Home Reduktion von Komplexität

                     Notizen zu Luhmanns Systemtheorie und Stachowiaks Modelltheorie

 

 

"Nur vom Systembegriff her können unter den veränderten Denkvoraussetzungen und Überzeugungsgrundlagen Zwecke wieder Sinn gewinnen, und zwar als Strategien der Reduktion von Komplexität und Veränderlichkeit".

 

So lautet ein Kernsatz in der als Suhrkamp Taschenbuch fast 400seitigen Untersuchung „Zweckbegriff und Systemrationalität" (1968; 1973) des Soziologen Niklas Luhmann, und rasch hat sich diese Komplexitätsreduktion, als Topos für esoterische Diskussionsrunden etabliert und mitunter gar Einzug in anspruchsvollere Publikationsorgane gefunden.

 

Gerade hier aber steht die Luhmannsche Auffassung von Komplexität - zumindest als „Relation zwischen System und Welt" - der viel gängigeren und etwa von Stafford Beer in seinem Buch „Cybernetics and Management" (1959; dt.1962) popularisierten Festlegung gegenüber, wonach komplex ein System heissen soll, das "kompliziert und vielfältig in sich verschlungen ist".

 

Nun ist freilich die Kybernetik selbst eine recht komplexe Angelegenheit, weshalb es nicht verwundert, dass Komplexität und Kompliziertheit auf durchaus unterschiedliche Sachverhalte angewendet werden. Dabei lassen sich grundsätzlich vier Möglichkeiten unterscheiden, können diese Begriffe doch entweder auf

  • die Anzahl oder
  • die Art und Beschaffenheit, und zwar
  • von Elementen (respektive Subsystemen oder Funktionseinheiten) oder aber
  • von Beziehungen zwischen diesen Elementen gehen.

 

Darüberhinaus können freilich weitere Begriffe wie Varietät oder Vielfalt (Ashby, Beer, Fuchs), Variabilität (Fuchs) und Verschiedenartigkeit (Klaus, Czayka), Konnektivität (Beer) und Verknüpfungsdichte (Czayka) beigezogen werden - immer aber handelt es sich jedenfalls um Eigenschaften von Systemen, betreffen diese nun die Beschaffenheit (Elemente) oder die Struktur (Beziehungen).

 

Einmal abgesehen bereits von dieser Begriffsverwirrung scheint Luhmanns apodiktische Behauptung Widerspruch herauszufordern, wenn doch der Mathematiker und Philosoph Herbert Stachowiak in seiner fast 500seitigen „Allgemeinen Modelltheorie“ (Wien: Springer 1973) als eines der drei Hauptmerkmale des Modellbegriffs das Verkürzungsmerkmal hervorgehoben hat: „Modelle erfassen im allgemeinen nicht alle Attribute des durch sie repräsentierten Originals, sondern nur solche, die den jeweiligen i Modellerschaffern und/ oder Modellbenutzern relevant scheinen.“

 

Muss man also annehmen; Luhmann sei einer fatalen Verwechslung der Begriffe Modell und System zum Opfer gefallen?

 

So einfach ist die Sache nicht. Gewiss ist ein Modell ein reales oder ideales Gebilde, das durch Reduktion der „Gesamtheit der möglichen Ergebnisse“ (Komplexität nach Luhmann) gekennzeichnet ist, doch gemäss dem von Stachowiak besonders herausgestellten pragmatischen Merkmal werden Modelle stets von einem Subjekt hergestellt oder benutzt. Und dieses Subjekt ist ein System. Freilich kein beliebiges, sondern ein Organismus (vorab der Mensch), eine soziale Gruppe oder ein Automat.

 

Nicht ideale, formale, statische Systeme sind es, die Modelle graphisch, technisch oder kogitativ aufbauen, sondern reale, dynamische Systeme, genauer noch: „natürliche oder maschinelle Informationsverarbeiter“, die auf eine Wissensvermehrung ausgehen. Stachowiak hat hiefür den Ausdruck „K-Systeme“ geprägt. K steht für „Kybiak“, was, wie der Leser mit einem Schmunzeln richtig vermutet, eine Zusammenziehung aus Kybernetik und Stachowiak darstellt (und bereits selbst Modellcharakter trägt).

