Home Phänomenologie - universale Wissenschaft aus absoluter Begründung

 

Aus Anlass der Neuauflage von Edmund Husserls "Logischen Untersuchungen" (Niemeyer-Verlag, Tübingen) 1968 - deren letzte Ausgabe mit 1922/28 datiert ist

 

erschienen in den Basler Nachrichten, 2. November 1969

rot = Ergänzungen und Veränderungen anhand von zwei weiteren handschriftlich bearbeiteten Schreibmaschinenmanuskripten aus derselben Zeit

 

siehe auch:

„Das verzwistete Ich“

 

 

 

Die Jahre 1899 und 1900

 

Die letzte Jahrhundertwende hat eine grosse Bedeutung für die Geistesgeschichte.

 

Im Jahre 1900, als der Jugendstil blühte, der Burenkrieg tobte und die chinesischen Boxer aufstanden - 1899 war die erste Weltfriedenskonferenz im Haag gewesen -, da Ferdinand Graf von Zeppelin sein erstes "Motorluftschiff" baute, Carl Auer den "Glühstrumpf" (Metallfadenlampe) erfand und Guglielmo Marconi seine drahtlose Telegraphie über weite Distanzen ausprobierte, entwickelte der Naturforscher De Vries die Mutationstheorie, fand, wie auch Tschermak und Correns, die Mendelschen Vererbungsgesetze wieder und trug Max Planck seine Quantentheorie vor - nachdem Rutherford ein Jahr zuvor die α- und β-Strahlen entdeckt hatte.

Erschienen 1899 Haeckels "Welträtsel", David Hilberts "Grundlagen der Geometrie" und Th. B. Veblens "Theory of the Leisure Class", so stellte 1900 Thomas Mann die "Buddenbrooks" fertig und veröffentlichten Sigmund Freud die "Traumdeutung", Wilhelm Wundt den ersten seiner zehn Bände "Völkerpsychologie", Eduard von Hartmann den zweiten Band seiner „Geschichte der Metaphysik“, Adolf von Harnack "Das Wesen des Christentums", Georg Simmel die "Philosophie des Geldes" und Alexander Pfänder die "Phänomenologie des Wollens".

 

Schliesslich legte Edmund Husserl den ersten Band seiner "Logischen Untersuchungen", die "Prolegomena zur reinen Logik", vor. lm darauffolgenden Jahr erschien der zweiteilige zweite Band, welcher die eigentlichen sechs logischen Untersuchungen enthält. Dieses tausendseitige "Werk des Durchbruchs" ist der Grundstein der philosophischen Richtung, welche Phänomenologie genannt wird und sich neben Existenzphilosophie, Pragmatismus, Neopositivismus, Weltanschauungs- und Lebensphilosophie (Historismus und Vitalismus), Neuer Metaphysik, Neukantianismus, -hegelianismus und –scholastik -thomismus zu behaupten gewusst hat.

 

Edmund Husserl: Leben, Werk, Nachfolger

 

Der 1859 in Mähren geborene Edmund Husserl promovierte (1882(83) in Mathematik, studierte in Wien bei Franz Brentano Philosophie und habilitierte sich 1887 in Halle beim Philosophen, Akt- und Funktionspsychologen und Brentano-Schüler Carl Stumpf. Die Ausarbeitung seiner Habilitationsschrift („Über den Begriff der Zahl“) erschien 1891 als "Philosophie der Arithmetik". Zu dieser Zeit bemühte er sich noch um eine (psycho?)logische Grundlegung der Mathematik (als subjektive Tätigkeit mit Zahlen).

1894/95 erfolgte die Wandlung, welche sich zuerst (anknüpfend an Bernard Bolzano) in einer scharfen Kritik am Psychologismus (Psychologie als Grundwissenschaft aller Wissenschaften, also am unrechten Ort) äusserte: Die Logik ist und gilt unabhängig von der  - subjektiven - Psychologie und ist daher nicht empirisch zu begründen. Einzelne Abschnitte der "Logischen Untersuchungen" (dies der Titel schon des Hauptwerks von Adolf Trendelenburg, 1840) gehen bis in auf diese Jahre zurück.

 

1901 wurde er Professor in Göttingen, wo dann der "Göttinger-Kreis" als Phänomenologenschule entstand. Die zum Teil 1904/05 gehaltenen „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ gab Martin Heidegger 1928 heraus.

1911 erschien "Philosophie als strenge Wissenschaft" und 1913 der erste Band der "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie" (II und III wurden erst 1952 herausgegeben). Von 1916 an war er - als Nachfolger Heinrich Rickerts - als Professor in Freiburg i. Br. mit Forschungsarbeiten beschäftigt; sein nächstes Buch, "Formale und transzendentale Logik", erschien aber erst ein Jahr nach seiner Emeritierung (1929), das letzte, "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie", 1936. Zwei Jahre später starb er vereinsamt in Freiburg.

 

Ein Student, Herman Leo Van Breda, rettete seine Hinterlassenschaft - fast 45'000 Seiten, zumeist in persönlicher spezieller Stenographie (Gabelsberger) - vor der Vernichtung durch das Naziregime und richtete 1939 in Löwen (Louvain) das Husserl-Archiv als Forschungszentrum ein. Seit 1950 gibt dieses – nachdem Ludwig Landgrebe 1948 „Erfahrung und Urteil“ (1939; Texte aus den 20er Jahren) neu redigiert publiziert hatte - als textkritische Ausgaben die Reihe "Husserliana" (Verlag M. Nijhoff, Haag) heraus, die bis heute [1969] elf Bände umfasst.

