Home Kommen wir nicht über die "zwei Kulturen" hinaus?

 

Helmut Kreuzer (Herausgeber): Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz - Dialog über die "zwei Kulturen". Klett-Verlag, Stuttgart 1969; als dtv-Taschenbuch 1969; 2. Aufl. 1987.

 

Der Romancier Sir Charles P. Snow vertrat vor zehn Jahren [1959] in seinem Cambridger-Vortrag "The Two Cultures and the Scientific Revolution" die These, in der westlichen Industriegesellschaft bestünde eine tiefe Kluft des Nichtverstehens zwischen "überkommener", eher unsozial eingestellter literarisch-geisteswissenschaftlicher und zukunftsträchtiger naturwissenschaftlich-technischer Intelligenz oder "Kultur".

Snow bemerkte, dass angesichts der industriellen Revolution, welche "die einzige Hoffnung der armen Leute" ist, die Literaten als "geborene Maschinenstürmer" in heftige Ablehnung der Technik verfielen. Dabei muss diese naturwissenschaftliche Revolution doch bewältigt und weltweit - auch in den Entwicklungsländern - durchgeführt werden.

 

Heftige Kontroversen entspannen sich sofort um diese etwas schiefe Problemstellung. Der vorliegende Sammelband vereinigt achtzehn Beiträge.

Frank R. Leavis befindet mit köstlichem britischem Humor: Snow „weiss nicht, was er meint, und weiss nicht, dass er's nicht weiss." Weiter spricht er von Snows "intellektueller Nullität", seinem Nichtvorhandensein als Romancier, usw.

 

Seltsamerweise werden vor allem in den angelsächsischen Beiträgen Standpunkte, Meinungen und persönliche Erlebnisse samt Angriffen vorgebracht, die eine eigentliche und sachliche Behandlung des Problems weitgehend vermissen lassen. Ausnahmen - in Ansätzen - bilden J. R. Oppenheimer und A. Huxley sowie der Herausgeber dieser Sammlung, Helmut Kreuzer, und der Strahlenbiologe H. Glubrecht.

 

Der Informationstheoretiker K. Steinbuch befasst sich enragiert mit der Situation in Deutschland, wo der naturwissenschaftlichen Bildung die notwendige Beachtung bisher nicht zuteil wurde. Der Biologe Hans Mohr haut in dieselbe Kerbe und spricht in neopositivistischer Weise von der "ungeheuren Komplexheit des Systems Mensch". Max Borns Ansicht ist bekannt: "Obwohl ich die Naturwissenschaft liebe, habe ich das Gefühl, dass sie so sehr gegen die geschichtliche Entwicklung und Tradition ist, dass sie durch unsere Zivilisation nicht absorbiert werden kann."

 

Interessant ist die Ansicht des Historikers A. Nitschke: "Die Dichter spiegeln eine Art des Sehens, die den Physikern ermöglichte, ihre Experimente zu erläutern." Das heisst, dass die Dichtung die neuen Zeitsituationen und Denkmöglichkeiten vor der Naturwissenschaft erfasst oder zumindest spürt. (Diese Auffassung erläuterte früher Jean Gebser ausführlich.)

G. Ch. Amstutz gibt dem ganzen "Zweiheitsproblem" die historische Dimension, indem er auf den Mythos der Teilung in "Exo und Endo“ zurückgreift.

Mit der "literarischen Bildung", dem Bücherwissen, beschäftigt sich H. P. Bahrdt in historisch-soziologischer Annäherung, und J. Habermas schliesslich erweitert das Problem scharfsichtig daraufhin, "wie eine Übersetzung des technisch verwertbaren Wissens in das praktische Bewusstsein einer sozialen Lebenswelt möglich ist". Das weist auf die enorme Komplikation und Verflechtung von Theorie und Praxis, Wissenschaft und Politik, Technik und Forschung, "aufgeklärtem Wollen und selbstbewusstem Können" hin.

 

A. Buchholz rundet mit dem Hinweis auf den Frieden und "die existentielle Tiefendimension der Zukunft" sehr schön ab.

 

Zu bedauern ist, dass diese Aufsatzsammlung kein "Dialog" ist, sondern eine nicht sehr ergiebige Aneinanderreihung von meist nur antippenden Bemerkungen, die immer dann abbrechen, wenn die Sache ernst und drängend kritisch wird.

 

Erscheinen in den Basler Nachrichten, 3. Dezember 1969

 



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