 

Da dieses K-System das Interaktions- und Kommunikationsverhalten eines Subjekts zu seiner Aussenwelt modelliert, und da Luhmann unter Komplexität vorwiegend Umweltkomplexität versteht („Umwelt kann mehr mögliche Zustände annehmen als das System selbst“), begreift er zu recht „Systeme als Erfassung und Reduktion von Komplexität“. Wenn er nun aber „das Problem der Komplexität selbst als letzten :Bezugspunkt funktionaler Analysen" ansieht, dann kann dem nur zugestimmt werden, sofern die Präzisierung vorgenommen wird, dies müsse im Rahmen einer modellistischen Analyse geschehen, ist doch gerade ein Hauptthema von Stachowiaks Untersuchungen der Vergleich des Modells mit seinem Original, also das „Mehr oder Weniger der Angleichung des Modells an sein Original".

Hierbei sind zwei Arten zu unterscheiden:

  • In formaler respektive struktureller Hinsicht bewegt sich die Adäquation zwischen Isomorphie (maximal) und Atommodell oder monadischem Modell (minimal),
  • in inhaltlicher respektive materieller Hinsicht zwischen Isohylie (maximal) und Analogmodell (minimal).

 

Verwirrende Begriffsverwendungen

 

Die Nichtverwendung des Modellbegriffs und -konzepts hat nun zahlreichen Interpreten von Luhmanns Schriften Schwierigkeiten bereitet. So befindet etwa Werner Loh in seiner Diplomarbeit "Kritik der Theorieproduktion von N. Luhmann" (1972):

„Ein System reduziert keine Komplexität", und geht dann mit zahlreichen Begriffsverwendungen und Behauptungen (vor aller über Kybernetik) scharf ins Gericht.

 

In dieser Arbeit zeigt sich schön, wie sehr terminologische Unklarheiten und Differenzen die Verständigung in der Gelehrtenrepublik erschweren, ja blockieren können. Es ist dies freilich eine uralte Klage, neuerdings jedoch ungemein virulent geworden sowohl in der politischen Landschaft als auch in den Bemühungen um interdisziplinäre Zusammenarbeit.

 

Obwohl man diesbezüglich leicht bis etwa auf Aristoteles' „Metaphysik“ und ihre verschiedenen deutschen Übersetzungen zurückgehen könnte, genügen einige Hinweise auf naheliegendere Tatbestände.

 

Erst zwei Jahrzehnte nach der Begründung der Mengenlehre hat Georg Cantor eine explizite Definition von „Menge" - und zwar als Zusammenfassung von Objekten zu einem Ganzen - gegeben (1895); vorher sprach er von „Mannigfaltigkeiten" und „Inbegriff", sein Freund Richard Dedekind (1888) gar von „System“.

Ungefähr zur selben Zeit hat der Genfer Ferdinand de Saussure, der gerne als Begründer des StrukturaIismus betrachtet wird, ebenfalls den Begriff System verwendet, nicht aber den Begriff Struktur.

Umgekehrt haben sowohl die sogenannte verstehende, geisteswissenschaftliche oder Strukturpsychologie (W. Dilthey, E. Spranger, Th. Litt) wie die Gestalt-, Komplex- und Ganzheitspsychologie "Struktur" meist so definiert und aufgefasst, wie das heute für "System" zutrifft.

 

Als 'Vertreter eines „Structuralism" galten um die Jahrhundertwende die Psychologen Wundt und Titchener. Die Gegenposition hielt der „Functionalism" J. R. Angells. Doch wurde auch der Pragmatismus oft als Funktionalismus apostrophiert, eine Betrachtungsweise, die auf dem Kontinent von Ernst Mach in die Physik und Philosophie eingeführt worden war - Nachfolger waren u. a. der Begründer der Logistik, Gottlob Frege, und Ernst Cassirer - und die auch in der „mathematischen Schule“ der Nationalökonomie (A. A. Cournot, G. Cassel, V. Pareto) bereits an die Stelle der einfachen Kausalität getreten war.

Die Funktionspsychologen Brentano und Stumpf bezeichnet man auch als Aktpsychologen, zu welcher Gruppe dann wiederum Meinong („Zur Psychologie der Komplexionen und Relationen“, 1891) und Spranger, aber auch die Phänomenologen Husserl und Scheler gezählt werden.

