Philosophie, Wissenschaft und Erfolg
Brief, 27. März 1973
Lieber Herr Professor,
wir haben uns darauf geeinigt, dass Sie mir Fragen, welche die Naturwissenschaft betreffen, beantworten, und ich versuche, auf philosophische Fragen Antwort zu geben. Da ich bei unserem letzten, d. h. unserem ersten Gespräch, merkte, dass Sie trotz zehnjähriger Beschäftigung mit Philosophie noch nicht so richtig darüber Bescheid wissen, werde ich mit meiner ebensolangen "Erfahrung" diesen Mangel zu beheben trachten.
Ich werde Ihnen zuerst einfach ein bisschen erzählen, was Philosophie ist oder sein kann und was ein Philosoph tut. Dabei spreche ich selbstverständlich nur von mir. Wie andere arbeiten, weiss ich nicht, habe ich doch kaum Kontakt zu Kollegen. Vielleicht wäre das schon ein erster Punkt: Der Philosoph ist ein Einzelgänger, er ist unangepasst und irgendwie nirgendwo einzuordnen. Als "Berufsmann" gibt es ihn wohl nur als Dozenten, Assistenten und Privatgelehrten. Was er tut, ist dasselbe wie bei Autoren, nämlich: lesen, denken, schreiben. Wie die Wortproduzenten ist er entweder festbesoldet (als Lehrer) oder freierwerbend.
Philosophie als Haupt- oder Nebenfach an der Universität
In dem Rahmen, den wir bisher abgesteckt haben, ist Philosophie ein Fach höherer Schulen sowie an der Universität. Daselbst wird es von Studenten wie jedes andere Fach belegt und studiert und mit andern Fächern kombiniert. Einen Unterschied macht es schon aus, ob es als Haupt- oder Nebenfach angesehen wird. Als Nebenfach zu Ethnologie, Germanistik, Ökonomie oder Jurisprudenz hat es etwas andere Funktionen als wenn es zusammen mit Theologie, Psychologie und Geschichte studiert wird. Letztere Gebiete haben einen engeren Zusammenhang. Das Studium über Fakultätsgrenzen hinweg, also z. B. Botanik, Medizin, Chemie, Mathematik kombiniert mit Philosophie, stösst bereits auf Schwierigkeiten.
Philosophie ist also ein ehrwürdiges Einzelfach, wie jedes andere mit Lehrbüchern, Nachschlage- und Standardwerken, welche eine ansehnliche Seminarbibliothek füllen können.
Philosophie ist für alle da
Philosophie kann aber nicht nur ein Nebenfach sein, sondern auch eine Nebenbeschäftigung für problembewusste Menschen. Darüberhinaus kann sie schlicht "Lebenspraxis" sein: bewusstes und reflektiertes Leben, in dem Sinne wie Jaspers schreibt:
Philosophie ist demnach - seit Kant zumindest - für alle da, für Wissenschafter, Politiker, Unternehmer und Angestellte, für Offizielle und Privatleute. Bekanntlich liegen auf manchen Nachttischchen Lao-tses "Tao-te-King", Mark Aurels "Selbstbetrachtungen" oder Boethius' "Trost der Philosophie"; im Bücherschrank stehen Platons Dialoge, Augustins ".Bekenntnisse", Eckharts Predigten, Kants "Kritik der reinen Vernunft", R. W. Trines "In Harmony With the Infinite".
Diese paar wenigen Titel deuten bereits den unerschöpflichen Reichtum dessen an, was Philosophie sein kann. Sie ist ausgespannt zwischen Selbstvergewisserung und Erklärung der Welt, zwischen Irdischem und Himmlischen, zwischen Winzigem, Teilhaften und dem Grösstem und Ganzen, zwischen Leben, Tod und dem Darüberhinaus, zwischen Aufmunterung und Skepsis, Hoffnung und Enttäuschung.
