Home Zerstört der Kult des Individuums die Gemeinschaft?

 

Eine Betrachtung im Herbst 1988

 

Inhalt

Der Mensch als Gemeinschaftswesen

Der „Kult des Individuums“

1. Richtung: Anbetung bis Hochstilisierung

2. Richtung: Pflege von sich selbst und der Gemeinschaft

Die Gemeinschaft

1. Wie gross ist „die“ Gemeinschaft?

2. Nebeneinander oder Zueinander?

Innige Gemeinschaft, rationale Gesellschaft

Mehr bewusst sein, was wir und die andern wollen

 

Abb.: Die Spannweite des Kults des Individuums

 

 

Die erste Antwort, die mir auf die im Titel gestellte Frage durch den Kopf ging, lautete kurz und bündig: "Ja".

Doch nach und nach veränderte sich diese Antwort bis sie am Schluss lautete: "Ja und Nein" - denn es kommt darauf an, was man unter "Kult des Individuums" versteht. Nicht jedem gehen nämlich bei dieser Formel dieselben Bilder oder Vorstellungen durch den Kopf, und im Gespräch mit andern Menschen ändern sich die Bilder und tauchen viele neue Aspekte auf.

 

Der Mensch als Gemeinschaftswesen

 

Die Frage ist dreigliedrig:

Wir müssen klären, was könnte mit "Kult des Individuums" gemeint sein, wir müssten "die Gemeinschaft" näher definieren und drittens müssten wir die Beziehungen zwischen beiden untersuchen.

 

Das sind natürlich uralte philosophische Fragen. Und die klassische Antwort ist denn auch über 2300 Jahre alt und heute noch gültig.

 

Der Philosoph Aristoteles meinte, der Mensch sei ein "zoon politikon", ein soziales Wesen, genauer: ein Lebewesen das Gemeinschaften aufbaut und von ihnen auch geprägt wird. Die "polis", das Gemeinwesen, entsteht nicht von selbst, es ist Ergebnis einer gemeinschaftlichen Anstrengung zum Wohl aller.

Der Mensch braucht die Gemeinschaft, denn keiner kann allein leben. Er ist schon als recht hilfloser Säugling auf andere Menschen angewiesen und bleibt es, wenn er später "in die Gemeinschaft hineinwächst".

 

Auf diesem Hintergrund können wir den "Kult des Individuums" betrachten.

 

Der „Kult des Individuums“

 

Wir können ihn auf 6 unterschiedliche Weisen auffassen. Das beruht wiederum darauf, wie wir"Kult" fassen. Kult kommt von "colere" = pflegen, bebauen, veredeln. Nun kann man dies auf zwei Arten präzisieren:

1. in Richtung Anbetung, die bis zur Hochstilisierung gehen kann, und

2. in Richtung liebevoller Pflege, die auch kleine Opfer beinhaltet.

 

1. Richtung: Anbetung bis Hochstilisierung

 

Nehmen wir zuerst die 1. Richtung: Wir können uns selber hochstilisieren oder andere Menschen, dazwischen ist die Werbung, welche dem Konsumenten schmeichelt. Betrachten wir das etwas genauer und gehen der Reihe nach vor.

 

1. "Kult des Individuums" kann heissen, dass man sich selber als Herrgöttchen sieht. Man ist "the King", man anerkennt niemanden über sich an, also auch kein Gesetz, keine Moral, keine höhere macht, keinen Gott.
Im populären Sinn können wir von rücksichtslosen Egoisten sprechen. Solche gibt es, z. B. Bauspekulanten, die nur auf Gelderwerb aus sind, und denen es nichts ausmacht, wenn sie zusammen mit anderen die schönsten Touristikgebiete verschandeln.

 

2. Nach aussen gerichtet ergibt diese Art von Kult eine Verherrlichung von Führern, von Stars, von Idolen. Sie werden in den Himmel gehoben und angebetet. Ein Ergebnis davon kann die Autoritätsgläubigkeit gegenüber Gurus sein. Was der sagt, gilt.
Eine mildere Form davon ist der Kult um das höhere Management in Grossfirmen. Ehrfürchtig verbeugen wir uns vor dem Generaldirektor. Er geniesst zahlreiche Privilegien, die z. T. auch optisch sichtbar sind, wie Parkplatz, Büroausstattung, Zerberus.

 

3. Zwischen diesen beiden Extremen befindet sich die Werbung, wenn sie dem Konsumenten Honig um den Bart streicht: "Du bist der König; wenn du dies Produkt kaufst oder verwendest, bist du umschwärmt, geliebt, bewundert oder ein Typ, eine richtige Persönlichkeit."

 

2. Richtung: Pflege von sich selbst und der Gemeinschaft

 

Wenn wir die zweite Richtung von Kult ins Auge fassen, also die liebevolle oder auch nüchterne Pflege und Bearbeitung, dann können wir als Gegenbeispiele aufstellen:

4. das gesunde Selbstbewusstsein,

5. die Einordnung in eine Hierarchie und

6. die Selbsterziehung.