Husserl hat zeit seines Lebens - oft unter Beizug von Mitarbeitern (seine letzten zwei Assistenten waren Ludwig Landgrebe und Eugen Fink) - an seinen Manuskripten herumkorrigiert, sie ständig überarbeitet; zu einem endgültigen Abschluss kam er nie. Deshalb die wenigen Buchpublikationen und deshalb die nun mit grossem Aufwand (u. a. durch Stephan Strasser, M. und Walter Biemel und Rudolf Boehm) sorgfältig geleistete posthume sukzessive Edition seiner Schriften - die z. T. fast abgeschlossen sind -, Vorlesungen und privaten Aufzeichnungen.

 

Ausbreitung der Phänomenologie

 

Die Phänomenologie breitete sich ... rasch aus. Husserl gab 1913-30 das "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung" (darin z. B. grosse Arbeiten von Max Scheler und Martin heidegger) heraus, das vorab von deutschen Emigranten (Marvin Farber und Fritz Kaufmann, die auch die "International Phenomenological Society" in Buffalo gründeten) 1940 als „Philosophy and Phenomenological Research“ fortgesetzt wurde.

 

Husserls bekannteste Schüler sind Hans Lipps, Roman Ingarden, Max Scheler, Edith Stein, Hedwig Conrad-Martius, Ludwig Landgrebe, Wilhelm Szilasi, Eugen Fink und Martin Heidegger (der sich dann aber von ihm abwandte und später auch von der "Existenzphilosophie").

Karl Jaspers sieht die Phänomenologie vor allem als fruchtbar in der Psychopathologie - was Husserl später als Missverständnis bezeichnete -, wo sie etwa die Daseinsanalytiker Viktor von Gebsattel, Ludwig Binswanger und Medard Boss ausbauten. Die Psychologen A. Pfänder, Erwin Straus, F. J. J. Buytendijk und Albert Wellek, aber auch die Philosophen Alexander Pfänder, Theodor Litt, Moritz Geiger, Adolf Reinach, Paul Bekker,  Gerhard Funke, Emmanuel Levinas und Nicolai Hartmann sowie der Soziologe Alfred Schütz stützen sich auf die phänomenologische Methode.

Der bekannteste französische Phänomenologe war neben Jean-Paul Sartre Maurice Merleau-Ponty.

Brachte der Zweite Weltkrieg einen Rückschlag, so hat sich seither die Phänomenologie wiederum stark ausgebreitet - Auskunft darüber gibt Herbert Spiegelberg in "The Phenomenological Movement", 1960, in der bereits zwei Dutzend Schriften umfassenden Reihe "Phaenomenologica", Haag.

Seit 1960 erscheinen auch die "Phänomenologisch-psychologischen Forschungen" (Johannes Linschoten, Aron Gurwitsch, Carl Friedrich Graumann), und der Tavistock-Verlag in London gibt eine Reihe "Studies in Existentialism and Phenomenology" heraus.

 

Bezeichnung und Kritik an von Husserls Philosophie

 

Man kann Husserls Lehre als Subjektivismus, transzendentalen Idealismus, Konzeptualismus, eventuell Universalenrealismus oder auch vorurteilsfreien Positivismus im alten Sinne (Ernst Mach, Richard Avenarius) bezeichnen.

Selbstverständlich hat Husserl auch Kritiker auf den Plan gerufen: Die Neukantianer werfen ihm Intuitionismus vor, die Neopositivisten bemängeln, dass er - wie auch seine Schüler -  keine positive Begründung und klare Systematik der Logik gegeben habe, dass er sich an – ungesicherten - idealen Gebilden, im Reich der Bedeutungen, statt wie heute üblich an der Sprache (Grammatik; Semantik, Strukturalismus, Informationstheorie) orientiere, weiter: dass seine eidetische und transzendentale Methode nicht in allgemeinverbindlicher Weise zu neuen Forschungsresultaten führe und seine Ausdrücke aus der Alltags- und Wissenschaftssprache stammten, neu verwendet würden, deshalb Scheinbegriffe seien und nur sinnlose Aussagen ermöglichten. (Dieser Vorwurf gilt aber jeder Philosophie als Metaphysik.) Ja man spricht sogar von einer "Art neuer Religiosität" und sagt: Sich die Welt denken zu wollen ist billiger, als sie erfahren (erleben) zu müssen.

 

Ferner wird die von Husserl angenommene Existenz allgemeiner, idealer und unveränderlicher Wesenheiten als Hypostasierung von reinen (vorentworfenen) Denkgebilden oder -erzeugnissen betrachtet und die Möglichkeit apriorischer, apodiktischer Wesenseinsichten oder -erkenntnisse, sowie eines apriorischen Wissens (abgesehen: um den eigenen Tod) und absoluten Erkennens (ausserhalb der Mathematik) bestritten abgelehnt.

Weiter wird bemängelt, Husserl habe seine eigenen Prinzipien und Methoden selbst gar nicht (richtig) benützt oder durchgeführt und z. B. übersehen, dass die intentionale oder transzendentale Konstituierung des Gegenstandes (noema) und die Stiftung seines Sinnes (idealer Bedeutungsgehalt) sowie von Relationen - als Wesenheiten (Allgemeines)  - kein Hinnehmen des Gegebenen (das immer singulär-konkret ist) ist, sondern ein Bestimmen, ja Produzieren, Erzeugen idealer Gegenstände oder Wesensgehalte in den intentionalen Akten oder im Einklammern.

