HomeWas wollte Ludwig Klages?

 

(Zum 100. Geburtstag)

 

"Es lebten in ihm fast unverbunden zwei Naturen: die seelisch-rauschhafte, in magischem, mythischem und dichterischem Denken webend, und die dem dialektischen, mathematischen und physikalischen Denken zugeneigte geistige.

Seltsamerweise schon zu Beginn des 18. Lebensjahres stellte er fest: die geistige bilde ein furchtbares Hindernis der seelischen und es sei seine Aufgabe, die Formel zu finden, durch die sie für immer entmächtigt werde ... Für jetzt aber sagte er sich: um mein Ziel zu erreichen, muss ich nicht nur aus Büchern, sondern im Laboratorium aufs genaueste mit den seelefeindlichen Mächten vertraut werden; ich muss den Feind kennen, um ihn zu schlagen mit seinen eigenen Waffen; ich muss erproben, durch welche Art analytischen Denkens man zu der Behauptung gelangt ist, dass die Welt aus Atomen bestehe; folglich wähle ich auch aus inneren Gründen Chemie."

 

Leben

 

So begründete in einem Lebensrückblick der Philosoph und Psychologe Ludwig Klages - am 10. Dezember 1872 in Hannover geboren, am 29. Juli 1956 in Kilchberg am Zürichsee gestorben - seinen für manche erstaunlichen Entschluss, Chemie und Physik zu studieren. Freilich war er gar kein Praktiker, weshalb es nicht verwundert, dass er mehr dem Theoretisieren und Bücherstudium oblag und während seiner Münchner Studentenjahre (1893-1900) immer mehr zur Psychologie (bei Theodor Lipps) und Philosophie (bei Graf Georg von Hertling, dem späteren Reichskanzler) neigte. Dennoch promovierte er mit einer langwierigen Experimentalarbeit über die Synthese des Menthons bei Adolf von Baeyer.

 

Unterdessen hatte er aber einerseits bereits 1896 zusammen mit Hans H. Busse und Georg Meyer die "Deutsche Graphologische Gesellschaft" gegründet und Hunderte von Gutachten abgefasst, anderseits in Stefan Georges "Blättern für die Kunst" Beiträge geschrieben und mit Alfred Schuler und Karl Wolfskehl die legendenumwitterte "Kosmische Runde" begründet. Fast alle vor der Jahrhundertwende geschlossenen Freundschaften zerfielen aber bald nachher; sie fielen der Konzentration auf das Werk zum Opfer. 1904 kam es zum Bruch mit Stefan George und Friedrich Huch, einem Cousin Ricardas. Klages gab auch das Dichten ganz auf, um sich nur noch der Forschung zu widmen, nicht der naturwissenschaftlichen freilich, sondern der naturphilosophischen und seelenkundlichen.

 

Werk

 

Klages wurde nicht nur als Begründer

  • der wissenschaftlichen Graphologie ("Die Probleme der Graphologie",1910; ergänzt durch "Handschrift und Charakter,1917; 26. Auflage 1968),

  • der Charakterkunde ("Prinzipien der Charakterologie",1910; erweitert als "Die Grundlagen der Charakterkunde",1926; 14. Auflage 1969)

  • und Ausdruckslehre ("Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft",1913; völlig umgearbeitet als "Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck",1935; 9. Auflage 1970) bekannt,

  • sondern ebenso sehr als umstrittener Metaphysiker.

 

Zwanzig Jahre nach dem Buch "Stefan George" (1901) - worin Klages aber mehr seine eigene Weltanschauung skizzierte - erschien "Vom Kosmogonischen Eros", in dem, so Hermann Hesse, "auf einigen Seiten fast Unaussprechliches zu Wort geworden" ist. Nochmals zehn Jahre später war dann endlich das vierbändige philosophische Hauptwerk "Der Geist als Widersacher der Seele" (1929/32) abgeschlossen, von dem der Bonner Philosophieprofessor Erich Rothacker noch 1954 sagte: "Neben Heideggers 'Sein und Zeit' und Nicolai Hartmanns 'Grundlegung der Ontologie' ist es die bedeutendste Leistung der Gegenwart."

