Home Ludwig Klages als Wissenschafter

 

Eine Skizze, im Herbst 1972 verfasst

 

 

Was zeigen die Titel der Publikationen?

 

Wenn wir fragen, wohin Klages’ Forschungen führten und wir uns an den gut 230 Titeln von Abhandlungen, Vorträgen und Büchern (vgl. H. Kasdorff, 1969, 346-404) orientieren, kommt für unser Problem nicht allzuviel heraus, finden wir doch nur die Bezeichnungen:

  • Seelenlehre (1895), Psychologie (1900ff), Seelenkunde (1925ff), Seelenforschung (1928ff)
  • Graphologie (1896ff), Theorie den Schreibdrucks (1902,1903), wissenschaftliche Graphologie (ca. 1912), Psychologie der Handschrift (1924,1937)
  • Charakterologie (1897ff), Charakterkunde (1911ff)
  • Menschenkunde (1899), Persönlichkeitslehre (1932)
  • Metaphysik des Heidentums (1903 resp. 1944)
  • Psychodiagnostik (1908, 1910, 1913)
  • Theorie und Symptomatologie des Willens (1913)
  • Lehre vom Temperament (1913)
  • Physiognomik (ca. 1913, 1948), Wissenschaft vom Ausdruck (1921,1935, 1936), Ausdruckslehre (1927), Ausdruckskunde (1930,1931)
  • Lebenswissenschaft (1921).

 

Wir haben zufolge dieser Titel also mehrere Logien, Kunden, Lehren und Theorien, aber nur dreimal den Begriff Wissenschaft (in einem Vortrag über die Leistung der Graphologie, als Untertitel zum Buch "Vom Wesen des Bewusstseins - aus einer lebenswissenschaftlichen Vorlesung" und als Buchtitel - zuerst Untertitel - des Standard.. Werks der Ausdruckswissenschaft); Metaphysik kommt nur einmal vor (erste Publikation im Nachlass 1944) und Philosophie überhaupt nicht.

 

Beim Lesen dieser Aufsätze und Bücher ändert sich das Bild freilich schlagartig.

 

Kaum Metaphysik und Philosophie

 

Von der „Metaphysik der Persönlichkeit“ – wohl in Anknüpfung an das Kapitel in den „Prinzipien der Charakterologie“ (1910): „Metaphysik der Persönlichkeitsunterschiede“ – spricht Klages in den „Grundlagen der Charakterkunde“ (1926, 133, 164; ferner W. 965), von derjenigen des Geistes und des Lebens daselbst (146).

 

Im Vorwort zu den „Psychologischen Errungenschaften Nietzsches“ (1926) spricht er von seiner „eigenen Philosophie“, in dies dieses Buch da und dort ein beträchtliches Wegstück hineinführe.

 

Graphologie als Wissenschaft

 

Bereits im frühesten Versuch von Klages, eine Methodik der Graphologie zu entwickeln ("Graphologische Methoden", 1898, SW VIII, 7-38), bezeichnet er die Graphologie als Wissenschaft - 1900 präzisiert als noch nicht fertige (a. a. O. 58) - und legt seinen Betrachtungen über die "Beweiskraft der Methoden einer besonderen Wissenschaft" die Theorie des "englischen Denkers" J. St. Mill zugrunde. Dieser gemäss "ist das natürliche Ziel jeder Wissenschaft die Erfassung der ursächlichen Zusammenhänge" (a. a. O. 7).

Seinen "gemeinverständlichen Abriss der graphologischen Technik", nämlich "Handschrift und Charakter" bezeichnet er bereits im Vorwort zur 1. Auflage (1917) als "technischen Lehrgang auf wissenschaftlicher Grundlage", als Darstellung "eines Untersuchungsverfahrens, welches gestützt auf die Wissenschaft von den Entstehungsgründen der persönlichen Schreibbewegung aus jeder beliebigen Handschrift zu ermitteln erlaubt, was darin vom Charakter ihres Urhebers zur Erscheinung kam".

