Home Selbstbezug, Ehegemeinschaft und Selbstziel

 

13. Januar 1971

 

 

Schulabgang, Lehr- oder Studienabschluss bilden nebst Heirat und erstem Kind wohl die wichtigsten Etappen im menschlichen Leben. An diesen Angelpunkten fallen Entscheidungen, energischer oder halbherziger Art, die von grösster Tragweite sind. Auch wenn man meint, solche Entscheidungen umgehen zu können, sei es durch vorzeitigen Abbruch von Lehre oder Studium, sei es durch ständiges Hinausschieben der Heirat und des Kinderkriegens: keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung.

 

Selbstverständlich gibt es viele andere Entscheidungen: für ein Idol oder einen Traumberuf; das erste Velo, Töffli oder Auto; Verzicht auf Kirchenbesuch, Familienanlässe und sportliche Betätigung.

Merkwürdigerweise werden jedoch viele Entscheidungen lau oder wenig reflektiert getroffen: Man schliddert in die Sachen hinein. "Unversehens" raucht man und trinkt Alkohol; weil der Traumberuf unerreichbar ist, gerät man im Markt der Lehrstellenangebote plötzlich an einen Platz, mit dem man gar nicht gerechnet hat. Kurz: Man wird geschoben. Auf einmal "muss" man heiraten, die Wohnung oder die Stelle wechseln; Illusionen werden brutal zerschlagen, der Auslandaufenthalt, der tolle Job, der Lieblingsstar hält nicht, was er verspricht: Ernüchterung breitet sich aus. Der Ehepartner offenbart sich als anderer, der Berufsalltag lässt jeglichen Glanz vermissen, und die Ferien bringen weder erhebende Erlebnisse noch Erholung.

Ist dies der Vorgang des Erwachsenwerdens, der Reife?

 

Der Schwung erlahmt, das "System", sei es der Staat, der Betrieb oder die Familie, nimmt, einen gefangen. Eingesperrt in "Ehe zwischen Trieb und Trott" [Leona Siebenschön, 1968], in die Bürokratie einer "total verwalteten" politisch und wirtschaftlich orientierten Gesellschaft - "Ruhe und Ordnung", "Leistung, Nutzen und Gewinn" -, so bewegt man sich als winziges Rädchen im Getriebe der Welt, im "Würgegriff des Fortschritts" [Bodo Mannstein, 1961].

 

Was ist da falsch?

 

Ist es die Dimension? Müsste man sich mehr im Häuslichen und Heimischen bescheiden, oder müsste man nach Höherem, nach Weltoffenheit und Bewusstseinserweiterung streben? Es scheint, es brauche beides - wie die Losung des deutschen Pressezars Springer lautet: "Mit der Heimat im Herzen die Welt im Haus.“

 

Rückbesinnung auf sich selbst und leidenschaftliche Teilnahme an den Vorgängen in der näheren und ferneren Umgebung schliessen sich nicht aus: Erst wer im reinen ist mit sich selbst, kann sich fruchtbar um die "grossen" Probleme kümmern, auch wenn diese zuweilen Bekümmerung auslösen. Der Selbstbezug macht frei für das Interesse an Zeit- und Menschheitsfragen und erlaubt deren unvoreingenommene Betrachtung.

Wer jedoch mit seinen eigenen Problemen zuhause oder am Arbeitsplatz, im Freundeskreis oder in Kommissionen nicht fertig geworden ist, wie sollte er mit "der Welt" zu Rande kommen ...

 

Der Prozess des Abbaus von Illusionen über die eigenen und instrumentellen Möglichkeiten könnte mithin dahin führen, dass der einzelne nicht mehr seine ungelösten Probleme, Befürchtungen und Hoffnungen, Unsicherheitsgefühle und Ressentiments, kurz, die Unzufriedenheit mit sich selbst und die Unsicherheit, das eigenen Versagen in die Gegend projiziert oder von andern Menschen oder Institutionen deren Lösung erwartet.

 

Selbstbewusstsein im vollen Wortsinn bereitet den Weg in die weite Welt der Kultur, des Geistes, des Glaubens. Wie allerdings schon der Philosoph Hegel sah, ist das Selbstbewusstsein nur als anerkanntes. Im Menschen steckt eine tiefe Sehnsucht nach Anerkennung und Verantwortung. Echte Anerkennung kann jedoch nur im kleinsten Kreis stattfinden: "Was hülfe es, wenn der Mensch die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele" - oder wie Rilke es sagt: "Ruhm ist die Summe aller Missverständnisse."