Philosophie und Wissenschaft: keine letzte Sicherheit
Gegenstand der Philosophie kann alles sein, jedoch nicht in seiner Isolierung, sondern in den unendlichen Zusammenhängen des Ganzen, des Kosmos oder des Umgreifenden. Der offene Horizont, der Blick aufs Ganze unterscheidet Philosophie heute von Einzelwissenschaft. Ihre Methoden sind vielfältig, und die Hypothesen und Systeme widersprechen einander häufig. Es gibt keine letzte Sicherheit, was freilich auch für die Wissenschaft zutrifft. Sogar eine Art des Experimentes - wenn es auch nicht methodisch, noch reproduzierbar und damit messbar, quantitativ beschreibbar ist - kennt die Philosophie: das Experiment des „geglückten Daseins“, der Aristotelischen eudaimonia, die Bewährung im Alltag, die Prüfung der Theorie daraufhin, ob sie in der Praxis, im Lebensvollzug des einzelnen trägt.
Dass es verschiedene Lebensweisen gibt, könnte daher der Grund für die verschiedenen Philosophien sein. "Das Ganze" kann aus verschiedenen Gesichtswinkeln betrachtet werden. Auch dies finden wir in der Wissenschaft, man denke an die Kontroverse Goethe-Newton oder die zahlreichen Hypothesen in der heutigen Kosmologie und Biologie. Gemeinsam mit der Wissenschaft hat die Philosophie auch das unablässige Fragen, das Suchen nach Erkenntnis, nach Wahrheit, nach Lösungen, ja nach Anwendungsmöglichkeiten, soll sie nicht einfach weltfremdes Spekulieren im Elfenbeinturm bleiben. Sie will auch fortschreiten, auch wenn sie dabei oft auf den Schatz uralter Weisheiten und Erklärungsversuche zurückgreift. Sie will auch den Menschen aufklaren über die gegenwärtige Lage der Menschheit, der Kultur, sie will helfen, ihm das Leben erleichtern, ihm in "Grenzsituationen" Halt bieten.
Philosophie setzt Vertrauen in den Menschen
Nun gibt es aber nicht nur Wissen, das, wie die wissenschaftliche Forschung zeigt, auch in den exaktesten Disziplinen stets revidierbar bleibt, sondern auch Glauben und Vertrauen. Wie die Wissenschaft glaubt die Philosophie an die Erschliessbarkeit der Welt und der Wahrheit für den Menschen. Dabei vertrauen sie beide auf die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen, auf die Intuition (in der Wissenschaft auch: Zufall oder Einfall) und die Vernunft. Beide glauben an die erreichten Ergebnisse und vertrauen darauf, dass "die Welt" oder ein Gott sie nicht betrüge. Und wenn auf Täuschungen oder Illusionen gestossen wird, nennt man sie mit Namen, auf dass sie fassbar werden und eingeordnet werden können.
Ordnung, Wahrheit und Gewissheit Klarheit, Deutlichkeit und Einfachheit,
das sind Postulate sowohl der Wissenschaft als auch der Philosophie.
Hand in Hand damit geht ein Streben nach Verallgemeinerung, nach Universalität, ja Allgemeingültigkeit, ebenso nach Begründung, Zusammenhang und Einheit (vgl. z. B. Carl Friedrich von Weizsäcker: "Die Einheit der Natur", 1971, oder den Internationalen Kongress für Einheit der Wissenschaft 1935 in Paris).
Philosophie und Wissenschaft haben also mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Das reicht vom begriffsscharfen Denken über die Einhaltung der Gesetze der Logik bis zum Wunsch nach dem umfassenden System. Mit dem Glauben an die Rationalität des Menschen und der Welt kommt sogar die Theologie mit ins Spiel, was den Geschichtskundigen wenig verwundert, weiss er doch, dass bei Aristoteles Philosophie, Wissenschaft und Theologie noch zusammenfielen.
