Home Ein "Lebensrückblick" mit 29 Jahren

 

geschrieben im Januar und März 1973

zwei Einleitungen eines geplanten Sammelbandes „Versuche und Essays“ mit Aufsätzen, die  seit 1966 verfasst wurden

 

 

Statt eines Lebenslaufes

 

I.

Wie stark ein paar wenige Motive eines jeden Lebensweg bestimmen, zeigt sich erst im Rückblick. Warum soll man einen solchen nicht schon im dreissigsten Lebensjahr unternehmen? Wenn jemandem die Feder seit dem neunten Altersjahr locker, vielleicht allzu locker, in der Hand sitzt, ist eine solche Besinnung anhand dessen, was auf Papier die Zeitläufe überdauert hat, leicht möglich - wenn sie auch unvollständig wie alles bleiben wird.

 

 

II.

Das erste Gedicht Friedrich Schillers nach einer sechseinhalbjährigen Pause entstand im Sommer 1795 und trägt den Titel "Die Ideale". Damit markiert der Sechsunddreissigjährige den Anfang der Arbeiten, die "das Werk einer reiferen Einsicht sind". Worin besteht diese Einsicht?

 

"Erloschen sind die heitern Sonnen,

Die meiner Jugend Pfad erhellt,

Die Ideale sind zerronnen,

Die einst das trunkne Herz geschwellt,

Er ist dahin der süsse Glaube

An Wesen, die mein Traum gebar,

Der rauben Wirklichkeit zum Raube,

Was einst so schön, so göttlich war.

 

Es dehnte mit allmächtgem Streben

Die enge Brust ein kreisend All,

Heraus zu treten in das Leben,

In Tat und Wort, in Bild und Schall.

Wie gross war diese Welt gestaltet,

So lang die Knospe sie noch barg,

Wie wenig, ach! hat sich entfaltet,

Dies wenige, wie klein und karg.

 

Leichtfüssig war das Glück entflogen,

Des Wissens Durst blieb ungestillt,

Des Zweifels finstre Wetter zogen

Sich um der Wahrheit Sonnenbild."

 

 

"Die Ideale", Goethes Liebling, "sind ein klagendes Gedicht" schrieb Schiller an Wilhelm von Humboldt,

"es ist zu subjektiv (individuell) wahr, um als eigentliche Poesie beurteilt werden zu können, denn das Individuum befriedigt dabei ein Bedürfnis, es erleichtert sich von einer Last, anstatt dass es in Gesängen von anderer Art, vom innern Überfluss getrieben, dem Schöpfungsdrange nachgibt."

 

 

Es ist die Klage darüber, dass der Mensch gewissermassen in voller Reife das Licht der Welt erblickt und hernach, "von kühnem Mut beflügelt, beglückt in seines Traumes Wahn, von keiner Sorge noch gezügelt,... in des Lebens Bahn" springt. Doch ‚mit der Zeit' zerbröckeln die holden Phantasien, die Lebensfreude, Glück, Liebe und Schönheit, aber auch der "Entwürfe Flug", Die 'heile Welt' wird "der rauhen Wirklichkeit zum Raube". Was bleibt, ist der Zweifel.

"Kaum warf noch einen bleichen Schimmer die Hoffnung auf den finstern Weg."

 

Wenn jemand, der seit seinem neunten Altersjahr schreibt, nach Jahrzehnten darauf zurückschaut, kann er auch zu dieser Einsicht kommen. Er mag als Autor eine 'Entwicklung' durchgemacht haben, doch von dem, was die Knospe einst in Fülle barg, hat sich wenig entfaltet, "klein und karg" liegt es in der Stille, verlassen, unbeachtet wie Sandkörner am "Meer der Ewigkeit".

 

In der Jugend, vor der Pubertät jedenfalls recht ausgeprägt, scheint man noch Lösungen. gesehen zu haben. Aber auch in den philosophisch oder weltanschaulich aufgeladenen. Jahren von, sagen wir, 17 bis 25 könnte man auf Grund abstrakter Gesetzmässigkeiten (Polarität, Theorie und Praxis, Klassenkampf, usw.) noch Rezepte austüfteln. Bei manchen hält das noch länger an.

Bei andern aber erfolgt die Hinwendung zum Konkreten, und damit macht sich Ernüchterung breit. Die Illusionen von Kindheit und Jugendzeit verblassen, die prinzipielle Lösbarkeit und Erkennbarkeit von Problemen und Zusammenhängen wird in den Niederungen des Tatsächlichen, der Realpolitik fragwürdig. Radikaler werden heisst einerseits, zu den Wurzeln vorzustossen versuchen, anderseits erkennen, wie morastig dieser Grund ist.

 

Das Älterwerden lässt sich in dieser Hinsicht einem Herabsteigen von himmlischen Höhen zur Mutter Erde, vom Licht und Feuer zum Schweren und Feuchten vergleichen - oder ist es ein Sturz?

„Bis an des Aethers bleichste Sterne erhob ihn der Entwürfe Flug, nichts war so hoch, und nichts so ferne, wohin ihr Flügel ihn nicht trug."

Doch später:

"Und immer stiller wards und immer verlassner auf dem rauhen Steg ... Wer steht mir tröstend noch zur Seite, und folgt mir bis zum finstern Haus?“

 

Ganz ähnlich könnte man Hölderlin verstehen, der sich als legitimer Sohn von "Vater Aether" sah:

"Und der Jüngling, der Strom, fort in die Ebne zog,

 Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön,

Liebend unterzugehen,

In die Fluten der Zeit sich wirft.“

 

Oder:

"Der Genius, der aus dem Aether stammt;

Er kommt herab; er taucht sich wie zum Bade,

In des Jahrhunderts Strom ..."

 

Jedoch:

"Einsam stand ich und sah in die afrikanischen dürren Ebnen hinaus ... Ich sehne mich ins grüne Feld des Lebens und in den Himmel der Begeisterung.“

 

Wie sähe eine Lösung aus?

"Im Zorne reinigt aber sich der Gefesselte nun ... Denn sagen hört ich noch heut in den Lüften: Frei sei’n, wie Schwalben, die Dichter."

 

Ebenfalls wie Schiller und Hölderlin sieht es auch Rilke in der ersten Elegie:

"Es bleibt uns vielleicht irgend ein Baum an dem Abhang, dass wir ihn täglich wiedersähen;... vielleicht dass die Vögel die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug. Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche Sterne dir zu, dass du sie spürtest ... Das alles war Auftrag. Aber bewältigtest du's?"

 

So könnte es sein, vielleicht ist es aber doch anders. Das bleibt das Geheimnis des Lebens.



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