Allgemein akzeptiert sind hingegen Husserls fruchtbare Einzelanalysen, die vor allem von seinen Nachfolgern zahlreich fortgesetzt werden.

 

Die Wesensschau des originär Gegebenen

 

Husserls Phänomenologie wird oft als "Wesensschau" bezeichnet. Was heisst das?

Die (normativen) Gesetze der Logik wie auch Ethik sind nicht dasselbe wie psychische Vorgänge (Ablaufsformen) im denkenden, urteilenden und wertenden Bewusstsein: Es sind eben apriorische, zeit- und raumlose, mithin ewige Wahrheiten, "Bedeutungen" ("als ideale Einheit der Mannigfaltigkeit möglicher Akte"), "ideelle Wesenheiten" oder „Sinngehalte“, „ideale Normen“. Solche sucht die Phänomenologie in methodischer Strenge - vom Neopositivismus aber als unkontrolliert bezeichnet - durch die "Wesensschau" ("innere Wahrnehmung", "Ideation") unmittelbar zu erfassen, wobei das "Prinzip aller Prinzipien" zur Anwendung kommt, dass „alles, was sich uns in der 'Intuition' originär ... darbietet, einfach hinzunehmen sei, [wie und] als was es sich [selbst] gibt". Das formuliert Heidegger als „Seinlassen des Begegnenden“; wir können auch sagen: Sich-offen-halten für die Gegebenheiten das Begegnende, das in der Erfahrung sich selbst gibt.

 

Letztes Kriterium ist hierbei die unmittelbare intuitive Evidenz (ein Begriff von Brentano), die immer nur, als bedeutsame, bei uns selbst liegt: In ihr sind mir die Sachen als sie selbst gegenwärtig; sie ist das Erlebnis der Wahrheit als "volle Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem als solchem". Die Sache steht mir als sie selbst unvermittelt geistig vor Augen.

 

Es werden dabei durch die "phänomenologische oder transzendentale Reduktion" eine absolute Wesenssphäre - das "transzendental gereinigte Bewusstsein" mit der Fülle der selbstgegebenen Phänomene - von der Alltags- und Wissenschaftswelt abgesondert sowie durch die "eidetische Reduktion" ("ideierende Abstraktion"; von kritischen Erkenntnistheoretikern, da intersubjektiv nicht nachprüfbar, als Weg in die Mystik bezeichnet) die Wesens- oder Sinngehalte  - nicht die sinnlichen Eindrücke - einer meinenden Intention herausgearbeitet („Sinnentdeckung“), was zum "Typus" und, zum (dem Gegenstand selbst eignenden) Wesen (eidos oder essentia; Wesensstruktur) führt.

 

Ging es in den „Logischen Untersuchungen“ noch um "Versuche zur Neubegründung der reinen Logik und Erkenntnistheorie" und um ihren Wahrheitssinn, so entwickelte Husserl ab 1905/07 an in der Nachfolge der eidetischen Phänomenologie die Konzeption der Phänomenologie als transzendentaler Philosophie, und in den spätesten Schriften geht es um die Problematik der "Lebenswelt" und Geschichte.

 

Zur Erhellung dessen, was nun - auch in den Naturwissenschaften (ebenso schon im Positivismus und etwa bei Henri Bergson) - gerne als "unmittelbar Gegebenes", "sich darbietende Gegebenheiten" oder ".Begegnendes" bezeichnet wird, stützen wir uns weiter unten auf die Schriften aus Husserls mittlerer Periode.

 

Was ist Phänomenologie genau?

 

Phänomenologie ist die Lehre von den Phänomenen (vgl. Heinrich Barth: „Philosophie der Erscheinung“, I, 1947; II, 1959). Was ist ein solches?

Es ist etwas, das sich unsern Sinnen - oder weiter gefasst: der Erkenntnis - darbietet, was auf zwei Weisen möglich ist, nämlich

  1. als etwas, das sich zeigt, ins Licht kommt (lucet) oder
  2. als etwas, das bloss so erscheint (videtur), „in Wahrheit" aber gar nicht so ist, wie es erscheint.

lm ersten Fall ist Phänomen: das Sichzeigende, das Offenbare, im zweiten: der Schein, das Scheinbare (in dem "Seiendes sich als das zeigt, was es an ihm selbst nicht ist"; Heidegger).

 

Der letztere Fall besteht beispielsweise bei einer Krankheit darin, dass sich ein Hautausschlag oder Fieber als Anzeichen - oder Abbild, Spiegelung, Symptom, Meldung, Bekundung, Indikation, Verweisung, Entsprechung, Ausdruck - von Masern einstellt. Die kleinen roten Flecken sind nicht die Krankheit oder Gesundheitsstörung selbst, sondern diese „meldet“ zeigt sich in den Flecken an, ist der Grund für ihr Auftreten.

Ähnlich verhält es sich bei der philosophischen Auffassung ("objektiver Phänomenalismus"), dass das Phänomen das In-Erscheinung-Treten von etwas ist, das dahintersteht, mehr oder weniger unbekannt und unerkennbar ist, also selbst nicht erscheinen kann, sei das nun das "Wesen", die Platonische "Idee" (intelligible Welt) oder das Kantsche "Ding an sich" (noumenon). (Kant vertrat die Lehre, dass Gegenstände - das sinnlich Wahrnehmbare - nur so erkannt werden, wie sie uns erscheinen, nicht so, wie sie an sich - oder wirklich - sind.)