Philosophie geht über die Einzelwissenschaften hinaus
Freilich hat die Philosophie aber auch eine Menge anderer Fragestellungen und Themen aufzuweisen, um die sich die Einzelwissenschaften wenig oder gar nicht kümmern. So zum Beispiel die Fragen nach
Sie ist demnach über weite Strecken Grundlagenbesinnung und Wesensforschung. Dabei stehen ihr alle Register und fast alle Methoden offen, die sich ausdenken und anwenden lassen, sogar Meditation und Versenkung, ja Rausch und Ekstase, welche Zugangsweisen zum Unerforschlichen sie in die Nähe der Gnosis und Mystik, der Mythologie und Dichtung bringen. Das macht die "Definition" von Philosophie so schwer, wenn nicht gar unmöglich.
Wer ist weltfremd?
Sofern man Marx mit seiner Analyse des Kapitalismus und seinem Aufruf zur Veränderung der Welt auch - wie Pestalozzi und Hildegard von Bingen, Buddha und Albert Einstein - als Philosophen bezeichnet, ist es jedoch unmöglich, die Philosophie als kontemplativ oder theoretisch und die Wissenschaft als aktiv oder praktisch zu bezeichnen. Fassen wir ferner Historik und Romanistik als Wissenschaften auf, so beweisen Gelehrte in diesen Gebieten oft mehr Weltferne und Verstiegenheit als beispielsweise die Bischöfe und Kardinäle des Mittelalters. Genauso gab und gibt es Naturwissenschafter, die sich jahrzehntelang in Labor und Klinik betätigt haben, ohne dass der Menschheit daraus Gewinn erstand. Eine Unzahl technisch-nützlicher Erfindungen bis ins 20. Jahrhundert wurde schliesslich von Laien, von Pröblern und Bastlern gemacht; genauso wie manche Dilettanten umgekehrt der Philosophie und Geisteswissenschaft Anstösse gaben.
Die Grenzen zwischen theoretisch und praktisch, aktiv und passiv sowie fruchtbar und steril sind jedenfalls fliessend. Dennoch müssen wir uns um Unterscheidungen bemühen, zumal zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, zwischen Religion und Kunst auch. Leicht ist das nicht, und gerade in neuerer Zeit haben sich mehrere Zwischen- und Überwissenschaften entwickelt, wobei einerseits die empirischen Sozialwissenschaften (Ökonomie, Psychologie, Soziologie), anderseits Kybernetik, Systemtheorie und strukturalistische Ansätze zu beachten sind.
Wie arbeitet der Philosoph?
Vielleicht ist es am besten, hier abzubrechen und einen Exkurs darüber zu unternehmen, wie ein Philosoph arbeitet. Das hilft uns möglicherweise bezüglich dieser Unterschiede weiter.
Was tut ein Student, der dieses Fach studiert und was tut er nachher, wenn er weiter philosophisch hauptamtlich tätig ist? Er hört Vorlesungen und schreibt sie nach. Er hört in Diskussionen zu und beteiligt sich daran, entweder indem er seine bisher angehäuften Meinungen oder gar Gefühle ausdrückt oder indem er vorher Gelesenes zum besten gibt. Also verschränkt sich Rezeption in den Räumlichkeiten der Universität mit Lektüre und Verarbeitung des Gehörten in der Seminarbibliothek oder zu Hause. Das tun andere Studenten auch, doch im Gegensatz zu Naturwissenschaftern sitzt und steht er nicht im Praktikumssaal oder Labor (und in der Werkstatt), und im Gegensatz zu Medizinern können ihm nicht kranke Menschen im Hörsaal oder im Spital vorgeführt werden. Sogar ein Heilpädagoge, Psychologe und Soziologe hat es da besser; der eine kann in einer Beobachtungsstation belehrt werden, der andere kann mit Kollegen oder Versuchspersonen Tests sowie in einem Labor Experimente unternehmen und zusammen mit dem dritten, dem Soziologen, "auf die Strasse" gehen, nicht zum Demonstrieren, sondern um Umfragen zu machen - was selbstverständlich auch in Haushaltungen und betrieben möglich ist. Volks- und Völkerkundler können schliesslich, ebenso wie die Verhaltensforscher, Studien "im Feld", an der Fasnacht oder im Matto Grosso, Beobachtungen anstellen; Archäologen und Frühgeschichtler graben im Boden.