 

Öffentliche Anerkennung im Getümmel der Welt oder des Betriebs, in Fachkreisen oder esoterischen Zirkeln, was hilft sie, wenn sich zuhause die Eltern, die Kinder oder der Ehepartner abwenden? Es sei noch schärfer formuliert: Eine glückliche Ehe, von Harmonie und schlichter Liebe, von Achtung und darüberhinaus bewundernder Anerkennung getragen, das ist das beste Fundament für ein aufbauendes Wirken im Gebrause des hektischen Zeitlaufs. Freilich: "Ein verständiges Weib ist eine Gabe des Herrn", sah schon Salomon.

 

Zum Selbstbezug - "Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich selbst" (Nietzsche) - und der ehelichen Lebens-, Denk- und Interessengemeinschaft kommt noch ein drittes: das Selbstziel.

Wonach richten wir denn unsere Entscheidungen im Kindes- und Jugendalter? Doch vorwiegend nach äusserlichen Kriterien: Erfolg, Ruhm, hohes Einkommen, Besitz, sagen wir es schärfer: Aufschnitt und Protz.

Schauspieler, Musiker oder Sängerin, Reporter oder Mannequin, Pilot oder Hostess, Regisseur, Meister oder Direktionssekretärin, Geschäftsführer, Betriebsleiter oder Filialleiterin, Forscher oder Ärztin zu werden verspricht solches. In den wenigsten Fällen kommt es jedoch soweit. Man bleibt ein simpler Arbeiter oder Angestellter - aus mit der Karriere, der "leitenden Position“. Es sieht also wiederum so aus, als sei die Orientierung falsch. Weshalb soll man sich eigentlich am andern, am Nachbarn oder Nabob, am Glückspilz oder Streber orientieren? Weshalb eine teurere Wohnung, ein schnelleres Auto, eine besser bezahlte, anspruchsvollere Stellung, die man alle drei nicht mehr ohne sich auf die eine oder andere Art zu zerreiben bewältigen kann?

Es ist wohl etwas vom Schwierigsten, sich selbst kritisch zu prüfen - "nach eigenem Masse und Gewicht schätzen“ (Nietzsche) - und "das Ziel" in sich selbst zu suchen.

 

Sehnsucht und Pläneschmieden gehört sicher zum Leben, doch wie schnell fällt man auf die Nase: Zwist in der Familie und im Beruf, Kündigung und Schicksalsschlag, Unfall und Krankheit können manches zunichte machen - wie schrieb doch Brecht: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!"

 

Kurz, man muss gewissermassen die Spannung zwischen zwei gegenläufigen Richtungen aushalten, indem man einerseits die Dinge ruhig auf sich zukommen lässt, um sie dann im geeigneten Augenblick am Schopf zu packen, anderseits in sich hineinhorcht und in ständiger, unentwegter und wahrhaftiger Entfaltung seiner Persönlichkeit sein eigenes Ziel herauszubringen versucht (Mt. 25,21ff; Mk. 4,20; Joh. 15,16). Wer mit seinen Pfunden („Talenten“) nicht wuchert, wird niedergemacht (Luk. 19,27) oder verfällt gar der Hölle (Mt. 25,30).

 

Die Psychologie spricht da von Interessen und Neigungen, Begabungen und Eignungen, vom "rechten Mann am rechten Ort", von Selbstwertstreben und Selbstverwirklichung, die Philosophie vom "Werden, was man sein könnte".

 

Das ist so abwegig nicht. Nur darf es nicht bei blossen Proklamationen und Forderungen für die andern bleiben. Jeder einzelne selbst muss diese Worte in die Tat umsetzen, danach handeln. Man könnte dies sogar in ökonomischer und politischer Sprache ausdrücken. Die Selbstorganisation und -verwaltung des Menschen nicht nur als Produzent, sondern auch als Bürger und Schöpfer kultureller Güter, welche mit dem Willen zur Mitsprache und Mitbestimmung eine vermehrte Übernahme von Verantwortung erfordert, lässt sich auch auf den einzelnen anwenden: Analysiere und verwalte deine Talente und Fähigkeiten selbst, gestalte und bestimme dich selbst.

So ergibt sich aus der Verantwortung der Gesellschaft gegenüber auch eine solche sich selbst gegenüber. Der Demokratie. aussen entspricht die Demokratie innen. Absurd? Die Verhaltensforscher sprechen sogar von einem "Parlament der Instinkte"!

 

Die Weise freilich, wie diese "innere Demokratie“ zu handhaben ist, muss jeder unabhängig von äusseren Zwängen und Ansprüchen selbst, am besten im Zusammengehen mit dem Ehepartner, herausfinden. "Die ist nun mein Weg, wo ist der Eure?" befand Nietzsche, "geh nur dir selbst treulich nach, so folgst du mir", denn "als Schaffender gehörst du zu den Freien."

 



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