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Jüdisch-christliche Motive bei Ludwig Klages

 

Zusammenstellung vom März 1972; im Mai 1972 an „Christ und Welt“ und „Neue Zürcher Zeitung“ geschickt; nicht erschienen

neu mit Untertiteln versehen

 

 

Mit Ludwig Klages ist vor 16 Jahren der letzte Vertreter der Lebensphilosophie verstorben, die allgemein mit Nietzsche und. Dilthey als Initiatoren und Henri Bergson, Graf Hermann von Keyserling und Oswald Spengler, aber auch Georg Simmel und Max Scheler als Hauptvertretern genannt wird. Diese sieben Namen kann man freilich auch mit Nihilismus und geisteswissenschaftlicher Psychologie, vitalistischem Intuitionismus, Salonphilosophie und Kulturmorphologie, Soziologie und Phänomenologie verbinden.

 

Die Philosophie ist ein Ganzes

 

Klassifizierungen sind immer Glückssache. Das zeigt, dass Abgrenzungen und Einordnungen nicht so ernst zu nehmen sind: Beziehungen lassen sich fast stets zum ganzen Kosmos der Philosophie knüpfen, was natürlich daran liegt, dass Einseitigkeiten nie für sich bestehen, der Gegenpole, dem Beiseitegeschobenen oder Ausgeklammerten nicht entraten können. Jeder Philosoph muss die "andere" Seite des dialektischen Wechselspiels von Real- und Ideengeschichte berücksichtigen - so schwer ihm das fallen mag oder so sehr er es abstreitet.

 

Schon die zahlreichen Verweise in philosophischen Wörterbüchern enthüllen, dass die Philosophie im letzten ein Ganzes ist, aus dem sich nicht ungestraft, ohne Schaden oder Rückschläge Teile herausbrechen lassen. Deshalb spricht man heute auch lieber von Aspekten und Perspektiven, je verschiedenen Ansichten des vielfältigen Einen und Gesamten, Nicht einmal der Dualist kann auf die Idee der Einheit, nicht einmal der Pessimist auf diejenige des Guten, nicht einmal der Atheist auf Gott verzichten - sei es auch nur, um seine Gegenposition abzustecken.

 

Gegen den Geist, für das Leben

 

Nun, Klages ist nicht nur als Begründer der wissenschaftlichen Graphologie, als Ausdrucksforscher und Charakterkundler bekannt geworden, sondern auch dadurch, dass er in bisher einmaliger Entschiedenheit und Schärfe gegen den Geist Stellung bezog. Man hat den Titel seines 1500seitigen Hauptwerks "Der Geist als Widersacher der Seele" oft irreführend und die wahren Absichten verstellend genannt. Dem ist keineswegs so. Diese prägnante Formel trifft genau das Zentrum seiner Auffassungen. Nicht umsonst hat er den provozierendem Titel bis zur Drucklegung der ersten Hälfte (1929) dieses über eineinhalb Jahrzehnte sich unter dem Arbeitstitel "Geist und Seele" hinziehenden philosophischen Monumentalwerks vom Umfang der Bibel geheimgehalten. Der Eklat gelang; nur war Ihm keine langdauernde Durchschlagskraft beschieden.

 

Klages kommt das Verdienst zu, die Gegenüberstellung von Geistigem und Beseelten auf eine bislang unüberbotene Spitze getrieben und beide Seiten mit einleuchtenden Argumenten je für sich und unvermischt dargestellt zu haben. In dieser Hinsicht ist er einer der ganz wenigen Philosophen, die "das Ganze" nicht aus den Augen verloren haben; bestenfalls seine Parteinahme für das Leben könnte man ihm ankreiden.

 

Dass Klages auch den engen Zusammenhang der beiden Seiten, der sowohl in einem Gegeneinander- wie Miteinanderwirken besteht, reich ausdifferenziert, ist klar. Das Problem selbst ist uralt und eines der Leitmotive, das die Geistesgeschichte unter den verschiedensten Formeln wie "Sein und Werden", "Natur und Kultur", "Leben und Technik" oder "Materie und Denken", "Realität - Idealität", "irrational - rational" bis heute in ständiger Bewegung gehalten hat.

