Systemik IV
Mit noetischem Bllick
Eine von zahlreichen Skizzen zur Systemik, Anfang 1974
Systemik ist die Wissenschaft von den Systemen.
Wie jede Wissenschaft ist sie eine Betätigung des geschichtlichen Menschen in der Gemeinschaft. Es ist freilich nicht die einzige Betätigung des Menschen, und sie wird auch nicht von allen Menschen ausgeübt.
Auch ist der Mensch nicht die einzige Sache, die sich betätigt. Jede Betätigung beruht auf Voraussetzungen, beispielsweise auf dem Vorhandensein dessen, was sich betätigt, auf seinem Vermögen, tätig zu sein und auf seinem Streben, tätig zu werden und zu bleiben. Vorhandensein, Vermögen und Streben beruhen ihrerseits auf Voraussetzungen, die auf weitere Voraussetzungen verweisen, denen wiederum Voraussetzungen zugrundeliegen usf.
Jede Wissenschaft beruht zudem auf Bildern, wie Weltbild, Menschenbild, Selbstbild oder Geschichtsbild, Gesellschaftsbild, Kulturbild.
Grundlage dieser Bilder der Systemik ist eine noetische Optik. Ihr Ausgangspunkt ist das Können und Wollen, Tun und Lassen des Menschen. Ihre Grundbegriffe sind:
Die mit diesen acht Begriffen gemeinten Grundmengen machen die Fülle der Sachen aus.
Der Mensch, der Systemik betreibt, ist überzeugt, dass es diese Sachen gibt und dass sie sich aufweisen lassen.
Weitere für die noetische Optik bedeutsame Begriffe sind Elemente der folgenden Sätze:
Der Mensch kann je von einem Standpunkt aus noetische Blicke schweifen lassen. Er kann aber weder mehrere Standpunkte zugleich einnehmen noch seinen noetischen Blick auf alles zugleich richten. Vielmehr bestimmen Standpunkt und Blickrichtung verschiedene Perspektiven. Der Blickwinkel grenzt hierbei Bereiche aus, und zwar auf verschiedenen Niveaus, je nach der Distanz, welche der Blick durchmisst. Der Blick lässt sich in diesen Bereichen je fokussieren auf Gebilde, kategoriale Bestimmungen, Ereignisse, Regeln, Relationen und Mengen. Das Schweifenlassen setzt einen offenen Horizont und das Fokussieren ein Unterscheiden zwischen den Grundmengen von Sachen voraus. Der noetische Blick weist Sachen auf, indem er Bilder davon erzeugt. Mehrere Sachen ergeben eine Menge, z. B. eine Art, eine Gattung, einen Bereich, eine Grundmenge. Sachen sind Elemente von Mengen. Sachen lassen sich kategorial bestimmen, d. h. die Bestimmung ihrer Besonderheiten erfolgt als Merkmale in den Kategorien Substanz, Quantität, Qualität, Raum, Zeit usw. Ereignisse sind Änderungen von kategorialen Bestimmungen. Eine Menge von Ereignissen ergibt einen Prozess, eine Bewegung, Handlung oder Entwicklung. Ereignisse werden durch Regeln bestimmt, z. B. Vorschriften, Naturgesetze, Riten. Relationen sind Beziehungen zwischen kategorialen Bestimmungen. Eine Menge der Relationen ergibt eine Struktur. Mengen finden sich auf verschiedenen Niveaus, so dass ein Element auf dem einen Niveau einer Menge auf dem nächsten Niveau entspricht. Gebilde sind Elemente der Restmenge, die sich ergibt, wenn von der Fülle der Sachen die Grundmengen der kategorialen Bestimmungen, Ereignisse, Regeln, Relationen, Mengen, Niveaus und Perspektiven abgezogen wird. Gebilde sind etwa die Erde, der Mensch, das Gehirn, das Atom, ein Gemälde, ein Satz, eine Formel, eine Idee. Eine Menge von Sachen, zwischen deren kategorialen Bestimmungen besondere Relationen bestehen, ist ein System.
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Die mit diesen Begriffen und Sätzen gemeinten Sachen stehen in einem komplizierten Netz von Abhängigkeitsrelationen. Es schrittweise zu entfalten, ist ein Hauptbestreben der Systemik. Die unabsehbaren Schwierigkeiten, die sich hierbei ergeben, rühren davon her, dass dieses Netz von Voraussetzungen und Bestimmungen übers Kreuz eng verflochten ist aus den beiden Grundstrukturen Gerade und Kreis.