 

Die von R. K. Merton und T. Parsons in den dreissiger und vierziger Jahren in der Soziologie inaugurierte "strukturell-funktionale" Analyse schliesslich greift unter anderem wie der moderne Strukturalismus (Cl. Lévi-Strauss, R. Barthes) auf den "Funktionalismus" der Kulturanthropologen Malinowski und Radcliffe-Brown zurück, und seit Parsons „Social System" (1951) spricht man auch von der Systemtheorie in der Soziologie.

 

Solche Reminiszenzen sind freilich selten gern gesehen, da sie ja die Komplexität des Problems "Wissenschaft", "Kommunikation" oder "Sinn" erhöhen, mithin Fragen nach Kompetenz und Verantwortung im Umgang mit Wörtern oder bei der Konstruktion von Theorien werfen.

Gerade deshalb ist es verdienstvoll, dass Stachowiak auf der Basis seiner zwanzigjährigen Beschäftigung mit dem Modellbegriff eine breite Darstellung dessen geleistet hat, was alles als Modell gilt. Auch in den formalen Bestimmungen hat er einen präzisen Apparat geschaffen, der sich wohltuend etwa von der Aufsatzsammlung des Biologen Ludwig von Bertalanffy, „General System Theory" (1968), oder dem Büchlein des Ökonomen Lothar Czayka, „Systemwissenschaft" (1974), unterscheidet.

 

Sinn reguliert die Modellbildung

 

In seinem Aufsatz „Sinn als Grundbegriff der Soziologie“ (1971) verbindet Luhmann "Komplexität“ mit einem Selektionszwang und bestimmt "Sinn“ als Fungieren von regulativen Prämissen der laufenden Erlebnisverarbeitung.

 

So kann er formulieren: "Im prozessmässigen Ablauf des Erlebens treten laufend Nachrichten über die Welt über die Schwelle des Bewusstseins - sei es von aussen, sei es als Selbstmitteilung aus den Gedächtnis. Solche Nachrichten gewinnen den Charakter von Informationen, indem sie bewusst, das heisst mit Hilfe von Sinn, als Selektion aus anderen Möglichkeiten interpretiert werden.

Dabei liegt der Informationswert in der Selektivität des mitgeteilten Ereignisses, die durch Sinn ermöglicht, aber noch nicht aktualisiert ist.

Information ist also immer mit Überraschung verbunden. Sie setzt ein Sondieren der Zukunft durch sinnhaft strukturierende Erwartungen voraus."

 

Betrachtet man diese Vorgänge unter dem modellistischen Gesichtswinkel, so ergibt sich als Ergänzung der Sinn-Perspektive die Hauptthese von Stachowiak: Alle Erkenntnis Ist „Erkenntnis in Modellen oder durch Modelle, und jede menschliche Weltbegegnung überhaupt bedarf des Mediums ‚Modell': indem sie auf das - passive oder aktive - Erfassen von etwas aus ist, vollzieht sie sich relativ zu bestimmten Subjekten, ferner selektiv - intentional selektierend und zentrierend - und in je zeitlicher Begrenzung ihres Original-Bezuges.“

 

Schiebt sich mithin bei Luhmann „Sinn“ als „Ordnungsform menschlichen Erlebens" zwischen Subjekt (als sinnkonstituierendem System) und Welt, so ist es bei Stachowiak „Modell“. In beiden Füllen handelt es sich um eine dreistellige Relation, wovon die Modell-Relation spätestens aus  Georg Klaus' „Wörterbuch der Kybernetik" (1969) bekannt ist: Man kann nicht von Modell schlechthin sprechen, sondern ein Modell ist immer erst bestimmt durch seine Beziehungen zu dem, wovon es Modell ist (Original) und zu dem, wofür es Modell ist (Subjekt). Modell wie Sinn vermitteln also zwischen Subjekt und Welt, verweisen stets auf eine Überfülle des Möglichen (Original respektive Komplexität), und damit gilt für beide, was Luhmann von Sinn sagt: Er „dient der Erfassung und Reduktion von Weltkomplexität und erst dadurch der Orientierung des Erlebens und Handelns".

 

In einer Formel könnte man vielleicht einen Brückenschlag zwischen Luhmann und Stachowiak wagen: Sinn - als Leistung des „pragmatischen Entschlusses" (Stachowiak) - reguliert die Modellbildung, indem er gleichzeitig dafür sorgt, dass die hierbei jeweils ausgeschlossenen Möglichkeiten - durch ihre „Anzeige“ (Luhmann) - erhalten bleiben.