Wie so manches lässt es sich auf die Vorsokratiker ebenso wie auf Aristoteles und Platon zurückverfolgen, und es lassen sich auch Bezüge zur indischen und chinesischen Religion und Philosophie herausarbeiten. Daher das grosse Interesse für Klages in Japan, das die zivilisatorische 'Entwicklung des technisierten Westens in einer gewaltigen Aufholjagd wettzumachen sucht und deshalb ebenfalls in seinem Selbstverständnis Irre zu werden beginnt.

 

Gegen die Ausbeutung der Natur und des Menschen

 

Damit gelangen wir zur Aktualität von Klagest Philosophie. Als erster bedeutender Philosoph hat er bereits 1913, für die Jahrhundertfeier der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meissner, seinen berühmt gewordenen Beitrag "Mensch und Erde" geschrieben, worin das Grundthema seines Lebenswerks, "das Verhältnis des Menschen zu. seiner menschlichen und aussermenschlichen Umwelt" (H. E. Schröder, 1956), in überaus einprägsamer Form seinen ersten Niederschlag fand. Wie prophetisch klingt die Feststellung: "Wir stehen im Zeitalter des Untergangs der Seele." Tatsächlich betrachten wir heute das Irrationale, Emotionelle, Rauschhafte und Ekstatische, aber auch Meditation und Versenkung mit äusserstem Argwohn, auch wenn es sich ab und zu machtvoll, im Guten wie im Bösen, Bahn bricht.

 

 

In flammenden Worten geisselte Klages die Ausbeutung der Natur und des Menschen durch Technik und Wirtschaft, durch die Vernichtung anstrebende Gewaltherrschaft von Maschine und Geschäft. Hellsichtig spricht er im "Widersacher" von den Wissenschaften, vorab den exakten des ersten Jahrhundertviertels aus, was dann in und nach dem Zweiten Weltkrieg im Gefolge deren Siegeszugs auch eingetreten ist. Dass erst 1968 die Unesco eine Konferenz zur Rettung der Biosphäre .einberufen und erst 1970 das Europäische Naturschutzjahr den Umweltschutzgedanken propagiert hat, stellt unseren verantwortlichen Geistesgrössen, Staats- und Wirtschaftslenkern nicht unbedingt ein gutes Zeugnis aus.

 

Jüdische und christliche Motive

 

Klages war weder dem Christentum noch dem Judentum freundlich gesinnt. Das mag daran liegen, dass er sowohl in seinem Rigorismus als auch in seiner Übernahme der hebräischen Leib-Seele-Geist-Dreieinheit mehr jüdisches und christliches Gedankengut verfochten hat, als ihm lieb sein konnte. Sowohl die "Austreibung aus dem Paradies" ("Die Grundlagen der Charakterkunde", 1928, 161), die Geisselung des Mammons, der Selbstsucht und der "Hybris des Geistes" wie die Abschaffung dieser unheilvollen Macht (vgl. z. B. Mark. 5, 8ff und 9, 38f) als auch die Gleichsetzung von Gott und Geist oder Wille sind eminent biblische Motive.

Klages weist schon in "Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft" (1913; 1968, 143) darauf hin, dass sich seine Fassung des Geistes als "positives Nichts" mit dem Geist- oder Gottesbegriff der negativen Theologie durchaus deckt.

 

Dass der Geist "von aussenher"' in die Menschheit eingebrochen sei, findet nicht nur bei Aristoteles und Schopenhauer, sondern auch bei Moses (4. Mos. 11, 25ff), Samuel (1. Sam. 16, 13) und Salomo (Spr. 1, 20f und 8, 1ff) in Gestalt des Heiligen Geistes resp. der Weisheit sowie im Neuen Testament als Lebensmacht (pneuma) "von oben her" - zusammen freilich mit dem Fleisch (sarx) als Todesmacht - eindrückliche Parallelen.