Der Philosoph fragt nach allem
Der Philosoph hat von alledem nichts. Er ist gewissermassen sein eigenes Objekt (das er mit Psychologen und Theologen teilt). Darüberhinaus sind seine Forschungsobjekte einerseits die Menschen, wie sie sind, wie sie ihm begegnen, wie sie denken, Gemeinschaften bilden, arbeiten, konsumieren und kommunizieren (was natürlich auch die empirischen Sozialwissenschaften interessiert), anderseits das, was Menschen erforscht, erarbeitet und geschaffen haben. Das ist aber noch nicht alles. Er fragt auch nach der Natur, nach den Erscheinungen und Dingen, wie sie sind, warum sie sind, was ihr Wesen und Sinn ist, was der Mensch, seine Tätigkeiten, Interpretationen und Produkte damit und in deren Zusammenhang zu tun haben, usw.
Kurz, der Philosoph kann alles und jedes zu seinem Thema machen, Gott und die Welt, sich selbst und die Mitmenschen, die Natur, die Kultur, die Geschichte, den Staat, die Moral, die Wissenschaft und auch die Philosophie selbst.
Worauf stützt er sich? Auf seine eigenen Erlebnisse, Erfahrungen und Begegnungen, sei es mit und unter Menschen, sei es mit Landschaften und Naturerscheinungen, sei es mit Zeugnissen von Menschenhand und Institution, sei es mit sich selbst in einer Klause.
Der Philosoph versucht, alles unter einen Hut zu kriegen
Diesen Erfahrungsschatz, den er mit andern Menschen ebenso offenen Auges und Herzens, mit wachem Geist und treuem Gedächtnis teilt, versucht er zu verarbeiten, und zwar in seiner Gesamtheit. Das unterscheidet ihm vom Arbeiter wie vom Einzelwissenschafter. Der erstere wird kaum etwas verarbeiten, er wird eher im Erleben aufgegangen sein und sich mit Freude, Ärger oder Entsetzen daran erinnern; der letztere wird nur einen kleinen Ausschnitt weiter verarbeiten, ein Lyriker Stimmungsbilder, ein Ägyptologe Inschriften, ein Anglist Romane, ein Botaniker Vererbungserscheinungen, ein Kernphysiker Beobachtungen an Elementarteilchen.
Der Philosoph jedoch versucht unablässig alles unter einen Hut zu kriegen - auch wenn oder gerade weil er weiss, dass dies ein endloses Bemühen ist. Kein Mensch kann die Fülle der Natur und Kultur in vollem Umfang fassen und bewältigen. "Das Ganze" übersteigt seine Grenzen ebenso wie er sich selbst und seine engsten Mitmenschen ihm immer sein oder ihr Letztes verborgen halten. Ein Rest von Geheimnis ist immer da, im Innersten wie im Äussersten. Deshalb ist das Streben des Menschen - sofern er nicht als einzelner resigniert - als Privatmann und Forscher, als Liebender, Vater oder Mutter, Angestellter oder Krimineller immerwährend.
Der Philosoph ist eine Mensch wie andere Menschen
Es wäre also falsch zu meinen, ein Philosoph sei einer, der am Schreibtisch sitze, Bücher und Fachzeitschriften wälze und dann konfuse Aufsätze und Theorien in die Welt setze. Er lebt nämlich wie alle andern, isst und trinkt, wohnt und schläft, liest Zeitung und kauft Gegenstände, spricht und diskutiert, fühlt Schmerz, Verzweiflung und Ungenügen, hofft und sehnt sich, usw. Mit einem Satz: Er ist ein Mensch, der unter Menschen lebt, mit ihnen und ihren Produkten, in natürlicher und künstlicher Umwelt, als Staatsbürger, einstiger Schüler und von einer Mutter Geborener. Manchmal könnte man meinen, dass Naturwissenschafter sich nicht bewusst sind, dass auch auf sie diese banalen Tatsachen zutreffen.