Auch dies sei etwas eingehender betrachtet.

 

4. Egoismus muss nicht unbedingt rücksichtslos und damit zerstörend sein. Es braucht einen gewissen Egoismus, zum Beispiel für kreative Leistungen. Kreativität kann aus dem Antrieb kommen, etwas verbessern zu wollen. Hat man dann z. B. eine Erfindung gemacht, dann soll man diese aber nicht für sich behalten, etwa um Macht ausüben zu können, sondern sie soll der Gemeinschaft zum Nutzen weitergegeben werden.
Nun ist nicht jeder ungeheuer kreativ oder gar ein Erfinder. Jeder kann aber etwas. Und das ist der richtige "Kult des Individuums": Er weiss was er kann, und was nicht, er bemüht sich darum, ein guter Berufsmann zu sein, ein guter Bürger und Familienvater. Kurz: Er hat ein gesundes Selbstbewusstsein, wozu auch ein gewisses Mass an Selbstkritik gehört.

 

5. Es braucht Hierarchien; ohne diese zerfielen Staat, Unternehmen und Vereinigungen. Hierarchien sollen aber nicht Selbstzweck sein. Sie dienen dazu, dass gemeinschaftliche Vorgänge reibungsloser ablaufen. Jemand muss den Vorsitz übernehmen. Das ist ein Amt, nicht eine göttliche Stellung oder Berufung. Wenn dieses Amt von einem kompetenten "Führer" ausgeübt wird, ist es problemlos sich diesem unterzuordnen.
Die Einordnung in eine Hierarchie dient der Sache, also der gemeinschaftlichen Arbeit. Das gilt für eine Verein so gut wie für ein Unternehmen oder eine Behörde.

 

6. Zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Akzeptieren einer kompetenten Führung steht die Selbsterziehung. Sie besteht in zweierlei: 1. Man stellt sich Fragen wie: "Was muss sein, was nicht? "2. Man muss oft ein kleines Opfer bringen.
Betrachten wir wieder den Grundstückspekulanten: Er kann sich fragen: "Brauche ich wirklich soviel Gewinn?" Und: "Schadet es mir, wenn ich meine Projekte etwas massvoller plane und besser in die Landschaft einpasse? Vielleicht dient es ja dem Tourismus auf die Länge.“
Das Wörtchen "passen" ist das Schlüsselwort. Statt nur an sich selber zu denken, an seine Bedürfnisse und Wünsche, sollte man sich fragen: "Passt das, was ich plane oder tun möchte, in die Gemeinschaft?"

 

Die Gemeinschaft

 

Damit kommen wir zum zweiten Fragekreis: Was ist "Gemeinschaft"? Aus den vielen Fragen, die dazu möglich sind, greife ich zwei heraus, eine quantitative und eine qualitative.

 

1. Wie gross ist „die“ Gemeinschaft?

 

Wie gross ist die gemeinte Gemeinschaft? Die Spannweite reicht von Familie, Nachbarschaft und Freundeskreis über die Nation bis zur Menschheit. Es ist sicher nicht dasselbe, ob wir ein paar Dutzend oder ein paar Milliarden Menschen im Auge haben.

 

Jedenfalls handelt es sich immer um Menschen; das vergessen wir oft. Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden viele Menschen als minderwertig angesehen: als Wilde, als Sklaven, als Primitive. Der berühmte französische Ethnologe Lucien Lévy-Bruhl schrieb 1910 das Buch "Les fonctions mentales des societés inferieures"; bis zu seinem Tod vor 50 Jahren (1939) schrieb er stets über die "Primitiven".

Zusätzlich zu dieser universalen Zweiteilung der Welt in Zivilisierte und Primitive gibt es im kleineren Rahmen mannigfache Unterscheidungen nach dem Prinzip: "Wir und die anderen".

Die anderen sind Fremde, Hergelaufene, Eindringlinge, Aussenseiter. Heute spricht man auch von Minderheiten und Randgruppen. Die Medien bringen dazu jeden Tag Anschauungsmaterial. Im Extremfall kann sogar der Dialekt zum Stolperstein werden. Eine kürzlich nicht wiedergewählte Schuldirektorin der Stadt Bern, soll unter anderem unliebsam aufgefallen sein, weil sie zürichdeutsch sprach ...

 

2. Nebeneinander oder Zueinander?

 

Zur qualitativen Frage: Ist jede Anzahl Menschen schon eine Gemeinschaft? Was unterscheidet eine gut gefüllte Seilbahnkabine von einem Freundeskreis, ein Verein von einer Nation?