Weisen schon die Jesu-Worte vom Ausreissen und Abhauen der paarigen Organe (Augen, Hände, Füsse; Mat. 5, 29f und 18, 8f; Mark. 9, 43ff) auf die Gefahr der Zweiheitlichkeit hin - "Niemand kann zwei Herren dienen" (Mat. 6, 24; Luk. 16, 13) -, so bedeutet das die Ablehnung einer erzwungenen Synthese (W, 1356) und eine Suche nach dem Einen und Absoluten: bei Jesus ist dies das Heil und das Himmelreich, bei Klages das Leben in seiner ungebrochenen Fülle, in seinem ewigen Werden und Vergehen.

 

Dass die ganze christliche Philosophie auf der "systembildenden metaphysischen Trennung von Geist und Natur ... bei allerdings grundsätzlich verschiedener Bewertung" basiert, betont der Franziskaner H. Bendiek in seiner Dissertation über Klages (1935, 151).

Schliesslich ist auch die Individualität, das einzigartige, unwiederholbare "individuum ineffabile" (Augustin, Thomas von Aquin, Goethe, Leo Baeck), das überhaupt erst die Charakterkunde ermöglicht, eine Errungenschaft des Christentums, die heute noch, unter anderem ausgeprägt im Chassidismus, einmal betonter, einmal schwächer, weiterlebt.

Den Unsterblichkeitsgedanken jedoch lehnt Klages - hierin ähnlich Marx - als aus Selbstsucht hervorgegangene Glaubenslüge entschieden ab (vgl. "Vom Kosmogonischen Eros", 1922) . Der Wunsch nach einem persönlichen, angenehmen und fröhlichen Fortbestehen (die himmlische Seligkeit) bedeute eine Verdrängung des Leibes, Irrsinn des Zukunftsglaubens.

 

Wiederentdeckung der seelischen Schauung

 

Klages spricht, wohl in Anlehnung an Kant, den er des Nihilismus und der Irrlehre, ja der "schlimmsten Verblendung geistlichen Hochmuts" (W, 864) bezichtigt, von einer "kopernikanischen Umkehrung" (W, 174, 204), die er geleistet habe. Worin besteht sie? In der Wiederentdeckung des Schauens.

Gemeinhin sprechen wir von zwei Erkenntnisquellen oder -stämmen: Sinnlichkeit und Verstand, "durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden" (Ende der Einleitung zur KrV). Klages nun hat "der Sinnlichkeit mit dem wiederentdeckten Vermögen des Schauens vergessene Wunder ihres Könnens" (W, 204) zurückgegeben.

Ansätze zu dieser Auffassung von der Schaukraft der Seele finden sich bei den Romantikern, welche sie "Ursinn", "Zentralsinn" oder "Allsinn" nannten. Dies hat nichts zu tun mit dem "inneren Sinn" bei Augustin, der intellektuellen Anschauung (Aristoteles, Schelling), dem "unsinnlichen Sehen" Fichtes, der Imagination (Cusanus, Descartes) oder Intuition (schottische Common-sense-Schule, Leibniz, Schleiermacher, Croce), sondern viel eher mit dem "Imaginieren" bei Paracelsus, der Ahndung bei J. F. Fries oder der Einsfühlung bei Max Scheler.

Das Schauen liegt jedenfalls im Bereich des entoptischen Sehens durch das innere Auge bei Goethe, der das Schauen als "bewusstlose Webekraft des Lebens" fasste. Der Zürcher Philosoph Donald Brinkmann hat versucht, dies sogar auf das "apperzeptive Unbewusste" bei Kant zurückzuführen. Damit hätten wir also glücklich Kant und die Tiefenpsychologie wieder ins Spiel gebracht, und es verwundert deshalb nicht, dass bei C. G. Jung mit der "Intuition" als vierter "Funktion" ein der Schauung ähnlicher Sachverhalt angesprochen ist.

 

In der Schauung kommt die Gesamtwelt zur Erscheinung

 

Was leistet nun die seelische Schauung? Sie verknüpft die Pole Seele-Welt, gibt uns die unverstellte "Wirklichkeit der Bilder" und bedeutet damit die Teilhabe am All des Geschehens. Die "kopernikanische Umkehrung" liegt also in der Verneinung der Existenz einer unerkennbaren Welt, des "Dings an sich" (Kant). Der Mensch ist eins mit der Natur, geht auf in ihr, wie sie in ihm aufgeht. Ob man das nun Panvitalismus oder -psychismus, Hylozoismus oder Aktualismus zu nennen beliebt, tut wenig zur Sache.