"Alle Menschen sind wie wir", das heisst jedoch nicht "alle sind bloss Menschen und uns gleich", stellt Jaspers in seiner "Kleinen Schule des philosophischen Denkens" klar, und er doppelt nach: "Der Mensch, der wir sind, scheint das Selbstverständliche und ist das Rätselhafteste nicht bloss unter allen anderen Dingen in der Welt". Er hat Sprache und Bewusstsein, er teilt sich mit, versteht und deutet, werkt und zerstört, ringt um Freiheit und Verantwortung, um Mut, Sicherheit und Besitz. "Der Mensch ist Mensch, weil er die Würde in sich und in jedem anderen anerkennt. In herrlicher Einfachheit hat es Kant gesagt: Kein Mensch darf vom Menschen nur als Mittel gebraucht werden. Jeder ist selbst Zweck."
Das besagt auch: Bücherwissen ist nicht alles. Es geht um das Erlebnis Mensch-sein, um die Erfahrungen in Familie und Betrieb, in Alltag und Zerstreuung, in der Präzision und Anstrengung der Arbeit wie im Spiel und Kunstgenuss.
Die Bücher enthalten Ungenauigkeiten und Widersprüche
Bücher sind einerseits etwas Tröstliches, wenn man darin gewahr wird: "Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken" (Goethe). Anderseits gibt es nichts Deprimierenderes für Geistesmenschen, wenn sie bei vergleichender Lektüre, die immerhin einen beträchtlichen Anteil ihrer Arbeit ausmacht, feststellen müssen, was für Ungenauigkeiten, Unzulänglichkeiten, Lücken, Besserwissereien, Verfälschungen und Widersprüche in den Bibliotheken des Geschriebenen anzutreffen sind. Solches Nachzuweisen gehört sicher auch zum harten Brot der Philosophen, obgleich es weder froh macht noch die andern Menschen ermuntert.
Schon bei der Vielzahl der Einführungen in die Philosophie, den Wörterbüchern und den historischen Darstellungen - an Lexika habe ich etwa 20 deutschsprachige gezählt, an "Geschichten" knapp die doppelte Anzahl - muss man ernüchtert konstatieren: Wo die Angaben nicht offensichtlich abgeschrieben worden sind, gehen sie oft weit auseinander, ja widersprechen einander. Ob das Personen und ihre Lehre, Begriffe, "Richtungen" oder Disziplinen betrifft, spielt keine Rolle. Überall dasselbe, Konfusion, die sich beim genauen Vergleichen ergibt. Dabei, so sollte man meinen, müsste doch wenigstens in diesen Nachschlagewerken und Gesamtdarstellungen zuverlässige Information zu finden sein, auf dass man auf einer gemeinsamen Basis mit Interessierten diskutieren und sich auseinandersetzen könnte.
Höchstwahrscheinlich ist das nicht nur in der Philosophie der Fall. Es ist wohl auch ncht nur ein sprachliches Problem; viel mehr spielt da mit: Erziehung und Schulbildung, Kenntnisse und persönliche Vorlieben, aber auch nationale und ideologische Prägungen. Mag davon in den sogenannten exakten Wissenschaften weniger zu spüren sein, in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist diese Un-objektivität geradezu aufdringlich.
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass es sogar Philosophen weder um Ganzheit noch um die Berücksichtigung aller früheren Bemühungen zu tun ist. So wird es beispielsweise notwendig sein, trotz der Neubearbeitung von Rudolf Eislers "Wörterbuch der philosophischen Begriffe" (1927-30) durch Joachim Ritter als achtbändiges [nunmehr zwölfbändiges] "Historisches Wörterbuch der Philosophie" (1971ff), die drei alten Bände von Eisler stets auch noch zu konsultieren. Der Fortschritt auch in der Philosophie vollzieht sich anscheinend unter stetem Beiseitelassen des bisher Geleisteten. Bei den Einführungen, Handbuchartikeln und geschichtlichen Abrissen ist die Sache noch mehr persönlich und ideologisch gefärbt, handelt es sich doch meist um Einführungen in die Philosophie, wie sie der Verfasser sieht, oder gar in seine eigenen Theorien, genauso wie die Darstellungen von Disziplinen und Epochen subjektive Werturteile erkennen lassen.