Gemeinsame Absichten oder Ziele haben alle, nur sind sie von unterschiedlicher Qualität: Auf den Berg hinauf fahren wollen, ist nicht dasselbe wie gemeinsam arbeiten wollen, und das ist nochmals etwas anderes als Vorkehren treffen, damit alle Menschen in einem Gebiet möglichst gleichberechtigt ihre eigenen Wege gehen können.

 

Beim einen Extrem ("die Masse") handelt es sich um ein blosses Nebeneinander, bei Familien, Gruppen und Verbänden handelt es sich um ein Mit- oder Zueinander. Das hat der Sozialpsychologe Peter R. Hofstätter vor Jahrzehnten recht genau untersucht (in "Gruppendynamik" 1957, 20-42).

Heute laufen wir Gefahr, dass auch die Nation wieder zum blossen Nebeneinander wird, also zu einer Art vergrösserten Seilbahnkabine. Alle wollen bloss an die Sonne.

 

Innige Gemeinschaft, rationale Gesellschaft

 

Quer zu dieser Unterscheidung von Neben- und Miteinander steht eine, die der Soziologe Ferdinand Tönnies vor 100 Jahren herausgearbeitet hat: "Gemeinschaft und Gesellschaft" (1887). Diese Unterscheidung liegt auch heute noch den Gefühlen des „gewöhnlichen“ Menschen nahe. Die zünftigen Soziologen lachen darüber. Zu Unrecht.

 

  • Die "Gemeinschaft" (z. B. Familie, Nachbarschaft, Freundschaft) wird von gefühlsmässigen, innigen sozialen Beziehungen gekennzeichnet und resultiert aus dem "Wesenswillen" der jeweils Beteiligten.
  • Die "Gesellschaft" hingegen (z. B. AG, Politik, Grossstadt) wird von individuellen Interessen und lockeren Sozialbeziehungen geprägt. Sie dient der Erreichung bestimmter Zwecke und resultiert aus dem „Kürwillen“, in dem rationales Zweck-Mittel-Denken des Einzelmenschen zum Ausdruck kommt. (Hartfiel, Hillmann: Wörterbuch der Soziologie. 1982, 766).

 

Man kann die Gemeinschaft auch als organisch gewachsen bezeichnen, die Gesellschaft als konstruierte, mechanische Zweckgemeinschaft (z. B. Durkheim). Vor hundert Jahren meinte Tönnies, das Zeitalter der Gemeinschaft sei von jenem der Gesellschaft abgelöst worden, in welchem Pluralismus und Interessenkämpfe dominieren.

 

Das war damals und ist auch heute nur halb richtig, denn Gemeinschaften, als stark von Gefühlen bestimmte Zusammenschlüsse gab und gibt es immer noch. Was aber verloren gegangen ist, das ist das Bewusstsein, dass der Mensch beides braucht und in beiden lebt, in Gemeinschaften und in Gesellschaften.

 

Wir brauchen heute, wie immer, Gesellschaften, welche als eine Art Dach die Gemeinschaften zusammenhalten und deren Leben und Wirken überhaupt ermöglichen. Wir brauchen so etwas wie betriebliche und staatliche Ordnungen, mit Gesetzen und Verordnungen, Leitbildern und Reglementen, damit das Zusammenleben aller funktioniert. Sonst haben wir einen Kampf von Grüppchen gegen Grüppchen, bei dem am Schluss der Stärkere oder Schlauere oder Gesündere überlebt.

 

Wir brauchen Ordnungen, welche auch Minderheiten und abweichenden Meinungen ein Lebensrecht gewähren.

 

Wir brauchen künstlich geschaffene Ordnungen, welche versuchen Gerechtigkeit, Persönlichkeitsentfaltung und friedliches Zusammenleben zu ermöglichen.

 

Mehr bewusst sein, was wir und die andern wollen

 

Ich komme zum Schluss.

 

Welchen Kult wir auch mit dem Individuum treiben, ob nackten Egoismus oder kritisches Selbstbewusstsein, jeder Mensch gehört zu Gemeinschaften und steht in Gesellschaften. Durch sein Verhalten gestaltet er diese mit, und zwar ziemlich gleichstark, wie jeder andere da auch tut, und unabhängig davon, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht.

 

Genau dies aber ist der entscheidende Punkt. Wir sollten uns mehr bewusst sein, was wir wollen und tun, wir sollten uns mehr bewusst sein, was andere tun möchten und wir sollten uns mehr bewusst sein, was für eine Funktion die gefühlsmässigen wie die rationalen Ordnungen für das Zusammenleben von Menschen haben.

 

Aus dem Nachdenken über das uralte Thema "Individuum und Gemeinschaft" gewinnen wir Kraft, uns mit gesundem Selbstbewusstsein einzuordnen, weil wir den Sinn sehen. Mit unserer Kreativität, und sei sie noch so bescheiden, können wir mitwirken an Gemeinschaften und mitbauen an den Ordnungen der Gesellschaft.

 



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