 

Daneben gibt es den "Schein" als Täuschung, Trug oder Einbildung (Phantasie; Vorstellung); Die Psychologie spricht von Illusionen, Halluzinationen und Visionen, sowie natürlich von psychischen Erscheinungen. Nicht hierher gehört auch die Bezeichnung "Phänomen" für: Naturerscheinung, psychische Erscheinung, Vorgang, seltenes Ereignis, Gestalt oder Tatsache (Beobachtbares; Sinneseindrücke, -daten).

 

Im Jahre 1764 prägte Johann Heinrich Lambert den Begriff "Phänomenologie" in dem erwähnten Sinn als Theorie und Kritik der sinnlichen Erscheinungen, die die Grundlagen aller Erfahrungskenntnis bilden.

Fichte (1804) verstand unter Phänomenologie die "Erscheinungs- und Scheinlehre", und Hegel übertrug in seiner "Phänomenologie des Geistes" (1807) die Bedeutung des Wortes auf die Erscheinungen des Geistes (oder Bewusstseins), auf das fortschreitende In-Erscheinung-Treten des absoluten Geistes: Die Phänomenologie "fasst die verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen des Weges in sich, durch welchen er reines Wissen oder absoluter Geist wird".

 

Erst durch Husserl erhielt die Phänomenologie eine andere Bedeutung, womit eine neue, eigenständige Richtung der modernen Philosophie begründet wurde. Phänomen tritt hier als oben angegebener erster Fall auf, als das "Sich-an-ihm-selbst-Zeigende" (Heidegger), als das „Sich-zu-erkennen-Gebende“ (Heinrich Barth). Eine Sache - Gegenstand beziehungsweise Sachverhalt - ist ein Phänomen, wenn sie sich unmittelbar selbst darbietet, also nicht (aus Axiomen) abgeleitet, konstruiert oder erschlossen werden muss.

Daher fragen wir nicht wie die Einzelwissenschaften was, sondern wie die Sache ist; wir untersuchen ihr Sosein, ihre "Gegebenheitsweise". So lautet die Maxime der Phänomenologen: "Zu den Sachen selbst!", und da die Frage nach dem "Wie" zugleich die Frage nach einer Methode ist, stellt die Phänomenologie eine bestimmte Methode - Erkenntnisweise, nicht Theorie - dar, sich Gegenständen direkt aufweisend zuzuwenden und sie zu beschreiben (Deskription).

 

Sie ist also nicht eine Wissenschaft, deren besonderer Gegenstandsbereich die Phänomene in den Schranken, die sie sich selbst geben wären oder die sich von andern Philosophien durch die Wahl ihrer Gegenstände abhöbe, denn die Gegenstände sind für alle dieselben: Ich, Mensch, Welt und ihre Beziehung.

 

Aus der korrelativen Betrachtungsart der „Philosophie der Arithmetik“ (1891) entwickelte Husserl also die phänomenologische Methode als „Einheit der transzendentalen und eidetischen Reduktion“. Phänomenologie ist dann „eine rein deskriptive, das Feld des transzendentalen  [gereinigten] Bewusstseins [des Bewusstseins-Apriori] in der puren Intuition durchforschende Disziplin.“

 

Die transzendental-phänomenologische Reduktion als Rückgang auf das erfahrende Ich

 

Die Phänomenologie strebt die eine, neue, "letztgeklärte, absolute und universale Wissenschaftsbegründung" an. Grundlage hierzu ist anstelle der "natürlichen Einstellung" die radikale, systematische und universale Selbstbesinnung, die subjektive Wendung, der entschlossene Rückgang auf sich selbst, das philosophierende Ich (ego cogito, als "konkrete 'Monade") als den absoluten Anfang - das Cartesianische fundamentum absolutum et inconcussum -, als erste, unmittelbare und apodiktisch (unumstossbar) gewisse Evidenz: Mir muss alles einsichtig sein - es genügt nicht, wenn Wissenschaften, Autoritäten oder Traditionen etwas behaupten -, und wenn ich zweifle oder mich täusche, dann bin ich es, der dies tut. Indem ich mir damit selbst als denkendes Wesen (res cogitans) gewiss bin, bin ich (sum) und stelle mich alldem, was bezweifelbar ist, gegenüber – das ist das Erlebnis der Evidenz als „Selbsthabe“; das eigene Leben ist die erste ursprüngliche Gegebenheit.

 

Husserl knüpft also - in den "Cartesianischen Meditationen" (1929), die hier nachgezeichnet sind - an das "cogito sum" des Descartes (1637) an: Es ist die Wendung vom naiven Objektivismus zum "transzendentalen Subjektivismus", worin das Subjekt auf die Beziehung – das wesenhafte Verhältnis - zwischen ihm selbst und dem Objekt reflektiert (intentio obliqua). Dies, um zu begründen, was die Erkenntnis von etwas sei, das nicht ich bin. Mit Descartes hat der Aufbruch in die rationale, absolute Selbstbegründung des Denkens angehoben: Die Bewältigung der "Aussen"-Welt wird durch die Analyse des Geistes versucht.

