Gedanken zu "Aktualität" und "aktuell" anhand von Ludwig Klages' Werk
Notiert im Herbst 1972 Die Zwischentitel wurden nachträglich eingefügt
Es gibt verschiedene Arten der „Aktualität“
“Aktualität” ist im Gegensatz zu System und Systematik weder ein Begriff der Philosophie noch der Wissenschaften, sieht man einmal ab von · der Aktualitäts-Theorie (Heraklit, Leibniz, Fichte, Hegel sowie Hume, Herbart, Wundt, Paulsen, S. Alexander, H. Thomae - Gegensatz: Substantialitätstheorie), · der "Aktualität" als Gegensatz zur Ideal- oder Realmöglichkeit und Potentialität (in der Psychologie auch: Latenz), · der „Aktualität der Grundrechte“ und dem prozessrechtlichen Grundsatz „quod non est actum, non est in mundo“ in der Jurisprudenz (hierzu v. a. Carl August Emge über „das Aktuelle“, 1935, und über den Begriff der Situation, 1944 und 1966) sowie dem · Aktualismus in der Geologie (hierzu ausführlich: „Meyers Enzyklopädisches Lexikon“, I, 1971, 575).
Dennoch verzeichnen die Philosophischen Wörterbücher folgendes: "Im Anschluss an frz. actualité hat das Wort Aktualität auch den Sinn der Betonung des unmittelbar Wirksamen, des Zeitgemässen, augenblicklich Wichtigen (aktuell). - aktuell, von frz. actuel 'wirklich', im 18. Jahrhundert weiterentwickelt zu gegenwärtig, neu, zeitgemäss, augenblicklich bedeutsam, vordringlich; dazu 'das Aktuelle', das was uns unmittelbar angeht, betrifft, nostra res ('unsere Sache'), das eigene Interesse" (J. Hoffmeister, 1955, 23).
Die Publizistik unterscheidet primäre und sekundäre Aktualität
In dieser Bedeutung ist "Aktualität" auch ein Grundbegriff der Publizistik, wo man seit dem nationalsozialistischen Schriftleitergesetz und vor allem Walter Hagemann („Grundzüge der Publizistik“, 1947) zwischen primärer und sekundärer Aktualität unterscheidet. ''Erstere ist Ziel von Tagespresse (Zeitung, "News", "Nouvelles”), Radio und Fernsehen, indem diese "jüngstes Gegenwartsgeschehen” (Emil Dovifat) als "gleichzeitiges oder annährend gleichzeitiges Miterleben" (W. Hagemann) vermitteln - bis vor wenigen Jahren erschien die "Neue Zürcher Zeitung” dreimal am Tag.
„Zur sekundären Aktualität zählt das Vergangene und Zukünftige, das, in eine Beziehung zur Gegenwart gebracht, ebenfalls aktuell sein oder werden" kann (Kurt Koszyk/ Karl Hugo Pruys: "dtv-Wörterbuch zur Publizistik", 1969, 23). Zeitschriften sind in diesem Sinne nicht an "Tagesereignisse" gebunden.
Die Aktualität, um die es bei unserer Arbeit geht, ist also eine sekundäre. Ist das Kriterium für die primäre Neuigkeit (Erstmaligkeit) und Erregung (Sensation) für die "breiteste Öffentlichkeit" (Universalität des Inhalts), so ergeben sich bei der sekundären beachtliche Schwierigkeiten hiefür. Das manchmal krampfhafte Suchen nach einem "Aufhänger" für einen längeren Artikel, vorab anspruchsvolleren Gehalts, in der Redaktion einer Tageszeitung ist ebenso notorisch wie die bekannte Tatsache, dass die Regenbogen- oder Sorayapresse "uralte Kamellen" Woche für Woche aufbereitet. Umgekehrt herrscht zum Beispiel in der naturwissenschaftlichen Fachpresse ein derartiges "Aktualitäts"-Bedürfnis, dass viele Forscher sich über einen nicht geringen Publizierungs-Druck beklagen: Wenn Forschungsergebnisse nicht unverzüglich der Fachwelt gedruckt vorliegen, macht sich ein anderes Team der Priorität anheischig.
Wonach bemisst sich Aktualität?