 

Die Wissenschaft vom Ausdruck

 

Im ersten Aufsatz zur Ausdruckswissenschaft ("Prinzipielles bei Lavater", 1911, SW VI, 3-12) spricht er bereits von der Möglichkeit "einer wissenschaftlichen Physiognomik" (a. a. O. 4) oder "physiognomischen Wissenschaft" (a. a. O. 5, 9). Lavater, der selbst schon von Wissenschaft sprach, habe jedoch nur "Material für eine wissenschaftliche Bearbeitung geliefert [vgl. demgegenüber a. a. O. 3]; denn, um selbst Wissenschaft zu geben, dazu hätte es einer kritischer verfahrenden Seelenkunde bedurft, als die populär-philosophische war, über die er allein verfügte" (a. a. O. 12).

Immerhin spricht Klages in "Die Ausdrucksbewegung und ihre diagnostische Verwertung" (1913, SW VI, 57-137) nur zwei Mal von der "Wissenschaft vom Ausdruck" (a. a. O. 129, 135) und setzte erst bei der zweiten Auflage davon (1921) als Untertitel "Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck". (Diese zweite Auflage bezeichnet er in der "Einführung in die Psychologie der Handschrift" (1924, 102) als "streng theoretische Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck überhaupt".) Hier kommt dann der Satz vor: 'Es gibt, soviel wir wissen, noch keine Untersuchung über den Ausdruck, die nicht aufgebaut wäre auf falscher Metaphysik" (a. a. O. 163).

 

Im Aufsatz über die "Graphologischen Methoden" finden wir die Sätze:

"Von zwei Seiten wird deshalb die Verbesserung unserer Menschenkunde in Angriff zu nehmen sein, ehe der systematische Aufbau einer Wissenschaft vom Charakter beginnen kann. Mit der Kritik der volkstümlichen Eigenschaftsbegriffe muss Hand in Hand gehen die Ausbildung der Physiognomik. Die Graphologie aber ist ein Teil der Physiognomik" (a. a. O. 24).

Deshalb konnte er auch im einführenden Vorwort zu den "Problemen der Graphologie" (191o) diese als den "in unserem Sinne bisher einzigen Versuch einer Fundamentierung der Wissenschaft vom Ausdruck überhaupt, als dessen zurzeit für die Forschung freilich wichtigste Zone wir die Tätigkeit des Schreibens erachten") bezeichnen.

 

Die Wissenschaft vom Charakter

 

Im vierzeiligen Vorwort bezeichnete Klages die "Prinzipien der Charakterologie" (1910) als skizzenhaften "Entwurf eines vollständigen Systems der Charakterkunde", im etwas längeren Vorwort zur zweiten, unveränderten Auflage (1919) als "Einleitung in die Wissenschaft vom Charakter". In diesem Buch befasst er sich mit der "wissenschaftlichen Daseinsberechtigung der Charakterkunde" (3) und weist auf das Verhältnis der Fremdheit "zwischen psychologischer Wissenschaft und der seelenkundigen Weisheit aller Zeiten und Völker" (4) hin, das er eingehend untersucht.

 

Die Definition, dass Charakterkunde die sich mit dem individuellen Selbst befassende Wissenschaft sei (19) findet sich unverändert in den „Grundlagen der Charakterkunde“ von 1948 (3), wo dann mehrfach präzisiert wird, dass die "Wissenschaft vom Charakter" (208f) auf der abstrahierenden Selbstbesinnung (9, 21) beruhe.

Erwähnen wir noch die Kennzeichnung dieser „Grundlagen“ im Quellenanhang zu "Handschrift und Charakter" (256):

"Das Buch war nicht nur die erste, sondern ist auch die bisher einzige wissenschaftliche Grundlegung einer systematischen und vollständigen Charakterkunde ... und bildet insofern das Fundament der ganzen Ausdruckswissenschaft".

Im einführenden Vorwort zur "Graphologie" (1932) erwähnt Klages, dass diese „Grundlagen“ über den Aufbau der "Wissenschaft von den Persönlichkeiten" berichte.

 

Das "Systematische" seiner Charakterkunde betont er auch in der Einleitung seines Nietzschebuches, wo ebenfalls von der "Wissenschaft von der Persönlichkeit und den Spielarten der persönlichen Charaktere" die Rede ist (N 1; ähnl. 4).

 

Im Vorwort zur "Einführung in die Psychologie der Handschrift" (1924) spricht er immer noch von den "vielerorts mächtig empordrängenden Keimen und Schössen einer Wissenschaft von den Charakteren". Schliesslich bezeichnet er in einer Fussnote zu Beginn des 13. Kapitels der "Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck" die 1927 im Sammelband "Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde" zusammengestellten 21 Aufsätze aus der Zeit seit 1897 als „wissenschaftliche Einzelarbeiten“.