 

Das Wesen der "phänomenologischen Epoché" - die keine psychologische Reflexion und Analyse des Bewusstseins ist - besteht also darin, dass ich alles ausser mir bezweifle. Ich bestreite damit keinesfalls die Existenz etwa eines Baumes (Welt), sondern ich enthalte mich  - in Freiheit - einfach (inhibiere) jeglicher Stellungnahme (Existenzurteil, Thesis, d. h. Wirklichsetzung – Seinssetzung und Wahrsein der Bezüge als Weltglaube (Urdoxa), d. h. „Generalthesis der natürlichen Einstellung“) dazu; ich sage nicht mehr, das ist oder ist nicht, ich lasse das "Dass", das "Sein dahingestellt": Die Welt gilt mir als seiend.

Das heisst für das Beispiel des Baumes: Meine Beziehung zu ihm liegt im Sehen; der Baum liegt als das Gesehene im Sehen, ist ein ideelles (nicht reales) Bestandstück meines Sehens (Erlebnisbestand). Dieses Sehen, bzw. das Erlebnis allgemein, zählt Husserl zum "cogito", das die ganze Breite des Bewusstseins, mithin eine Fülle von sehr differenten und wechselnden Erfahrungsweisen umgreift.

 

"Ego cogito" heisst dann: "Ich habe Bewusstsein von ..." (nach Wittgenstein ein Satz ohne jeglichen Sinn). Hierbei ist das "Ich" der Bezugspunkt das Identische bei den wechselnden Weisen des Bewusstseins. Deshalb muss man formulieren: Ich erfasse mich - in der Reflexion (die genaugenommen ein "Nachgewahren" ist) - als denjenigen, der den Baum sieht oder als Kranken und darum vielleicht Besorgten, der die Masern hat.

Anstatt dass wir Akte direkt vollziehen, machen wir das Erlebnis und seine Beziehung - das Gerichtetsein - zum Untersuchungsobjekt: Wir sind gewissermassen unbeteiligte und "uninteressierte" Zuschauer unserer selbst, und zwar als in der natürlichen Einstellung in weltliche Interessen verflochtene, und damit selbstvergessene oder latenten mundane Iche. Damit gewinne ich mich als transzendentales "reines Ich", das sich unterscheidet von dem (konkreten, natürlichen sowie geschichtlichen, sozialen wie auch rezeptiven und affektiven) Ich, das wir je selbst, als leib-seelische Einheit sind – und ohne dessen Funktionalität allerdings auch keine Phänomenologie möglich wäre.

 

Das reine Ich, das sich in dem aufgezeigten Vorgang der "Epoché" (in bezug auf die Welt) oder "transzendentalen Reduktion" (in bezug auf mich) - beides sind operationale Begriffe - herausgeschält hat, ist das gegenwärtigende Bewusstsein "Ich bin, und bin diese Welterfahrung erlebend" (Husserliana VIII, 81) und umfasst so damit die ganze "Sphäre der cogitationes" (des "reinen Bewusstseins", des "absoluten Seins"), der "transzendentalen Subjektivität". Deren Ichpol ist das reine Ich selbst als Bezugspunkt (Aktenzentrum) bzw. Identisches aller mannigfaltigen cogitationes (Blickstrahlen).

 

Damit wird dem phänomenologisch Meditierenden sein reines (Bewusstseins-)Leben - als Vielzahl der cogitationes - zu eigen als "Universum der Phänomene im Sinn der Phänomenologie". Denn nur aus dem Ich und seinen cogitationes bekommt die Welt als transzendente - d. i. jenseits des Ich stehende - in meinem Bewusstseinsleben Sinn (= Sinnstiftung durch intentionale Akte) und (Seins-)Geltung, wird sie bestimmt, aber nicht etwa geschaffen oder abgeleitet. Die Welt ist nur für je ein Ich da, mithin unlösbar mit ihm verknüpft. D. h. es gibt kein An-sich, keine Vorgegebenheit.

[Der nächste Satz folgt weiter unten.]

 

Die Reflexion ist demnach eine Weise von Erfahrung und zwar insoweit, als das cogito in seiner Struktur erfahrbar ist.

Die philosophiegeschichtliche Bedeutung von Husserls Ansatz liegt darin, dass Erfahrung nicht wie bisher blosse Tatsachenerfahrung ist, sondern vielmehr Selbsterfahrung  - „Selbstauslegung des ego“ - im transzendentalen (d. i. auf Transzendenz gerichteten) Bereich, auf den "alles Erdenkliche zurückbezogen ist" -; das ist kein Psychologismus, den Husserl ja energisch bekämpft.

 

Das ego ist die Sphäre, in der sich Erfahrung in der Form von Selbstreflexion abspielt. In der Reflexion als dem „eigentlichen Medium der phänomenologischen Erkenntnis“ erfahren wir das Ich in seinem erfahrenden Bewusstseinsleben und von unseren Akten selbst, was in ihnen geschieht, wie durch sie Bedeutung gestiftet (Sinngebung) und "Weltliches" begründet und aufgebaut wird.

 

Die Struktur des erfahrenen Ichs

 

Die intentionalen Leistungen der transzendentalen Subjektivität konstituieren die Gegenstände als Bedeutungskorrelate des synthetischen Bewusstseins

 

"Akte" als intentionale Erlebnisse können grundsätzlich setzend (positional) oder nichtsetzend (z. B. Phantasie, Antizipation) sein, in Anlehnung an die alte Unterscheidung von "Sinnlichkeit und Verstand" nominal (einstrahlig, z. B. Wahrnehmung, Vorstellung, Phantasie) oder propositional (mehrstrahlig, synthetisch oder kategorial; z. B. Urteilssatz) sowie objektivierend (doxisch-theoretisch) oder nicht objektivierend (nichtdoxisch; gemüthaft-wertend und wollend-praktisch).

