Zukunftsforschung ist weder Geheimwissenschaft noch Prophetie
erschienen in den Basler Nachrichten, 20. Oktober 1970
siehe auch: http://www.sslps.unibe.ch/index.html http://www.sagw.ch/philosophie
Auch die nach dem Zweiten Weltkrieg von Ferdinand Gonseth gegründete °Schweizerische Gesellschaft für Logik und Philosophie der Wissenschaften" führte im Rahmen der Jubiläumsversammlung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft ihr Fachprogramm durch. Zwei hervorragende Referate wurden vorgetragen.
Ungeachtet aller akademischen Gepflogenheit begann der dreistündige Anlass, dem über zwei Dutzend interessierte Zuhörer beiwohnten, Punkt 14 Uhr. Professor Dr. Jean-Claude Piguet (Uzwil), der Präsiden der "Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft“, sprach zum Thema "Le problème des sciences humaines aujourd’hui".
Sehr unkonventionell und Fundamentales anrührend skizzierte er das neue Bild des Menschen. Es ist gekennzeichnet durch Relativität. Es gibt keine bindenden Verpflichtungen mehr, nicht mehr nur eine Wahrheit, nicht mehr nur eine Wirklichkeit. Auch das Bild der Natur hat sich gewandelt. Ebenso hat das gesellschaftliche Leben einschneidende Veränderungen erfahren. Der Rationalismus wurde vom Unbewussten unterwandert.
Auch Menschliches ist wissenschaftlich fassbar
Historisch gesehen schuf die Romantik (Kant, Hegel) eine unübersteigbare Barriere zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und künstlerischer, ja überhaupt menschlicher Betätigung. Ein Dualismus war damit eingerichtet, den man heute zu überwinden trachtet. Das Unvorhergesehene und Abenteuerliche steht wieder hoch im Kurs. Die Humanwissenschaften haben sich also, im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, nicht entwickelt. Wie können wir sie wieder echt "wissenschaftlich" machen? Wir wollen nicht nur Vermutungen, sondern theoretisches Wissen.
Die Unterscheidung von "signification", "sens" und "énoncée" fuhrt zum Kernproblem, in welcher Beziehung (wissenschaftliche) Bedeutung und Sinn (der menschlichen Tatsachen) stehen. An dieser Alternative hängt die ganze Zukunft der Wissenschaften vom Menschen. Genaue Definitionen - als Instrumente, die menschliche Natur zu verstehen - sind unumgänglich. Sie müssen sich aber auf die Sachen beziehen, nicht auf Worte. Die Schwierigkeit hierbei ist, dass menschliche Phänomene oder Werte über die blosse Bedeutung oder das Wahrnehmbare hinausgehen, transzendent sind. Die neue Logik muss deshalb syntaktische und semantische Faktoren mit solchen des Sinnes, also ausser-linguistischen, kombinieren. Eine solche Logik besteht noch nicht, aber sie ist nötig. Damit vermögen wir vielleicht zu "wissen“, was beispielsweise Mut, Tugend, oder Liebe sind, von denen wir bisher immer behaupteten, wir könnten sie nur "erleben" oder "leben", jedoch nicht erklären.
Unter Relevanzbäumen stehen Datenbänke
An diesen beeindruckenden und zukunftsweisenden Vortrag knüpfte Dr. Adrian Gnehm (Geigy; Basel) über "Ziele und Methoden der Zukunftsforschung" an. Fast modeartig ist das Zunehmen dieses Wissenschaftszweiges wie auch gleichzeitig die, vor allem methodologische, Kritik daran. Umfassend aber knapp und in enormer Dichte wurde die Fülle und Komplexität der gegenwärtigen Probleme glänzend vorgetragen.
Zukunftsplanung ist erforderlich für Friedenssicherung, Konjunktursteuerung, für Bildungs-, Infrastrukturaufgaben usw. Zukunftsforschung ist am besten als "angewandte Systemwissenschaft" zu bezeichnen. Sie gibt keineswegs nur Prognosen, sondern versucht Probleme und Zusammenhänge sichtbar und bewusst zu machen sowie Analysen, Entwürfe, Alternativen und Entscheidungshilfen bereitzustellen. Enorme Möglichkeiten können damit aufgezeigt werden. Zukunftsforschung erhöht den Handlungsspielraum, das wird selten beachtet. Die Beschäftigung mit der Zukunft ist nicht nur legitim, sondern auch dringend.
Die Kritik an der Zukunftsforschung beruht hauptsächlich auf Missverständnissen. Die Prospektiv-Studien der Arbeitsgruppen von Professor Kneschaurek haben weitherum Beachtung gefunden, mussten aber auch massive Anschuldigungen erfahren. Das Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung an der ETH Zürich hat im Auftrag des Bundes in grossangelegten Untersuchungen Leitbilder erstellt. Ein imposanter 226seitiger Zwischenbericht liegt vor. Man ist also auch in der Schweiz in dieser Hinsicht nicht völlig untätig. Dass die Neue Helvetische Gesellschaft solche Bemühungen zusammenfassen will, berichteten wir in den "BN".
Solche Studien zeigen eine grosse Zahl von Konfliktmöglichkeiten auf. Weder realitätsfremd noch einseitig ist solche Forschung orientiert, das ist zu betonen. Sie ist, weder Geheimwissenschaft noch elitär oder undemokratisch. Sie versucht ganzheitlich zu sein und eine gemeinsame Sprache für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu schaffen. All das zeigte sich deutlich im Informationsschnellfeuer dieses von den Philosophen eingeladenen Vertreters der Industrie.
Ein lamentabler Abgang
Waren die beiden Referate dem sachlichen Gehalt nach ausgezeichnet, so blieb der nun abtretende Präsident der "Schweizerischen Gesellschaft für Logik und Philosophie der Wissenschaften", Professor Dr. Emil J. Walter (Pfäffikon), der sich selbst als Soziologen, Psychologen und Historiker der Wissenschaften bezeichnet, im Banalen stecken – obwohl er mit seiner "persönlichen Meinung" provozieren wollte. Sein apodiktischer Vortrag war sprunghaft und infolge gewundener oder unzusammenhängender Sätze unverständlich, jedenfalls wirr. Bei ihm ist alles sozial bedingt. Die Philosophie ist am Ende, weil sie ihren Inhalt verliert. Persönlich, als nüchterner Skeptiker, kann er sich keine Renaissance vorstellen.
Schon in der Diskussion der vorangehenden Referate hatte er den Philosophen vorgeworfen, dass sie neueren sinnesphysiologischen, soziologischen und psychologischen Forschungen zuwenig berücksichtigten. Alle Erkenntnis kommt nur aus dem zustande, was die Sinne des Menschen, des Gehirntiers also, aufnehmen. Sich auf Ernst Topitschs Buch vom "Ende der Metaphysik" stützend, trug er wenig Klärendes zur Frage der Wiener Schule, der Analytischen Philosophie und der "philosophie ouverte" F. Gonseths bei. Schade, dass dieser Abgang nicht überzeugend gelang.
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