Es gibt keinen philosophischen Kodex, dafür Mannigfaltigkeit
Kurz: Es gibt keinen philosophischen Kodex und auch keinen allgemeingültigen Konsensus. Das heisst aber noch lange nicht, dass pure Beliebigkeit herrscht. Viel eher ist es eine Angelegenheit der "Strömungen" oder Schulen. Und deren Vielfalt ist nicht aufzuheben. Das mag mit der erwähnten Verschiedenheit der Menschen und Völker zusammenhängen und ist sicher ein Plus, verhindert es doch Uniformität innerhalb der einzelnen Schulen sowie ein Überhandnehmen ihrer Einzigkeits- und Absolutheitsansprüche. Zwar kann gegenseitige Kritik den Dogmatismus verstärken, doch ebensosehr besteht die Möglichkeit der Befruchtung. Jedenfalls ist die bunte Mannigfaltigkeit ein Spiegelbild der menschlichen Gemeinschaften wie der "individuellen Varietäten" mit ihrem strebenden Bemühen und erhellt wenigstens den um Überblick und Offenheit Ringenden: "Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumen lässt" (Hamlet).
Dennoch ist es ärgerlich, kein gemeinsames Fundament für die philosophische Diskussion zu finden. Wenn dem einen Dialektik ein Greuel, Fragment das Höchste, Begriffssauberkeit Rabulistik und Glück das einzig Erstrebenswerte ist, wenn der eine seinen Standpunkt statt mit Argumenten mit Ausflüchten zementiert und der andere Unkenntnis überspielt, dann ist kein Dialog, kein Fortschreiten auf einem gemeinsamen Weg möglich.
Das ist bedauerlich für die Philosophie selbst als auch für die andern Unternehmungen des Menschen. Wie soll ein Politiker philosophische Weisheit anwenden, wie ein Naturwissenschafter kosmologische, anthropologische oder erkenntnistheoretische Fragen erkennen, untersuchen und lösen können, wenn er nicht eindeutige Belehrung aus den Reihen und Bücherschäften der Philosophie holen kann? Wie kann er sich rechtfertigen, diese oder eine andere „Richtung“ für die Begutachtung und Erhellung seiner Fragen besonders geeignet zu halten, nach welchen Kriterien hat er sie überhaupt ausgewählt?
Es gibt nicht „die“ Philosophie
Alle diese Probleme hängen damit zusammen, dass es "die" Philosophie einfach nicht gibt. Das ist jedoch nur ein Sonderfall der allgemeinen Tatsache, dass es auch nicht "die" Gesellschaft, "die" 'Wissenschaft, "die" Araber, "die" Kriminellen, "die" Jugend, usw. gibt. Es gibt ja schliesslich nicht einmal "das" Feld, "das" Atom, "den" Quant, "die" Galaxie. Wohin wir blicken, worüber wir nachdenken, alles erscheint in fast grenzenloser Vielfalt. Und wenn der Philosoph oder der philosophierende Naturwissenschafter das Übergreifende oder die umfassende Einheit sucht, muss er bei nüchterner Betrachtung einsehen lernen, dass auch dieses "Eins ist Alles" (Heraklit), das "Eine" (Platon, Plotin), diese "Einheit in der Vielheit" (Marx/ Engels) je verschieden aufgefasst und formuliert werden kann. Er wird im weitverbreiteten "Kleinen philosophischen Wörterbüchern" von Müller/ Halder (1971, Herderbücherei) nicht einmal die Begriffe: das Eine, Einheit, Vielheit und Alles finden.