 

Zu jedem Akt, d. i. momentanen Erlebnisvollzug, gehört ein einheitlich Gegenständliches: zum Sehen ein Gesehenes, zum Meinen ein Gemeintes, zum Streben ein Erstrebtes, usw. Das wird (seit Franz Brentano und Alexius Meinong) als "Intentionalität" bezeichnet; sie ist das Meinen, das Abzielen auf etwas, das "jeweilige Bewussthaben von etwas" (nämlich des Gemeinten; "intentum", "cogitatum"). "Wahrhaft Seiendes ... hat also Bedeutung nur als ein besonderes Korrelat meiner eigenen Intentionalität, der aktuellen und der als potentiell [Mitgemeintes, Vormeinung, vorgespannte Erwartungen = Pro- und Retention] vorgezeichneten"; in meiner Intentionalität ist aller Seinssinn mitbeschlossen, sie gibt Ordnung, Zusammenfassung und Einheit aller Phänomene.

 

[folgt im Artikel etwas weiter unten:]

Wie verhält sich nun das cogito zu seinem "Wovon", zum cogitatum, wie ist der Zusammenhang Noesis (Akt[-Vollzug], Bewusstseinsweise) – Noema (Bewusstseinsobjekt, Erscheinungsgehalt, “Habe”)?

Das Weltliche ist ja bei der Epoche nicht geleugnet, nicht eigentlich verlorengegangen oder vernichtet, sondern nur (reflexiv, denkend) "eingeklammert" worden; es ist im "Bewusstsein von etwas" (im cogitatum qua cogitatum) mit seinen Wesensgehalten und Qualitäten erhalten geblieben, damit es in der absoluten Sphäre des transzendentalen Bewusstseins erforscht werden kann. Übrig bleibt also das „reine Bewusstsein mit seinem Weltmeinen“, der transzendentale Erlebnisstrom, der Strom des vermeinten Welterfahrens, das strömende transzendentale Leben, die strömend lebendige Gegenwart.

 

Das transzendentale Ich (als fungierendes, d. h. stehend bleibendes Da meines strömenden Gegenwärtigens – die Anonymität des nunc stans) hat also die Welt nur als Phänomen, als Fülle des Phänomenalen, "als cogitatum der jeweiligen cogitatio, als Erscheinendes der jeweiligen Erscheinungen, als blosses Korrelat".

„Welt wird zum Weltphänomen. Phänomen einzig im Sinne der bewusstseinsmässigen Vermeintheit ist das universale Thema der Phänomenologie, welche die Wissenschaft ist von dem reinen oder transzendentalen Bewusstsein nach seinen erlebnismässigen und vermeintlichen Bezügen“ (Ideen I).

 

Ich habe also Gegenstände nur in Korrelation mit den verschiedenen Bewusstseinsweisen (Modalitäten), in denen sie mir in der transzendentalen Subjektivität "gegeben" sind. Alles "ist für mich nur als intentionale Gegenständlichkeit meiner cogitationes", also innerhalb "des Universums möglichen Bewusstseins und Sinnes". So wird "Jede Art Seiendes, reales und ideales", wird verständlich als in der intentionalen Leistung "konstituiertes Gebilde der transzendentalen Subjektivität“. Es gibt keine noemata ohne oder ausserhalb der noesen und umgekehrt; jedes kann nur in der Ergänzung durch das andere bestehen.

 

Etwas einfacher: In der transzendentalen Subjektivität konstituiert sich alles; das transzendentale Bewusstsein konstituiert in seinen jeweiligen intentionalen Akten die Gegenstände - wobei die Konstitution kein Akt, sondern ein geschehender Vollzug ist -; also erforscht die Phänomenologie "alles Gegenständliche und das darin Vorfindliche als Bewusstseinskorrelat".

 

Husserl geht es nun um die Erhellung dieses Korrelatverhältnisses (Wirklichkeit als intentionales Korrelat des Subjekts; genauer: Gegebenheiten als noematische Bedeutungskorrelate des reinen Bewusstseins) und seine Ermöglichung. "Erst durch die Phänomenologie ... wird das ego als ein unendlicher Zusammenhang von synthetisch zusammengehörigen (konstitutiven) Leistungen verständlich"; sie enthüllt das unerschöpfliche "eingeborene Apriori", welches jedes ego hat, "in seiner unendlichen Vielgestaltigkeit".

 

Viele mögliche Bewusstseinserlebnisse konstituieren den Gegenstand - "so viele Grundarten von Evidenz , so viele Grundarten von Gegenständlichkeit" -; umgekehrt gehört zu jedem Gegenstand(-sbereich) eine typische Art möglicher Erfahrung. So gibt es verschiedene Weisen des "Zugehens" auf einen Gegenstand, denen dann ein entsprechendes cogitatum auf der Gegenstandsseite als Korrelat zusteht.

Der Einheit der transzendentalen Subjektivität auf der Seite des Ichs entspricht auf der "noematischen" Seite die Welt als in meinen Erfahrungsleistungen konstituierte, vermeinte, als (entworfener) offener (Gesamt-)Horizont (Verweisungszusammenhang als Potentialität; Mitgegenwärtiges, „Appräsentes“, Hinterseite), in dem alles - als Vielfaltheit – geschieht, erscheint. Zusammen machen sie, als korrelative, die Einheit von Ich (= Welterfahren) und Welt aus.