 

Die Welt ist jedenfalls für Klages ein endlos fliessendes und pulsendes Geschehen, ein rhythmisches Ganzes, das überorganisch lebt. Und Leben ist Empfangen und Geben, Wirken und Erleiden, ein "Wechselgeschehen zwischen polar entgegengesetzten Ähnlichkeiten" (W, 1205). Das blosse Geschehen ist noch ungepolt, ist unentbundene Erscheinung. Erst durch das Ereignis der Paarung ("Gamos") des kosmischen Geschehens mit schauenden Seelen findet die "Entbindung" - vergleichbar möglicherweise Heideggers Entbergung, Lichtung oder Offenbarung - statt, und was dadurch zur Erscheinung kommt, ist die im Geschehen vorhandene Gesamtwelt oder unauszählbare Vielheit der Qualitäten und Bilder - wobei Bild (imago) das "Urbild" als auch das "Anschauungsbild" meint. Umrahmt von Nimbus und Aura Ist das Bild "völlig Erscheinung und völlig Geschehen in einem" (W, 844).

 

Die "Wirklichkeit der Bilder" in den Fängen des Willens

 

Aus diesem Grund bezeichnet Klages seine Forschungen als Erscheinungswissenschaft, die aber keinesfalls mit der Phänomenologie Husserlscher Prägung verwechselt werden darf, sondern sich mit der "Wirklichkeit der Bilder" befasst. Dieses zentrale Thema der Klagesschen Philosophie, das in detaillierten Untersuchungen Mythologie und Dichtung, Frühgeschichte und Ethnologie erhellt - man denke an das 'Weltbild des Pelasgertums" und der "Primitiven", an Magna-Mater-Kulte und Opfer, an Mythen wie Set-Osiris oder Odin-Loki aber auch an Flaubert und Böcklin -, wird nun seinerseits auspolarisiert durch die "Lehre vom Willen".

Die Analyse des Willens enthüllt nämlich die verhängnisvolle Wirksamkeit den Geistes. Der Schlüssel zum Wesen dieser unheimlichen Macht liegt - ähnlich wie bei Augustin und noch deutlicher bei Duns Scotus und Wilhelm von Ockham - im Willen, denn "man hat es bisher übersehen, dass zum nackten Wahrnehmungsakt: da ist etwas, ein voluntarisches Gegenstück vorliegt im nackten Willensakte: ich will etwas" (W, 528); ja, "im begeisteten Wesen ist die willensbereite Haltung ursprünglicher als die nur erfassende Haltung" (W, 560).

 

Des gilt allerdings nur für den Menschen der Gegenwart. In eindrücklichen kulturhistorischen Erörterungen hat Klages nämlich zu beweisen versucht, dass, nachdem der Geist einst ins Leben eingebrochen ist, mit dem Wachsen seiner Selbstherrlichkeit "die Sachlichkeit (= prometheische Phase) das Feld räumen muss, indem das Denken mehr und mehr in den Dienst des Willens tritt (= herakleische Phase); … ferner, dass der Wille, je mehr er sich freimacht, desto mehr mit absoluter Willkür zur Deckung gelangt und dass demgemäss endlich der Geist schlechthin als die Tat 'an sich', der Geist im Organismus des Menschen als konstitutionelles Tatzentrum bestimmt werden muss, womit alles dahinfällt, was … gegen die Auffassung vom Geist als dem Widersacher der Seele aus dem Gesichtspunkt vorgebracht wurde, es handle sich dabei um die Verwechslung eines Kampfes gegen ephemere Verstandeskulte mit metaphysischer Einsicht" (W, 1420).

