HomeEin halbes Jahrhundert Handschriftendeutung

 

Ludwig Klages: Graphologie I und II. Sämtliche Werke Band 7 und 8. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1968 und 1971.

 

Es ist doch tröstlich, dass nicht nur Bild- und Kunstbände mitunter auf einen "Kilopreis" von über hundert Franken zu stehen kommen, sondern auch geistige Leistungen.

Zum hohen Preis kommt aber die Anstrengung des Lesens dazu; der Gewinn kann jedoch beträchtlich sein. Dies beispielsweise im Falle der "Sämtlichen Werke" des Philosophen und Psychologen Ludwig Klages, dessen 100. Geburtstag nächstes Jahr gefeiert wird.

 

Klages, am 10. Dezember 1872 in Hannover geboren, doktorierte 1900 in München auf dem Gebiet der Chemie, begründete hierauf die wissenschaftliche Graphologie in Zusammenhang mit Ausdrucks- und Charakterkunde und kam im Ersten Weltkrieg in die Schweiz, wo er bis zu seinem Tod am 29. Juli 1956 in Kilchberg - unter anderem in der Villa C. F. Meyers - wohnte. In testamentarischen Bestimmungen übertrug er der Ludwig Klages-Stiftung die Herausgabe seiner gesammelten Werke, von denen bereits in zwei Bänden sein monumentales philosophisches Hauptwerk "Der Geist als Widersacher der Seele" (1929/32), der Band "Ausdruckskunde" und nun die zusammen 1300 Seiten umfassenden Bände "Graphologie I und II" erschienen.

 

Der erste hievon vereinigt die 'bekannten Bücher "Die Probleme der Graphologie" (1910), "Handschrift und Charakter" (1917; 26.Auflage 1968) sowie "Einführung in die Psychologie der Handschrift" (1924, u. a. im dtv-Taschenbuch "Die Handschrift des Menschen", 1964, abgedruckt).

Die 70seitige Einleitung stammt von Prof. Karl Josef Groffmann. Er schreibt: "Klages ist einzureihen in die Schar jener hervorragenden Persönlichkeiten, die mit neuen Ideen und neuen Zielen auftraten." Klages sei ein Aussenseiter gewesen, ein Naturphilosoph, dem es um die "Schau des Ganzen, die Sinndeutung der Welt und des Lebens" ging. Die Erforschung des Seelischen basiert auf dem Erleben und erfolgt mittels der Methode der Wesenswahrnehmung.

 

Wie drückt sich Seelisches in Bewegungen aus?

 

Grundproblem der Schriftdeutung ist die Frage, wie sich Seelisches in leiblichen Bewegungen ausdrückt.

Bereits 1905 formulierte Klages das "Grundgesetz des Bewegungsausdrucks": "Jeder Seelenvorrang nun, soweit nicht Gegenkräfte ihn durchkreuzen, wird begleitet von der ihm analogen Bewegung." Mithin entsprechen Bewegungen - neben der Schrift auch Sprache, Gestik, Mimik und Gang sowie vegetative und innersekretorische Veränderungen - Seelenvorgängen, und kann man umgekehrt aus Bewegungen Seelenvorgänge erkennen. Da aber das seelische "Binnengeschehen" eine Resultante aus Kraft und Gegenkraft, das heisst aus Antrieb und Hemmung, ist, sind die erscheinenden Bewegungen nicht eindeutig. Darum durchzieht die Graphologie von Anfang an das Problem der Mehrdeutigkeit der Merkmale.

Eine Analyse der verschiedenen Bewegungs-Anteile ist vonnöten: "Klages trennt die spontanen und ursprünglichen Ausdrucksbewegungen, z. B. der Freude, der Furcht, des Schreckens, der Trauer, der Begeisterung, von den Reflexbewegungen, den Triebantriebsbewegungen, den Automatismen und den Willkürbewegungen, die aus Willensakten hervorgehen", fasst Groffmann zusammen.

 

Handschrift = Ausdruck + Darstellung

 

Was ist nun die Handschrift? Sie "ist das bleibend gegenständliche Ergebnis der persönlichen Schreibbewegung" sagt Klages, und "in der persönlichen Schreibbewegung erscheint der Charakter des Schrifturhebers".

Obgleich die Schreibbewegung eine auf Grund von Lernprozessen automatisierte Willkürbewegung - mit dem Ziel eine Mitteilung an einen Leser zu übermitteln - ist, steckt in ihr die persönliche Ausdrucksform, die Persönlichkeit des Wollenden. Da nun alle menschlichen Bewegungen mitgestaltet werden von unbewussten Erwartungen des Erfolges steht dem Ausdruck noch eine darstellende Komponente, eine malende Gebärde, zur Seite. Dies auf Grund des "persönlichen Leitbildes", welches empfangene Eindrücke (= das Gefühl erregende Gegenstände) gemäss dem persönlichen Raumsinn (Vorstellungsanlagen, apperziptive Gewohnheiten) in der Schreibbewegung modelt.

 

Diese Theorie von Ausdruck und Darstellung, ergänzt von der Theorie des Formniveaus, eingebettet in eine wissenschaftliche Gesamtkonzeption sowie ein bestimmtes Menschenbild und umfasst von einer lebensphilosophischen, "biozentrischen" Weltschau, hat sich als ausserordentlich fruchtbar erwiesen. Dennoch wies Klages immer wieder darauf hin, dass der Charakter letztlich "analytisch unerschliessbar" ist und ein Schriftmerkmal "durch keine Indizienhäufung seiner Mehrdeutigkeit" entkleidet werden kann. Ein Ausdrucksverstehen, ein charakterologisches Denken mit Wertungen wie z. B. "Grad an Lebensfülle", muss hinzutreten.

 

"Gegen das graphologische Pfuschertum"

 

Von besonderem Interesse sind zu diesen Fragen, auch im Hinblick auf forensische Schriftexpertisen, die im Band "Graphologie II" abgedruckten Aufsätze "Gegen das graphologische .Pfuschertum" (1926) und "Was die Graphologie nicht kann" aus dem Jahre 1949 sowie die Einleitung zum "Graphologischen Lesebuch" (1930, 5.Auflage 1954) und die Schrift ""Graphologie" (1932; auch im dtv-Taschenbuch abgedruckt).

 

Wie das Werk entstanden ist

 

Die Bände beschliesst ein hochinteressanter hundertseitiger Kommentar des Verwalters des Klages-Archivs im Schiller-Nationalmuseum in Marbach, Hans Eggert Schröder. Nebst druck- und gestaltungstechnischen Hinweisen - deren grosser wissenschaftlicher Wert durch einige kleine Fehler nicht gemindert wird - sind darin, oft an Hand von Briefen, eindrückliche Schilderungen der Entstehung der graphologischen Bücher und Aufsätze von Klages enthalten.

Sie zeigen uns einen Menschen mit einem bewunderungswürdigen Streben nach Perfektion, der trotz enormer Arbeitsleistung fast zeitlebens mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Eine Vielzahl von "Umarbeitungen" seiner Werke wurde durch die Ungunst der Zeitverhältnisse und eines wenig kräftigen Gesundheitszustand unmöglich gemacht und die Ablieferung von Manuskripten verzögerte sich stets.

 

Genau ein halbes Jahrhundert des Lebenswegs von Klage und damit des Leidenswegs der Handschriftendeutung sind in diesen zwei Bänden versammelt: ein menschlich und wissenschaftlich beeindruckendes Dokument.

 

Basler-Nachrichten, 27.9.1971

 




Return to Top

Home

E-Mail





Logo Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved

Webmaster by best4web.ch