Das heisst: Es wird nicht nur Seiendes in der Welt erfahren, sondern auch Welt. Letzteres heisst “Horizontbewusstsein”. Das ist die paradoxe Tatsache: Ich nehme mehr wahr als ich sinnlich wahrnehme.

 

Die volle Struktur der transzendentalen Subjektivität ist also: die Einheit des ego cogito cogitatum (wobei auch diese Begriffe als funktionale oder operative zu verstehen sind). Das Bewusstseinsobjekt ist damit als "intentionales, erscheinendes Ideell-darin-sein", als "immanent gegenständlicher Sinn", als das Vermeinte im Bewusstsein, nicht aber ist es Bestandteil des Bewusstseins-"Stroms" (ein .Begriff von William James, Wilhelm Dilthey und William Stern), welches die intentionalen Erlebnisse sind.

 

Die Phänomenologie untersucht demnach also nicht die "realen Objekte" der Wissenschaften, sondern Bewusstseinsgegenstände, genauer Gegenstände der jeweiligen Bewusstseinsweisen, d. h. Bewusstseinsobjekte (als Aktgehalte, cogitata), die ihrer naiven Seinsgeltung beraubt sind. Wobei Die zeitliche und sachliche Identität als (intentionale) "Einheit einer Mannigfaltigkeit immer wieder abzuwechselnder Erscheinungsweisen, ihrer besonderen Perspektiven" und „Abschattungen“ ist hierbei durch das "synthetische" (d. i. einigende, identifizierende) Bewusstsein geleistet.

 

Der Gegenstand konstituiert sich als "Sinneinheit"; im synthetischen Bewusstsein wird "dasselbe" bewusst, das "'Eine als Eines". "Die transzendentale Subjektivität ist [hierbei] nicht ein Chaos von intentionalen Erlebnissen, sondern eine Einheit ... einer vielstufigen Synthese, in der immer neue Objekttypen und Einzelobjekte konstituiert sind. Jedes Objekt aber bezeichnet eine Regelstruktur für die transzendentale Subjektivität."

Genauer noch: Das erschaute Eidos (oder der Typus als Allgemeines) einer cogitatio ist als "Regelstruktur" der Fülle der Aspekte des Gemeinten wirksam. Diese ist das Wesen der Beziehung Bewusstseinsweise-Gegenstand und wird auch "transzendentaler Leitfaden" genannt. Konstituiert wird also nicht das Ding, sondern das Bewusstsein davon und sein Sinn.

 

Fazit Nochmals: Die phänomenologische Forschung oder Analyse ("Egologie") erfasst beschreibend, was sich in der Sphäre eines absoluter, Seins, der transzendentalen Subjektivität, mit Hilfe reflexiver Selbsterfahrung ("Selbstauslegung des ego"; inspectio sui) zeigt. Es gibt keine andere Erfahrung, die der Forderung der Absolutheit entspricht, als die – wie Husserl später sah: geschichtliche – reflektive Selbsterfahrung des ‚ich bin’, des transzendentalen (und freien) Ichs, also die reflektive Erfahrung des Welterfahrens. Damit ist der Satz ‚ich bin’ „das wahre Prinzip aller Prinzipien“ (Husserliana VIII, 42).

 

Jedes Seiende wird in seinem Sinn aus der Struktur des zugehörigen Bewusstseins und seiner Leistung betrachtet, wobei "das ganze universale Leben in seinem Fluktuieren, seinem Heraklitischen Fluss, eine universale synthetische Einheit ist", die noetisch-noematische Struktur der transzendentalen Subjektivität als des durch die phänomenologische Reduktion gewonnenen "unendlichen Feldes transzendentaler (Selbst-)Erfahrung".

So gilt: "Transzendenz in jeder Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender Seinscharakter. Jeder erdenkliche Sinn, jedes erdenkliche Sein ... fällt in den Bereich der transzendentalen Subjektivität als der Sinn und Sein konstituierender." Die transzendentale Subjektivität ist der Ort letzter Begründung, letztbegründender absoluter Erfahrung.

 

Parallelen von Goethe bis zur modernen Physik

 

Mit all diesen Erörterungen ist gezeigt worden, dass wir keinesfalls von einer Innen-Aussen- oder Subjekt-Objekt-Spaltung sprechen dürfen, sondern dass cogito und cogitatum nur zwei verschiedene, im reinen Bewusstsein abzuhebende Seiten - nämlich subjektiver und objektiver Aspekt - jedes Erlebnisaktes sind: In der konstituierenden Begegnung mit dem Wirklichen wird dieses als dies oder jenes bestimmt.

 

In diesen Zusammenhang, aber anders gewichtet, gehört auch, was Goethe sagt: "Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und. verwickelt (Max. und Refl., 1224) ... Es gibt etwas unbekannt Gesetzliches im Objekt, welches dem unbekannt Gesetzlichen im Subjekt entspricht ... Es ist nichts ausser uns, was nicht zugleich in uns wäre … Alles, was im Subjekt ist, ist im Objekt und noch etwas mehr. Alles, was im Objekt ist, ist im Subjekt und noch etwas mehr. Wir sind auf doppelte Weise verloren oder geborgen: Gestehen wir dem Objekt sein Mehr zu! Pochen wir auf unser Subjekt" - d. h. "die Menschen" oder „die Natur“ haben weder Kern noch Schale, es gibt bei ihnen kein Drinnen und kein Draussen.