 

Weil sich also das Denken aus der Lebensabhängigkeit - die immerhin noch sachlich urteilende Besinnung erlaubt - emanzipiert hat, ist es in den Herrschaftsbereich des Willens geraten, womit es sich mit diesem zur entfesselten Willkür steigert. Die Verflochtenheit des sinnbildernden (wesenmeinenden, symbolischen, biozentrischen) Denkens ist gesprengt. Das Erkennen verflüchtigt sich zunehmend in Berechnen und Rechnen und endet bald mit dem "Automatismus einer vom Geiste völlig durchgeregelten Körperlichkeit" (W, 67). Wer dächte da nicht an Fliessbandarbeit und Leistungssport?

 

Vertilgungswahnsinn und Bemächtigungswille des Menschen

 

Was vollbringt eine solche Menschheit für Taten? Sie vernichtet Pflanzen, Tiere und Naturvölker samt ihren Sprachen und Kulturen, verschandelt Landschaften und Siedlungen und beutet in ihrem "Vertilgungswahnsinn" Nahrungs-, Rohstoff- und Energiequellen aus. Sie betreibt eine gewalthafte Entlebendigung der Welt mit Hilfe der Technik als einem "ungemein geistvollen Werkzeug der Zerstörung", das "mit Giftgasen,. Elektrizität und. Sprengstoffen die Mittel bereit stellt, um auch Menschen in kürzester Frist millionenweis umzubringen, während es ihr niemals gelang, Leben zu erzeugen (W, 709).

 

Der Mensch hat noch nicht bemerkt, "dann mit den Gleissnereien der Machtverheissung der Satan selber zur Vollbringung von Taten ködert, deren letzter Erfolg die absolute Zerstörung ist. Sind die Marionetten verblendet aus Borniertheit, so sind es die Drahtzieher aus bösem Willen, ein charakterkundlich bedeutender, essentiell aber nicht grösserer Unterschied als der - zwischen Mittel und Zweck ... Je und je siegte initiatorische Willkür mit Hilfe fanatisierter Massen!" (W, 767 und 800).

Wahrlich eine harte Sprache, welcher der sonst wenig Interesse am sozialen Geschehen zeigende Klages ein Jahrzehnt vor dem Zweiten Weltkrieg sprach.

 

Ganz deutlich zeigt sich freilich hier, dass, trotz des "gallenbitteren" Titels "Der Geist als Widersacher der Seele", Klages den Geist nicht vollumfänglich verdammt. In geradezu paradoxer Verkennung hat das breitere Publikum gemeint, Klages bekämpfe den "Intellekt". Nichts könnte falscher sein, denn Klages achtet selbstverständlich den Intellekt als "streng sachlich urteilendes Besinnungsvermögen" (W, 1420), weil dieses noch auf das Leben angewiesen ist und daher auf es abstellt.

Was Klages jedoch angreift, ist der abzweckende Geist, d. h. der Geist, der den Menschen aus dem Lebensgrund gelöst hat. Und nur insofern dieser eigensüchtige, selbstherrliche und raffgierige Geist als Bemächtigungswille heute die vorherrschende Geistesform ist, lehnt Klages ihn ab, denn als solcher ist er lebensfeindlich, ein "Störer und Befehder den Lebens" (W, XII) . "Der geistige Bemächtigungswille ist Frevel am Leben, und darum trifft den Frevler der rächerische Rückschlag des Lebens", heisst es im Aufsatz "Warum bringt es Verderben, den Schleier des Isisbildes zu heben?" (1919).

 

Dem "Willen zur Macht" müssen wir also widerstehen - wiederum ein biblisches Motiv: Im Neuen Testament ist (trotz Mat. 5, 39) oft die Rede vom "Widerstand gegen das Böse" (z. B. Mat. 10, 16f; Luk.18, 3ff - bereits Jes. 1, 16f, Ps. 37, 37) und vom Austreiben der "Dämonen", der "bösen" (vgl. schon 1. Sam. 16, 13ff) oder unreinen Geister, welche den. Menschen krank machen, "Denn unser Ringkampf geht nicht wider Fleisch und Blut, sondern wider die Gewalten, wider die Mächte, wider die Beherrscher dieser Welt der Finsternis, wider die Geisterwesen der Bosheit in den himmlischen Regionen" (Eph. 6, 12).