Wonach bemisst sich aber die spezifische Aktualität eines philosophischen und psychologischen Werks, das, in seinen Grundzügen bereits um die Jahrhundertwende vorliegend ("Stefan George", 1902, "Hestia", 1903), um 1920 scharf konturiert ("Handschrift und Charakter", 1917/20, "Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft", 1913/21, "Vom Wesen des Bewusstseins", 1921, "Vom Kosmogonischen Eros"; 1922), 1929/32 mit dem Widersacher umfassend begründet und 1948, also vor einem Vierteljahrhundert, mit der "Sprache als Quell der Seelenkunde" vollendet wurde?
Genauso kann man natürlich fragen, ob und wie aktuell hie Bibel oder das "Kapital", Platon oder Thomas von Aquin, Leonardo, Shakespeare und Bach, Kant, Schiller oder Darwin und Albert Schweitzer oder Ludwig Wittgenstein, André Gide, Arnold Schönberg und Ferdinand Sauerbruch (die alle 5 Jahre vor Klages starben) oder Teilhard de Chardin, Ortega y Gasset, Fernand Léger und Albert Einstein (die alle ein Jahr vor Klages starben) seien. Wie aktuell sind die stets wieder aufgelegten Schriften von Rudolf Steiner, Maria Montessori oder Bertrand Russell?
Was prägt das 20. Jahrhundert?
Wie können wir also feststellen, was uns heute unmittelbar angeht, unsere gegenwärtigen Interessen betrifft? Dazu müsste man wissen, was unsere Bedürfnisse sind und in welcher Situation wir heute leben. Naturwissenschaft, Hygiene, Technik, Welthandel und Grossindustrie prägen zu einem Grossteil das 20. Jahrhundert, zumindest in den "entwickelten" Ländern und abgesehen von den vielfältigen Irrationalismen und Ideologien.
Seit dem dieserhalb besonders hervorstechenden Zweiten Weltkrieg ist die Elektronik in all ihren Spielarten (Automation, Datenverarbeitung, Planung, usw.) dazugekommen, weshalb man nicht mehr von der „industriellen Zivilisation“ (Bertrand Russell, 1923, dt. 1928), vom "Zeitalter des Hochkapitalismus" (Werner Sombart, 1927), vom "technischen" (Hans Lilje, 1928), „naturwissenschaftlichen“ (Bertrand Russell, 1953; engl.: The Scientific Outlook“, 1931) oder "Wissenschafts-Zeitalter" (Hermann Friedmann, 1954) und vom "Wohlfahrtsstaat" (Gunnar Myrdal, 1958, dt. 1961) spricht, sondern von der "Lerngesellschaft" (Karl Bednarik, 1966), dem “Spätkapitalismus” (Ernest Mandel, 1972) und der "modernen Industriegesellschaft" (John Kenneth Galbraith, 1967, dt. 1968), die sich bereits auf die "nachindustrielle Gesellschaft" (Daniel Bell, 1966; Hermann Kahn/ Anthony J. Wiener, 1967) zu bewegt.
In Kombination von "Technology" (auf deutsch Technik, nicht Technologie, welche Werkstoffgewinnung und -bearbeitung meint) oder Technokratie (Herrschaft der Technik) und Elektronik spricht Zbigniew Brzezinski vom "technotronischen Zeitalter" (New Republic 23 Dec. 18/2, 1968; Encounter 30, Nr. 1, 1968; "Between two Ages", 1970).