 

Der mit dem neukantianischen Kritizismus sich verbindende Positivismus sah das zunehmend deutlicher und der Physiker Carl Friedrich vor Weizsäcker formuliert schliesslich, ausgehend von den Tatsachen, dass grundsätzlich die Einstellung des erkennenden Subjekts (Beobachter oder auch etwa psychotherapeutischer Behandler) oder der Bezugsrahmen (z. B. die Geschwindigkeitsverhältnisse) und die Fragestellung (das Experiment, Forschungsinstrument) entscheidet, welche Antwort das Objekt gibt und dass einerseits das Beobachtete wiederum den Beobachter (oder Therapeuten) beeinflusst, seine Bewusstseinsstruktur ändert, ihn ergreift oder gar reifer macht sowie anderseits die Forschungsmethode abhängig ist von der Struktur des Zuerkennenden:

„Nicht das isolierte Ding, sondern nur das Ganze des Zusammenhangs Mensch-Ding gilt der modernen Physik als fassbare Wirklichkeit ... Das Experiment, das den Zustand des Wirklichen, den es uns zeigt, selbst erzeugt, ist eine besonders eindrucksvolle materielle Manifestation des Geistes, der nur erkennt, indem er schafft" (in der Aufsatzsammlung „Zum Weltbild der Physik“, 1943; 4. Aufl. 1949, 157, 50).

 

Dass Erkennen in diesem Sinn ein schöpferischer Akt ist, sahen bereits Schiller: "Der Geist besitzt nichts, als was er tut" und Novalis (wie bereits Thomas Hobbes und später die Pragmatisten und Operationalisten): "Wir wissen nur, insoweit wir machen.“ Fichte - als extremster Repräsentant des deutschen Idealismus - entwickelte dann die Theorie, dass alles vom tätigen Ich (in der Tathandlung) gesetzt oder denkend erzeugt wird, und Schelling sagte: "Das Experimentieren ist ein Hervorbringen der Erscheinungen."

 

Der Physiker Werner Heisenberg fasst dies zusammen:

"Die Beobachtung ist ein Teil des Vorgangs" oder: Der Gegenstand der Forschung ist seit der Relativitätstheorie und Quantenphysik "nicht mehr die Natur an sich [als eine objektive, vom Menschen unabhängig gedachte], sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur [vgl. Francis Bacon], und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst" („Das Naturbild der heutigen Physik“, 1955, 18).

 

Kurz: "Realität" ist Realität stets nur in ihrer Beziehung zum Erkennenden, zur Person, Existenz; beide bedingen einander.

 

Die Intersubjektivität als letzter Seinsboden

 

Es sei nun nicht weiter auf die Fragen eingegangen: Was "konstituiert" ein Objekt, wie konstituiert sich (genetisch) das ego selbst - über den Ichpol und die Person zum transzendentalen Ich -, wie Transzendenz (materielle und animalische Natur, geistige Welt, sowie die Lebenswelt - das in der intuitiven Fülle Mitpräsentsein von Leiblichem und Welt) , wie gelangen wir überhaupt zur Meinung, dass der Gegenstand existiere und trotz der Erscheinungsmannigfaltigkeit ein und dasselbe sei?

 

Es fragt sich nur noch, wie sich die "Konstitution" eines andern Menschen von derjenigen eines sonstigen weltlichen Objekts unterscheidet. Dabei gehen wir von folgenden Überlegungen aus:

 

1. Ich erfahre in der menschlichen Begegnung den andern - als alter ego, d. h. als echtes Subjekt (Person) und nicht als Ding (Leiblichkeit) - als solchen, der dieselbe Welt wie ich konstituiert und erfasst und der mich erfährt, so wie ich ihn erfahre. Aber ich kann nicht direkt oder eigentlich erfassen, was “innerlich in ihm geschieht" (vergleiche hierzu Wittgensteins Beispiel vom Käfer in der Schachtel). Das kann ich nur durch "Einfühlung" (analoge Miterfahrung, Mitschwingen), d. h. ich denke ihm etwas zu („Interpretation“), was ich selbst wesenhaft auch bin, ich leiste also eine Übertragung ("Appräsentation"); ich verstehe den andern als den, der ich selber bin.

 

2. Der andere leistet die Transzendenz wie ich: "Welt" ist nicht nur eine in mir, sondern auch im andern konstituierte. Sie wird also von ihm mitkonstituiert, d. h. seine Leistung wirkt auf mich zurück, er erfährt in mir mit - um mit Leibniz zu reden: Er spiegelt sich in mir. Auch Nietzsche sagte, dass in jedem Menschen der andere drin sei.

 

So kann von "Wir" gesprochen werden. Eine gemeinsame und einheitliche Welt - wie wir das postulieren - für "uns" ist demnach also nur auf dem Boden der "transzendentalen Intersubjektivität" ("Monadengemeinschaft"; „das Universum transzendentaler Subjekte“, das „transzendentale Ichall“, der (inter-)personale Verband mit gemeinsamer Umwelt) denkbar. Somit erweist sich diese - und nicht die transzendentale Subjektivität - als letzter Seinsboden (aber nicht erkenntnismässiger Urteilsboden) für die phänomenologische Konstitutionsforschung.

 

Damit ist der Vorwurf des "Solipsismus" oder blinden Egoismus zurückgewiesen, denn über die Intersubjektivität werden die "objektive, eine und selbe Welt" (etwa der Naturwissenschaften) wie auch die geschichtliche Kultur- und Geisteswelt und die soziale, kommunikative Welt aufgebaut.

 



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