 

Keine tiefgreifende Auseinadersetzung

 

Leider hat die Fachwelt, abgesehen von einigen Ärzten, Pädagogen, Psychologen, Theologen und Literaturwissenschaftern, Klages' Philosophie in fast sträflichem Ausmass zu beachten versäumt oder dann bestenfalls einige Glanzlichter herausgepflückt - freilich allzuoft ohne Nennung seines Namens. Was Klages schon im "Vorwort für die Zeitgenossen" des "Widersachers" schreiben musste, dass er nämlich "der am meisten ausgeplünderte Autor der Gegenwart" sei, gilt auch heute noch.

Die Zahl derer, die sein, zugegeben, äusserst mühsam durchzuarbeitendes Hauptwerk ganz gelesen haben, dürfte sich mit wenigen Händen darstellen lassen. Für einmal haben sich Polemik und Anklage nicht in einer tiefgreifenden Auseinandersetzung fruchtbar ausgezeugt - ob das bei Freud und Jung oder Heidegger, Jaspers und Marcuse der Fall war, bleibe. dahingestellt. Die Anwürfe etwa von Max Bense, Ernst Bloch oder Georg Lukács, Klages sei ein "philosophischer Don Quichotte und Antisoph" oder ein "kompletter Tarzan-Philosoph" und "Vorläufer der 'nationalsozialistischen Weltanschauung'" zeugen jedenfalls nicht von eingehender Lektüre.

 

Die Diskussion über das, was Klages wirklich sagte, indem auf seine Argumentationen in sachkundiger Weise eingetreten würde, steht auch 16 Jahre nach seinem Tod noch aus. Sie ist beileibe nicht überflüssig geworden, da wir heute Linguistik, Analytische Philosophie, Verhaltensforschung, Systemanalyse und Biochemie hätten, vielmehr haben diese Disziplinen die uralten Gräben wieder aufgerissen, sei es zwischen Ausdruck und Darstellung oder Bedeutung, zwischen Anlage und Milieu oder Genom und Gehirn, sei es zwischen Bio- und Noosphäre oder Libido und Destrudo.

 

Klages' Philosophie rührt an die Fundamente von Erkenntnistheorie wie Lebenspraxis, von Persönlichkeitsentfaltung wie Ethnosoziologie. Sein ebenso scharfsinniger wie engagierter Beitrag zur "geistigen Situation der Zeit", zur Not der Gegenwart verdient mehr Interesse denn je.

 

Es könnte eine "Umkehr" geben

 

Wir haben die "leidenschaftliche Liebe des Lebens" (W, 768), zur Erde, ihrem Muttertum und zu den "Elementen" wieder dringend nötig. Das fordert neuerdings auch Erich Fromm in seiner "Revolution der Hoffnung" (1971). "Wie es bestimmt keine Rückkehr gibt, so könnte es Umkehr geben" (W, 1424), tönt Klages vorsichtig an. Das wäre freilich ein Wunder, doch kein unmögliches, denn da das Leben keinen Kausalgesetzen gehorcht, könnte es dem Geist gegenüber erstarken. Dann träte der Geist und mit ihm die Technik wieder in die Dienstbarkeit des Lebens.

 

Auch die Idee der Umkehr ist alt. Martin Buber ("Der Weg des Menschen", 1960, 37) schreibt: "Die Umkehr steht bekanntlich im Mittelpunkt der jüdischen Auffassung vom Weg des Menschen." Auch Jesus forderte die Umkehr (Mat. 18, 3).

 

Eine Wegmarke auf diesem beschwerlichen Gang bildete die "lebengesättigte Kontemplation", die Besinnung zur "Vertiefung der Einsicht", die einerseits in der Unterlassung - wir würden heute sagen: in der Produktions- und Verbrauchsreduktion -, anderseits in der Sachlichkeit, dem Willen zur Wahrheit und drittens in der Vollendung des Werks gipfelte. "Jedes vollendet Geleistete beschenkt mit einer Minute des Glücks ... Im Wiederscheinen aber des geringsten Gewebes von eigener Hand erblühen und glühen, leise um Liebe werbend, verwandte Gebilde aus allen Vergangenheiten" (W, 1424f).

 



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