Systemik II
Die Wissenschaft nimmt den Anfang mit dem Menschen
Eine von zahlreichen Skizzen zur Systemik, Anfang 1974
Die Problematik ist einigermassen paradox. Die Vorstellung einer neuen Wissenschaft müsste mit dem beginnen, was ihr Ziel ist und Resultat sein sollte, nämlich mit dem Aufzeigen der Bedingungen der Möglichkeit, mit Erklärungen. Menschliches Erkennen vollzieht sich in einem Regelkreis. Das Einsetzen der Untersuchung ist an einem beliebigen Punkt möglich. Kein Punkt in diesem circulus vitiosus hat den Vorrang gegenüber den andern, jeder ist auf alle andern angewiesen und diese auf ihn.
Auch diese fünf Sätze sind schon ein Ergebnis. Resultat einer langen Kette von Überlegungen eines Wesens, das sich selbst als zum Denken befähigt betrachtet. Und aus diesem Denken herauszukommen, so scheint es, gelingt nicht. Der archimedische Punkt fehlt. Damit haben wir uns abzufinden. Das Denken erweist gleichermassen Grösse und Grenzen des Menschen.
Unsere neue Wissenschaft nimmt den Anfang mit dem Menschen, mit dem was er kann, weiss, will und tut, was er nicht kann, nicht weiss, nicht will, nicht tut. Schon für diese Unterscheidungen von Können und Nichtkönnen, Wissen und Nichtwissen bedarf es der Kriterien. Kann der Mensch wirklich denken und wie unterscheidet sich solches von Wachträumen oder Vorstellen oder sprechen?
Wie unterscheidet der Mensch überhaupt, wie bestimmt er dieses als dieses und jenes als jenes, wie stellt er Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten fest, woher hat er seine Fähigkeiten, woher die Kriterien und die Regeln zu deren Anwendung?
Sind alle Menschen imstande, Wissenschaft zu treiben; wonach bemisst sich das, was Wissenschaft genannt wird, etwa in Abhebung von Kunst, Handwerk, Spekulation, Weltanschauung oder Philosophie? Welche Menschen wissen, was der Mensch wissen kann, was ein Kriterium, was Wissenschaft, was Philosophie, was der Mensch ist? Tut der Mensch, was er kann, weiss er was er tut, will er was er tut auch tatsächlich tun, weiss er, warum er es tut?
Wir befinden uns gleich zu Beginn mitten in der Problematik alles Menschlichen. Wissenschaft basiert auf unzähligen Voraussetzungen. Eine davon ist der Mensch, sein Können und Wissen, Wollen und Tun. Wissenschaft ist abhängig von Begabungen, Interessen und Überzeugungen, von Gelegenheit und Hilfsmitteln.
Der Mensch selbst ist wiederum auf Nahrung, Wasser, Luft und Licht angewiesen, auf "die Natur" also, aber auch auf seine Mitmenschen, Eltern und Lehrer, die ihn pflegen, aufziehen, erziehen, bilden, auf Produzenten und Verteiler, Ärzte und Berater, Kollegen am Arbeitsplatz, Kollegen des Fachgebiets. Der Mensch ist nur längere Zeit lebensfähig in einem bestimmten Temperatur- und Druckbereich, aber auch ein seelisches und geistiges Arbeitsklima ist vonnöten, Anregung und Ansporn, ein Wechselspiel von Arbeit und Erholung, Kalkül und freier Phantasie. Eingebettet in natürliche Rhythmen, in den Wechsel von Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, den Wechsel des Sonnenstandes, der Jahreszeiten, von blauem Himmel, grauem Himmel, Wind und Niederschlag, verzehrt der Mensch pflanzliche und tierische Produkte, benützt von Menschen produzierte Kleidung, Behausungen, Apparate, Anlagen, aber auch Erkenntnisse und Vorschläge, er informiert sich, zerstreut sich, freut und ärgert sich, strebt und hofft. Er muss befähigt sein, zu beobachten und Schlüsse zu ziehen, muss sich orientieren und mitteilen können, Regeln einhalten, Steuern bezahlen.
Was ist davon notwendig, was nur wünschenswert? Gibt es verschiedene Stufen der "Bedingungen der Möglichkeit", beispielsweise physikalische, chemische, biologische, psychologische, geistige - soziale, ökonomische, politische noch dazu? Wodurch unterscheiden sich diese Stufen, wo sind die Grenzen, wie ist es möglich, dass der Mensch trotz dieser Stufen ein Ganzes, ein. Individuum ist? Ein Individuum, das in Milliarden Exemplaren die Erde bevölkert, andere Individuen zeugt und tötet, selbst erkrankt und verunfallt und nur über das Eine Gewissheit hat, dass er sterben muss.
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