 

Klages gehörte nicht zum "George-Kreis"

 

Sowohl in der Psychologie als auch in der Philosophie kam Klages' Doppelbegabung zum Tragen. Bekanntlich baut sein ganzes Werk - die umfassende Bibliographie von Hans Kasdorff verzeichnet 200 Titel - auf der präzisen Unterscheidung von Seele und Geist, von Lebensvorgängen und dem Bewusstsein davon, auf.

Diese systembildende Zweiheit hat ihre Wurzeln in der Jugendzeit - eindrücklich vorgeführt vom Verwalter des umfangreichen Klages-Archivs im Schiller-Nationalmuseum zu Marbach am Neckar, Hans Eggert Schröder, in der "Geschichte seines Lebens" (Teil I, 1966, Teil II,1972) -, in welcher er eine enge Freundschaft mit Theodor Lessing pflegte, die sich allerdings später zerschlug.

Mit Stefan George hingegen verband Klages nicht allzuviel; dessen poetische Leistungen beeindruckten ihn keineswegs; er schätzte ihn einzig als klugen Berater; umgekehrt aber brachte George Klages die höchste Bewunderung entgegen. Klages ist also weder dem "George-Kreis" zuzuzählen noch massgeblich davon beeinflusst worden. Die prägenden Einflüsse rühren vielmehr vom Stabreimdichter Wilhelm Jordan und dem Basler Mutterrechtsforscher Johann Jacob Bachofen, später von den Naturphilosophen der Romantik und den Vorsokratikern sowie Goethe, Nietzsche und dem Physiker Melchior Palágyi her.

Sinnigerweise wurde Klages denn auch 1923 der Nietzsche-Preis und 1932 die Goethe-Medaille verliehen. Damals wohnte er freilich schon in Kilchberg, wohin er während des Ersten Weltkriegs übersiedelt war und wo er das 1905 in München gegründete "Seminar für Ausdruckskunde" wieder eröffnete.

 

"Leben" und "Geist" sind wesensgegensätzliche Mächte

 

Basis der Anthropologie von Klages ist, das muss betont und präzisiert werden, nicht der irreführende "kartesische Scheingegensatz von Geist und Körper oder auch Geist und Materie", sondern "die Einsicht, Leben und Geist seien zwei völlig ursprüngliche und wesensgegensätzliche Mächte, weder aufeinander noch auf ein Drittes zurückführbar". Insofern nun das Leben sich in der Polarität von Leib und Seele darstellt, können wir von der "Dreifaltigkeit des geschichtlichen Menschheitscharakters", nämlich der "Annahme einer dreifachen Substanz des Menschen, des soma (Leib, der psyche (Seele) und des nous (Geist, auch Pneuma oder logos zu nennen)" sprechen.

Diese nach Klages vielleicht grösste Entdeckung der alten Griechen blühte "in den tiefsinnigen Gedankenträumen der Romantiker" nochmals auf, "um dann völlig dem Rechenverstand zu erliegen in den Schulpsychologien aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts". Weder die grössten Griechen noch die tiefsten Romantiker vermochten jedoch des Irrtums Herr zu werden, "dass zur Dreiheit das Leben erst sich vollende durch das 'höhere' Prinzip des Geistes, dessen Einflüsse aufzunehmen und dem Leibe mitzuteilen die Bestimmun der Seele sei". Denn: Der Geist ist für Klages weder heilig noch schöpferisch, sondern "ein Störer und Befehder des Lebens".

 

Dies ist die einzigartige Position von Klages: Einerseits die unverwechselbare Unterscheidung (nicht aber Trennung) von Leben und Geist und anderseits die Widersachernatur des letzteren. Der Geist ist - wie bei Aristoteles und Schopenhauer - von aussen her, als Fremdling ins Leben eingebrochen, mit dem Bestreben "den Leib zu entseelen, die Seele zu entleiben und dergestalt endlich alles ihm irgend erreichbare Leben zu ertöten".

Das lässt sich im Lauf der Menschheitsgeschichte zwingend nachweisen, und Klages hat es nicht verabsäumt, ein reiches kulturhistorisches und ethnologisches Belegmaterial hiefür zusammenzutragen. Seine Theorie stellt überdies eine äusserst einleuchtende Begründung für die gegenwärtig in aller Munde zerredete Umweltkrise, d. h. die Verschandelung, Ausbeutung und Vergiftung der Natur dar. Seit seinem Appell "Mensch und Erde" am Vorabend des Ersten Weltkriegs zum Fest der Freideutschen Jugend ist er nicht müde geworden, die Folgen der sich zur absoluten Willkür aufschwingenden Selbstherrlichkeit des messenden und rechnenden, also rein analytischen Geistes auszumalen.