Die Gerade geht nach beiden Seiten ins Unendliche, während der Kreis geschlossen ist. Beide haben weder Anfang noch Ende. Ansatzpunkt oder Knüpfungsstelle bei beiden sind damit beliebig. Die damit gemeinten Sachen, beschrieben durch die lateinischen Begriffe "regressus" und "progressus in infinitum" und "circulus vitiosus oder durch den Volksmund mit der Frage nach dem Huhn und dem Ei sowie mit der Geschichte vom hohlen Zahn, oder John Wallis’ Ähnlichkeitspostulat und die Russelsche Antinomie oder Heraklits panta rhei und den Krokodilschluss usw., lassen sich etwa über folgende Sätze aufweisen:
Eines der vielen den Menschen auszeichnenden Vermögen ist dasjenige der Reflexion: Er kann seinen noetischen Blick auf sich selbst zurückbiegen. Hiefür muss er sich irgendwie verdoppeln, sich sich selber gegenüberstellen, jedenfalls in eine Perspektive rücken. Damit reiht er sich unter die Gebilde ein, die kategorial bestimmt und auf verschiedenen Niveau betrachtet werden können. Andere Menschen freilich betrachtet er immer schon als Gebilde. Um aber diese andern Menschen als Gebilde mit sich selbst als Gebilde in Beziehung bringen zu können, muss er sich dennoch aus sich heraus setzen.
Kann der Mensch im noetischen Blicken überhaupt von sich selbst absehen? Das Menschenbild, das er sich macht, betrifft ja auch stets ihn selbst; das Weltbild betrifft nicht eine beliebige Welt, sondern seine Welt und ist zudem abhängig vom Menschenbild, genauso wie etwa das Kultur- und Gesellschaftsbild die menschliche Kultur und Gesellschaft betreffen und ebenfalls vom Menschenbild, aber auch vom Weltbild abhängig sind, wobei alle diese Bilder wiederum Elemente der Kultur sind, usw.
Der Mensch ist also auf eine höchst verwirrende Weise in Bildern von sich selbst, seinen Betätigungen und deren Ergebnissen gefangen, damit befangen, Angeklagter und Kläger, zeuge und Bürge, Verteidiger, Richter und Urteilsvollstrecker ineins und in eigener Sache. In eine zweite Verstrickung bringt ihn ein weiteres ihn auszeichnendes Vermögen: sich mit andern Menschen auf verschiedene Arten verständigen zu können.
Verständigung erfolgt mittels Sprachen, deren Elemente sinnlich wahrnehmbare Zeichen sind. Voraussetzung hiefür sind zahlreiche Fähigkeiten des Menschen: sich ausdrücken, sprechen, schreiben, zeichnen, zeigen, sehen, hören, verstehen, denken, lernen usw. Da diese Voraussetzungen auf weitere Voraussetzungen verweisen usf., erfordert Verständigung ebenso wie das noetische Blicken den ganzen Menschen und seine Welt.
Kann der Mensch in der Verständigung überhaupt von sich selbst absehen?
Worüber er sich mit Hilfe der von Menschen geschaffenen Sprachen verständigt, das sind ja die Bilder, die er sich mittels des noetischen Blicks von den Sachen macht. Menschen verständigen sich über ihre Bilder, indem der eine Mensch seine Bilder in Folgen von Zeichen ausdrückt und andere Menschen diese Zeichenfolgen, die eine besondere Art Sachen sind, mit noetischen Blicken betrachten und sich so ihrerseits Bilder machen. Die Herstellung und Verwendung von Zeichen ist durch Regeln bestimmt, die unter den Menschen mit Hilfe wiederum von Sprachen ausgehandelt werden. Die Zeichen und die Regeln für ihre Zusammenstellung können und müssen gelernt und gelehrt werden, was für manche Sprachen in einem langwierigen Prozess erfolgt.
Durch die mehr oder weniger strikte Einhaltung der Regeln sowie durch Neuschöpfung, Änderung und Eliminierung von Zeichen wandeln sich die Sprachen und damit auch die Bilder.
Die Bestimmung von Regelabweichungen als tolerierbar, grobe Verstösse oder sinnvolle Neuerung und die Beurteilung des Sprachwandels erfordert selbst wieder die Anwendung von Regeln.
