensch-Sache? Enthüllt sie das Geheimnis dessen, was "ist", "da" ist, existiert, vorkommt, anwest, begegnet, gründet, sichtbar wird, verweist, von dem, was "es gibt", oder sich gibt, was sich erschliessen lässt, auslegt, ausweist oder verbirgt, sich vollzieht, ereignet, zeitigt, befindet, verhält, vorfindet, bildet, konstituiert, entwickelt usw? Oder "verrät" die Sprache die Sachen und Beziehungen in dem Sinne, dass sie sich von ihnen abwendet und damit der beliebigen Auffassung durch den Menschen preisgibt? Wenn wir dem Menschen auf den Mund schauen, erhellt uns dies anscheinend eher etwas über den je einzelnen, sein Temperament, seine Interessen, durch welche Schulen er gegangen ist, in welchem Milieu er aufgewachsen ist, womit er Umgang pflegt, in welchem weltanschaulichen Lager er steht. Die Wörter, die jemand verwendet, und die Sätze, die er damit bildet, verraten also Herkunft, Standort und Blickwinkel des einzelnen Menschen: wie er die Sachen sieht, nicht, wie sie "an sich" oder "schlechthin" sind. "Was dem einen sin Ul, ist dem andern sin Nachtigall." Derselbe Mensch kann von andern als Freibeuter oder Freiheitsheld, Verbrecher oder verirrtes Schaf, Fanatiker oder Frustrierter, Kämpfer für legitime Rechte oder Feigling bezeichnet werden. Dieselbe Sache, beispielsweise Mord, kann als heilige Pflicht oder als Blutbad, verständlich oder unentschuldbar, Akt der Befreiung oder Ausweis der Unmenschlichkeit des Menschen betrachtet werden. Das heisst auch, es gibt keine Objektivität. Schon die einzelnen gebrauchten Wörter offenbaren eine Bewertung der Sache. Dies zeigt sich täglich schon bei den "Nachrichten“. Umgekehrt sind viele Wörter mehrdeutig. Ein Anschlag kann ein Überfall oder ein beschriebenes Blatt Papier sein. Eine Mitteilung kann man anschlagen, aber auch den Kopf. Man kann den Gegner oder den Takt schlagen, im Takt gehen oder jeglichen Takt vermissen lassen; Taktilität hat etwas mit Sinnesempfindungen zu tun, Taktik mit dem Vorgehen; Kontakt kann Feindberührung oder zeitweiliges Zusammentreffen oder Verständigung auf Distanz oder eine Schalterstellung und dergleichen meinen. In vielen Fällen sucht man der Bedeutung von Wörtern durch Aufweis ihrer Etymologie nachzugehen - z. B. „Takt, lat. tactus 'Berührung’'' -, wobei man dann meist rasch in das Geflecht von Fremdwörtern, Lehnwörtern, Eindeutschungen usw. gelangt, z. B. bei Ratio, Intellekt, Prinzip, Phänomen, Idee, Technik, Medium, Existenz, Theorie, Revolution usw.
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