 

Energisches Bemühen um Wissenschaftlichkeit

 

Wir brauchten nach diesen wenigen, leicht vermehrbaren Angaben, nicht mehr zu erwähnen, dass Klages später neben der

Lebenswissenschaft (vgl. HCh, 147; GCh, 36, 206; WR 71ff, 91) auch von

Bewusstseinswissenschaft (z .B. GCh 32, 51, 128, 144),

Erscheinungswissenschaft,

Wesenswissenschaft und

Wirklichkeitswissenschaft spricht, um die eindeutige Absicht des Autors festzuhalten, in all seinen Werken Wissenschaftlichkeit wenn nicht erreicht, so doch sich darum energisch bemüht zu haben. Da fällt kein einziges Mal das Wort, Dichtung, Mythos oder Religion, sondern bestenfalls Lehre (oder gleichsinnig Kunde) und - biozentrische Geisteshaltung oder Weltanschauung.

 

In den „Grundlagen der Charakterkunde“ (1926, 81) zählt Klages seine Schriften zu den geisteswissenschaftlichen. Im Sammelband „Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde“ (1927, 3) rühmt er sich, zwei Wissenschaften geschaffen zu haben:

- vom Ausdruck des Seelenlebens

- von den Charakteren.

Ähnlich, aber poetischer äussert er sich im „Vorwort für die Zeitgenossen“ des „Widersachers“ (1929, VIIf):

„Stets mit der Leuchte der neuen Einsicht in Händen entwarf ich die Umrisslinien der Kontinente zweier Wissenschaften, die freilich zuletzt – vergleichbar Europa und Asien - nur ein einziges Festland des Geistes bilden, der Charakterkunde und Ausdruckslehre, hie und da auch schon die Flussläufe und Gebirgszüge einzeichnend.“

 

Freilich ist die Sache nicht so einfach, weshalb es nicht verwundert, wenn einerseits unter den Mitgliedern der "Klages-Gesellschaften'' die Meinungen darüber auseinander gehen, ob man das Werk von Klages rein wissenschaftlich betrachten und analysieren, oder ob man es als Kunstwerk, Fundament einer neuen Weltanschauung oder gar Religiosität ansehen solle und dürfe, genauso wenn anderseits von der publizistischen Gegnerschaft Klages als Irrationalist, Metaphysiker, Antisoph, Geistfeind, Naturmystiker und ressentimentgeladener Okkultist abgestempelt wird, was dann Grund gibt, ihn als "unmittelbaren Vorläufer der 'nationalsozialistischen Weltanschauung’" (Georg Lukács) in die Verliesse der unbequemen Aussenseiter zu verbannen.

 

Die wissenschaftliche Aufgabenstellung der Klages-Gesellschaft

 

Hierzu ein paar Sätze des Verwalters des Klages-Archivs in Marbach, der als bester Kenner der Biographie wie des Werks von Klages gelten darf, hat er sich doch seit 1931 unermüdlich für Klages eingesetzt. 1970 wies er also in einem Vortrag "Die Klages-Gesellschaft und das europäische Naturschutzjahr" („Hestia 1970/71", 1972, 7-21) mehrfach darauf hin, dass Marbach ein Zentrum der wissenschaftlichen Forschung und Tagungen sei, und er legt ein "ausdrückliches Bekenntnis zur wissenschaftlichen Aufgabenstellung der Klages-Gesellschaft" ab.

"Alles was wir hier für das Werk von Klages tun, kann wissenschaftlich gar nicht gründlich genug fundiert sein. Marbach ist keine Pseudokultstätte zur Personenverherrlichung ...; die Klages-Gesellschaft ist eine wissenschaftliche Gesellschaft oder sie hat überhaupt keine Aufgabe" (a. a. O.12).

In der Folge nennt er Klages’ Werk selbst ein wissenschaftliches und stellt fest, dass die Wissenschaft freilich noch nicht begonnen habe, sich ihr Klages-Bild zu erarbeiten. Wohl seien seine Befunde auf den Gebieten der Charakterkunde, der Ausdruckswissenschaft und Graphologie zum grossen Teil in ihr rezipiert worden, jedoch nicht seine philosophischen Erkenntnisse.

 

 


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