Darüberhinaus kann festgehalten werden: Sozialsysteme sind auf der Basis von Sinn - als "kollektive Rationalität" (Stachowiak) - "integriert" (Luhmann).

 

Sowohl unter der Perspektive von Sinn wie Modell gewinnt also das Erleben „die Form risikoreicher Selektivität" (Luhmann). Enttäuschung ist möglich (man kann aber daraus "lernen"); das Modell kann das Original verfehlen - man denke an die Phlogiston-Theorie, das Bohrsche Atommodell oder die Konferenz in München 1938.

 

Komplexität kann aber nicht vernichtet, sondern neutralisiert oder „gleichsam ausgeklammert, von Moment zu Moment in immer anderer Weise reduziert" werden; sie bleibt „bewahrt, als allgemein konstituierter Selektionsbereich, als 'Woraus' immer neuer und immer anderer Wahlen - als Welt“.

Und diese Welt ist gleichursprünglich mit dem System, sie ist nicht etwa als „Realität der Ausserwelt“ vorgängig, sondern wird durch Selektion erst erzeugt. „Das 'Woraus' der Selektion entsteht in den Selektionsprozessen selbst" (Luhmann).

 

Ganz ähnlich präzisiert Stachowiak in einem Exkurs zu Georg Klaus' „Kybernetik und Erkenntnistheorie" (1966): „Die Setzung absoluter und subjektfrei objektiver Gegebenheiten kann nur spekulativ sein - oder sie beruht auf blosser, unmittelbarer Glaubensüberzeugung ... Aus der Subjektbezogenheit der Modellbildungen kommt man nicht heraus..

 

Wenn das Subjekt nun stets ein - sei es psychisches, soziales oder maschinelles - System ist, dessen Umweltbezug in "Erkenntnis und Aktion" (Stachowiak) oder "Erleben und Handeln" (Luhmann) besteht, dann kann Luhmann In der Tat zu seinem eingangs zitierten Satz gelangen.

 

So lautet das Fazit der Kombination von (nach W. Loh und J. Habermas phänomenologisch angereicherter) Systemtheorie und Modelltheorie: Systeme reduzieren Komplexität durch Modellbildung, wobei Sinn sowohl die Modellbildung reguliert als auch - vorab infolge „kommunikativer Beziehungen zwischen Subjekten" (Luhmann) respektive „systemkomplextheoretischer Kommunikation“ (H. Frank) z. B. in einem "Denk-Sprech-Kreis als 'Diskussionskreis' zweier Perzipienten einer gemeinsamen Aussenwelt" (Stachowiak) - die mehrdimensionale, sachliche, soziale und zeitliche Komplexität der Welt als stets aktualisierbare Potentialität aufrechterhält.

 

 

Kästchen

 

Die drei Hauptmerkmale des allgemeinen Modellbegriffs (H. Stachowiak)

 

1. Abbildungsmerkmal

Modelle sind stets Modelle von etwa, nämlich Anbildungen, Repräsentationen natürlicher oder künstlicher Originale, die selbst wieder Modelle sein können.

[Damit umfasst das Abbildungsmerkmal auch die Vorbild- und Entwurfs-Funktion.]

 

2. Verkürzungsmerkmal

Modelle erfassen im allgemeinen nicht alle Attribute des durch sie repräsentierten Originals, sondern nur solche, die den jeweiligen Modellerschaffern und/ oder Modellbenutzern relevant scheinen.

 

3. Pragmatisches Merkmal

Modelle sind ihren Originalen nicht per se eindeutig zugeordnet.

Sie erfüllen ihre Ersetzungs- [sowie leitende und schöpferische] Funktion

a) für bestimmte, - erkennende und/ oder handelnde, modellbenutzende - Subjekte,

b) innerhalb bestimmter Zeitintervalle und

c) unter Einschränkung auf bestimmte gedankliche oder tatsächliche Operationen.

 

 

(geschrieben im Februar 1976;

an die „Neue Zürcher Zeitung“ geschickt; sollte „voraussichtlich April/ Mai“ abgedruckt werden, was nicht geschah;

obwohl nie erschienen, auf Mahnung hin Anfang Juli 1977 bezahlt)

 



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