Urfragen
Das hat herzlich wenig mit Zersplitterung oder Spezialisierung zu tun. Es liegt an der "Natur der Dinge". Deshalb geht eine der frühesten mythischen, religiösen und philosophischen Bestrebungen der Menschheit dahin, diese Zusammenhänge und Unterschiede, das Gemeinsame und Trennende aufzuweisen und zu erklären. War "im Anfang" das Chaos, Eines oder bereits eine unermessliche Vielzahl; gibt es überhaupt einen Anfang oder ist alles ewig; wie verhält sich das Allgemeine zum Besonderen, das Ganze zu seinen Teilen, das Unbelebte zum Lebendigen, das Niedrige zum Höchsten, der Mensch zu sich selbst, zum Mitmenschen, zur Kultur, zur Natur, zur Vergangenheit und Zukunft? Dies sind Urfragen des Menschen, seit Jahrtausenden. Priester und Dichter, Seher und Sänger, Medizinmänner und Weise haben daran herumgerätselt und die Überlieferungen weitergetragen oder fixiert. Aus 5000 Jahren ist so eine unüberschaubare Fülle von Zeugnissen auf uns gekommen.
Wie aber, fragen wir nun konkreter, können Wissenschaft und Philosophie heute erfolgreich zusammenarbeiten. Als Philosoph immer nur darauf hinzuweisen, dass alles schon dagewesen sei, die Fragen uralt und nie endgültig lösbar seien, ist wenig sinnvoll.
Was heisst Erfolg?
Was heisst denn überhaupt Erfolg? Der Naturwissenschafter betrachtet eine gelungene technische Anwendung seiner Erkenntnisse als Beweis seiner gedanklichen Konstruktionen. Doch gelingen diese Anwendungen tatsächlich? Gewiss wir sind seit Anfang des letzten Jahrhunderts zunehmend von Maschinen umgeben, von künstlichen Erzeugnisse aller Art, von Beton bis Plastic, von elektrischem Licht bis zum Fernseher, von Auto und Kühlschrank bis zum Computer. Doch die meisten dieser technischen Errungenschaften funktionieren im doppelten Sinne nicht reibungslos. Apparate spuken, Kabel brechen, das Telephon ist gestört, Medikamente haben unliebsame Nebenwirkungen, Kunstfasern laden sich elektrisch auf, und Flugzeuge können bei Nebel nicht landen oder stürzen gar ab.
Die Technik ist also nicht perfekt. Hinzu kommt, wie man langsam zu merken beginnt, die Beeinträchtigung des menschlichen Lebens und Lebensraumes, des Wohlbefindens, der Landschaft und der Biosphäre.
Der Erfolg ist fragwürdig. Doch nicht nur derjenige der technischen Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Auch der persönliche Erfolg eines Selfmademans, eines Bestsellerautors, eines gefeierten Politikers, Künstlers, Sportlers oder Wissenschafters ist mit Nebenwirkungen behaftet: Arroganz, Vernachlässigung der Familie, Ratlosigkeit beim Versiegen der Ideen, der schöpferischen Kraft, der Leistungsfähigkeit. Schon im Evangelium steht ja: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele?" ( Mat. 16,26; Mark. 8,36; Luk. 9,25).
Wenn es also heisst, der Erfolg beweise schlüssig die Richtigkeit oder gar Wahrheit einer Theorie oder Überzeugung, dann muss man diese Erfolge ganz genau unter die Lupe nehmen. Ähnlich ist das mit der "Nützlichkeit". Was nützt wem und wie lange, wozu und inbezug worauf? müsste man fragen. Ein Auto, das klappert, bei dem der kalte Motor nicht anspringt und das ständig in die Werkstatt muss, mag wegen seiner Form und seines Namens ein Verkaufserfolg werden, ob der geplagte Besitzer aber dabei von "Erfolg" oder "Nutzen" spricht, steht auf einem andern Blatt.
Erfolg und Nutzen werden also gemäss der sektoriellen Betrachtungsweise der Wissenschaften wie der übrigen Berufe und Lebensarten und unter ganz bestimmten Aspekten, also durch Scheuklappen betrachtet. Die gesamtheitliche Betrachtung fehlt, sei das bei der Verwendung von Kopfwehtabletten und Antibiotika, von Interkontinentalflugzeugen oder alleinseligmachenden Heilslehren, bei Patentrezepten, Kunstdünger und Autobahnen.