 

Der "Geist" muss in der Dienstbarkeit des "Lebens" stehen

 

Dabei versteht es Klages durchaus zu differenzieren. Obzwar er den Geist als die "Tat an sich" (den scholastischen actus purus), damit als schlechthin verneinend und deshalb als das schlechthin Böse betrachtet, das es eigentlich abzuschaffen gälte, anerkennt er dessen positive Funktionen, sofern er sich in der Dienstbarkeit des Lebens, der "Wirklichkeit der Bilder" bewegt.

Da der Mensch nun einmal über den Geist verfügt, muss er ihn sinnvoll betätigen, und das heisst, ihn vom Leben als höchstem Wert leiten lassen. Und diese Lebensabhängigkeit ist die Sachlichkeit des Denkens. Der aus den Tiefen der Seele gespiesene Wille zur Wahrheit, zum Werk und zur Vollkommenheit ist das einzige, was der Mensch im Guten zu leisten vermag. Das führt zu tiefen Einsichten, nicht zu bloss lernbaren Kenntnissen, zu vollendeten Gebilden, die mit einer Minute lauteren Glücks beschenken, nicht zu Taten, die nur der Profit- und Machtsteigerung dienen wollen.

Der menschliche Charakter ist da am reichsten erfüllt vom Leben, wenn seine Strebungsrichtung auf Hingabe an das Leben geht. Solche Selbsthingabe verwirklicht sich unter Leitung der Seele und des von ihr genährten Wesenwillens.

 

Das bedeutet nun keineswegs einen triebhaften Irrationalismus, noch rauschhaft-mystische Versenkung, sondern "leidenschaftliche Liebe des Lebens", Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Naturwirklichkeit, Einklang mit den kosmisch pulsenden Mächten, die seit Aeonen das Geschehen der Welt wirken und weben.

Wir können das heute besser als vor vierzig oder sechzig Jahren nachvollziehen, ist doch die Entfremdung der bald "nachindustriellen" Gesellschaft von den "Ursprüngen", dem "Ewigen" und "Unendlichen" manifest geworden.

 

Wenn Klages den Intellekt als "streng sachlich urteilendes Besinnungsvermögen schätzt", kann man ihn auch nicht als Anti-Intellektualisten bezeichnen. Den Schlüssel zum Wesen des Geistes sieht er nämlich gar nicht im Intellekt, sondern im Willen. Dieser ist, wenn er sich in selbstherrlicher Manier vom Leben ablöst und mit zweckhaften Taten die Welt zu beherrschen unternimmt, der eigentliche Widersacher des Lebens.

 

Parallelen bei Moritz Schlick

 

Klages gilt als einsamer Aussenseiter. Daher ist es erstaunlich, dass ausgerechnet beim Begründer des "Wiener Kreises", dem Neopositivisten Moritz Schlick (1882-1936) kürzlich eine grosse Anzahl von Parallelen gefunden werden konnten. Diese bislang übersehene Verwandtschaft reicht von der Unterscheidung zwischen Erlebnis und Bewusstsein bis zum "hinweisenden Denken".

Wer würde es dem Logiker und Erkenntnistheoretiker Schlick zutrauen, dass er den "Sinn des Lebens" im Jungsein bis zum Tod sieht und deshalb die Herrschaft, ja das Joch der Zwecke und die zunehmende Schrankenbildung um die junge Seele beklagt und demgegenüber Begeisterung (Eros) und Hingabe, die Stärke und Tiefe des Fühlens preist, vom Rhythmus und der ganzen Fülle des Lebens, vom Gestalten eines Werks und der Vollendung im schöpferischen Spiel spricht?

Schlick, der in Physik promoviert hatte, prägte selbst den Ausdruck: "Wir sind alle verhinderte Dichter." Klages aber ist es gelungen, als "Angelobter des Lebens" Poesie und Logik zu vereinen. Ein Ereignis der Geistesgeschichte, das bis heute noch nicht genügend gewürdigt wurde.

 

 

geschrieben im März 1972;

erschienen in Tages-Anzeiger, 22.9.1972; Kultur + Leben 12/1972; Furche 9.12. 1972; Bund 10.12. 1972

 




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