Hinzu kommt, dass der noetische Blick nicht nur von Menschen als Zeichen vereinbarte Sachen für Zeichen nimmt: Er kann zahlreiche andere Sachen als Hinweise, Anzeichen oder Symptome betrachten. Aber es ist stets der Mensch, der sie so betrachtet, selbst wenn er sich etwa mit Tieren verständigt, Und wenn er die Verständigung der Tiere untereinander und ihre Fähigkeit zur Betrachtung von Sachen als Hinweise, Anzeichen oder Symptome betrachtet, ist wiederum er es, der sich davon Bilder macht.
Sprachen dienen aber auch dem Denken.
Denken besteht im Klären und Deutlichmachen der Bilder, und zwar vorwiegend mit Hilfe der Sprachen. Voraussetzung ist hierbei nicht nur das Vermögen, sich Bilder zu machen und die Beherrschung der Sprachen, sondern auch das Streben nach Klarheit und Deutlichkeit.
Der Mensch ist also nicht nur in Bildern, sondern auch in Sprachen gefangen, sofern er denkt und sich mitteilen will, dies besonders auch dann, wenn er sich von diesen Sprachen Bilder macht und darüber nachdenkt, sich vom Denken Bilder macht und sich über die Bilder der Sprachen und des Denkens verständigt.
Das Verfügen über Sprachen erlaubt dem Menschen, unter anderem zu fragen und zu antworten. Das bringt erneut die beiden Grundstrukturen ins Spiel: Wenn sich jede Antwort auf eine Frage selbst in Frage stellen lässt, ergibt sich eine nicht abbrechende Folge von Antworten und Fragen; wenn sich aber auch fragen lässt, was eine Frage oder Antwort sei, ob eine Frage sinnvoll sei oder nicht und wie der Mensch überhaupt zu Fragen und Antworten komme, ergeben sich Zirkel. Da sich auch jede Behauptung mit einer Gegenbehauptung anfechten lässt und sich jeder Zweifel anzweifeln lässt, ergeben sich für Behauptungen und Zweifel ähnliche nichtabbrechende Folgen. Bei der Frage nach sinnvollen Behauptungen und Zweifeln sowie vor allem beim Definieren und Beweisen ergeben sich hingegen Zirkel.
Bilder und Denken und Sprachen und Menschen stehen als je besondere Sachen in einem derart eng geknüpften Netz von Relationen, dass dessen volle Entfaltung der Entwirrung des gordischen Knotens gleichkäme. Gerade dies ist Ansporn für die Wissenschaften, wenigstens Teilmengen von Relationen zwischen Sachen und Sachen, insbesondere zwischen Mensch und Sachen zu klären zu versuchen.
Dieses Unterfangen erfordert den mutigen Entscheid, irgendwo anzufangen. Die Systemik hat mit dem noetischen Blick und den acht Grundmengen von Sachen begonnen.
Die noetische Optik beruht demnach auf der Unterscheidung von Mensch, noetischem Blick, Sachen und Bildern von Sachen, wobei Mensch, Blick und Bild ebenfalls Sachen sind. In der Reflexion als einer besonderen Perspektive kann der Mensch auch sich selbst, seinen noetischen Blick und seine Bilder sowie die Relationen Mensch-Blicke, Mensch-Sachen, Mensch-Bilder, Blicke-Sachen, Blicke-Bilder, Sachen-Bilder betrachten, wovon er sich wiederum Bilder macht. Aber auch die Reflexion selber kann der Mensch als Sache betrachten, von der er sich mittels eines noetischen Blicks erneut ein Bild macht, usf.
Diese Reflexion ist die Grundlage der vorliegenden Betrachtung, in der sich ein Mensch mit andern Menschen über diese Bilder der Sachen zu verständigen versucht. In dieser Verständigung lassen sich weiter Relationen zwischen je besonderen Sachen aufweisen, etwa Mensch-Menschen, Mensch-Sprachen, Sprachen-Sprachen, Mensch-Zeichen, Sprachen-Zeichen, Sprachen-Sachen, Sprachen-Bilder, Zeichen-Zeichen, Zeichen-Sachen, Zeichen-Bilder.
Hinzu kommen beim Denken die Relationen Mensch-Denken, Denken-Bilder, Denken-Blick, Denken-Sachen, Denken-Sprachen, Denken-Zeichen.
Die Relationen im Bereich der Sachen werden gemeinhin in der Ontologie, diejenigen im Bereich des noetischen Blickes und der Reflexion in der Erkenntnistheorie aufzuweisen versucht, die Relationen im Bereich des Denkens in der Logik, der Verständigung in der Semiotik.
Diese philosophischen wie wissenschaftlichen Bemühungen und Bereiche stehen ihrerseits über den Menschen in Relation.
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