Müsste man Erfolg messen?
Erfolg ist vielleicht eine Frage des Masses und der Messung. D. h. man schätzt die Bedeutung der Nebeneffekte ab, und wenn man die negativen davon als gering erachtet gegenüber den positiv bewerteten Haupteffekten, dann ist die Sache (z. B. Operation, Bau, Massnahme) ein Erfolg. Oder man misst ganz schlicht Zahl und Zeit der Ausfälle - z. B. 95 % aller Vergaser arbeiten mindestens 200 Stunden bei Temperaturen über 5° C einwandfrei -, dann ist dieses neue Modell nützlich.
Erfolg wäre demnach statistisch und mit Wahrscheinlichkeiten zu bestimmen. Damit hätten wir eine Entsprechung zu Karl Raimund Poppers "Logik der Forschung" (1934). Denn: Genauso wie das Bestreben der technischen Entwicklung von Produkten dahin ginge, sich einem Idealwert des reibungslosen Funktionierens anzunähern, so besteht nach der Approximationstheorie des Popperschen "kritischen Rationalismus" der Weg der Forschung, auch der sozialwissenschaftlichen, in einer steten Annäherung an die Wahrheit, der er sich asymptotisch angleicht. Wie jedoch der technische Nutzen kritisch betrachtet werden kann, so auch der "kritische Rationalismus". Das tat vor allem die "kritische" oder dialektische Theorie der sogenannten Frankfurter Schule, was besonders im berühmten "Positivismusstreit" (Habermas contra Albert) der sechziger Jahre zum Austrag kam.
Auch hier also erneut: verschiedene Betrachtungsweisen, verschiedene Schulen, verschiedene Positionen, keine Versöhnung, kaum Annäherung, Abflauen der Diskussion. Doch wie stets, das Problem ist damit weder erledigt noch bewältigt, genausowenig wie das "Basisproblem" (Schlick), das Problem der Kosmogonie, der Evolution, der Morphogenese, der Störungen der Symmetrie, der Farben, der Funktion des Theaters, der Geisteskrankheiten, der Aggression, des Krieges, usw.
All dies ist gewiss nicht mit Zahlen oder empirischer Sozialforschung, noch mit Textinterpretationen, Moralvorschriften, philosophischen Systemen und Menschenrechtskonventionen zu fassen oder gar zu bewältigen. Wie denn?
So tun „als ob“
Quantitäten sind messbar, damit schlagen sich Naturforscher und Marktforscher herum, Entwicklungen sind jedoch nur schätzbar (siehe den umstrittenen Bericht des Club of Rome "The Limits to Growth“, 1972 oder die misslungene Lancierung 'neuer' Produkte von Corfam bis Zigaretten und Büchsenrösti). Qualitäten jedoch sind nicht einmal annähernd beschreibbar, vielleicht am ehesten von Dichtern. Was ist "Lebensqualität", was Gesundheit, Zufriedenheit, was Harmonie, Schönheit, Edelmut, Grösse? Auch die grundlegendsten physikalischen Entitäten wie Materie, Energie und Information, die Wärme einer Farbe, die Elegantheit einer mathematischen Lösung, die Darstellung eines DNS-Moleküls lassen sich nicht adäquat definieren.
Der Wissenschafter tut so "als ob" (Kant, Vaihinger). Das tun sogar Politiker und gar Gläubige - als ob man den lieben Gott im Sack hätte, wenn man regelmässig die Kirchensteuer bezahlte.
Das Seltsame ist nun, dass man mit dem "als ob" Berechnungen anstellen und auch leben kann. Ohne das Wesen der Energie oder des Menschen oder von Gott erfasst zu haben, kann man Maschinen konstruieren, Kunststoffe erzeugen, Kinder unterrichten und Predigten halten.
Deshalb kann man auch ohne Kenntnis der philosophischen Standardwerke und Begriffsklärungsversuche - philosophieren.
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