Desungeachtet werden wenige bestreiten, dass auch die Zukunftsgesellschaft eine "wehrlose" (Vance Packard, 1964) bleiben wird, unsere Zeit immer noch eine "dürftige" (Karl Löwith: “Heidegger. Denker in dürftiger Zeit", 1953) ist, gekennzeichnet von "Vermassung und Kulturverfall" (Hendrik de Man, 1951) und dass "die irrationalen Kräfte unserer Zeit" (Franz Alexander: "The Age of Unreason", 1946, dt. 1947) oder die "Angst als abendländische Krankheit" (Arnold Künzli, 1948) weiterwirken werden. Der Mensch verspricht "unbehaust" (Hans Egon Holthusen, 1951) und "manipuliert" (Herbert Werner Franke, 1964; Theo Löbsack, 1967 Gustav Faber, 1971) zu bleiben; er ist eben "antiquiert" (Günter Anders, 1956), "eindimensional" (Herbert Marcuse, 1964, dt. 1967) und "falsch programmiert" (Karl Steinbuch, 1967), wenn nicht gar ein „fehlentwickelter Affe“ (Albert Szent-Györgyi, 1971) und wird nicht so schnell zum „Übermenschen“ (Ernst Benz, 1961), zum „mechanical man“ (Dean Everett Woodridge, 1968) oder „technological man“ (Victor Christopher Ferkiss, 1969; dt.: „Der technologische (!) Mensch“, 1970) umzubauen (Herbert L. Schrader, 1970) sein.
„Ende“ der Neuzeit, des „technischen Zeitalters“, des Totalitarismus?
Mit alledem haben wir heute zu leben, trotz aller Forschung- und Futurologie, trotz allem Gerede von Reformen oder gar Revolutionen (der Moral, der Intelligenz – auf eine künstliche hin -, der Hoffnung, usw.). Immerhin muss man nicht gerade vom "Ende der Neuzeit" (Romano Guardini, 1951) oder des technischen Zeitalters (Georg Siebers, 1963) und dem "Zusammenbruch der westlichen Kultur" (W. Schubart, 1951) oder gar vom "Strudel des Nihilismus" (Walter Bröcker, 1951) und der "Epoche des Teufels" (Anton Böhm, 1955) sprechen; treffender ist vielleicht:
Kann Klages’ Werk Orientierungshilfe leisten?
Angesichts dieser Lage ist ein Bedürfnis nach Orientierung und einem Fundament für interdisziplinäre Zusammenarbeit - wie wir das Ziel unserer "Systematik" umrissen - nicht zu verleugnen. Klages Gesamtwerk kann dazu wertvolle Hilfe leisten. (Dies also unsere zweite Hypothese.)
Wir haben aber immer noch nicht geklärt, wie sich "sekundäre Aktualität" eines solchen Werkes "herstellen" lässt. Eine systematische Darstellung gewährt ja noch keineswegs Aktualität. Zudem gibt es mehrere Stufen sekundärer Aktualität:
1. kann man nachweisen, dass Klages' Forschungsergebnisse sich mit solchen seiner Zeitgenossen berühren oder gar decken, die für die gegenwärtige Diskussion (z. B. in der Analytischen Philosophie Hugo Dingler, Moritz Schlick und Hans Reichenbach, in der Tiefenpsychologie Sigmund Freud, Alfred Adler und C. G. Jung) "noch" von Interesse sind. 2. kann man nachweisen, dass die gegenwärtige Diskussion in beliebigen Bereichen sich auf Klagesische Erkenntnisse stützt, ohne dass sich die Disputanten dessen bewusst wären. 3. kann man nachweisen, dass vielerlei Probleme und Aporien, die sich in neuesten Forschungszweigen ergeben, mit Erkenntnissen, die Klages vor Jahrzehnten formuliert hat, einigermassen einleuchtend oder den weiteren Fortgang der Forschung wenigstens erhellend, lösen liessen.
Dies unsere Hypothesen 3 bis 5. Die Frage ist nur, wie geht dieser Nachweis vonstatten? Wenn wir sagen, die Prüfung der Hypothesen erfolge am deutschsprachigen Schrifttum, dann ist die nächste Frage: Wie informieren wir uns über die "gegenwärtige Diskussion" und die "neuesten Forschungszweige"? Das ist ein Problem, das nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf.
Welches genau sind die Probleme?
Mancherlei Diskussionen, welche die Öffentlichkeit erhitzen, sind keine, welche die Fachwelt bewegen, und umgekehrt. Das zeigt sich nicht nur an der Hilflosigkeit von "Experten", die zur Abklärung eines öffentlichen Problems ( Frieden, Entwicklungshilfe, Bildungsreform, Umweltschutz, Recht und Strafvollzug, Verkehr, Energie, Städtebau, Jugendrevolte, Altern, "Überfremdung", Inflation, usw.), sondern auch an der Hilflosigkeit der Öffentlichkeit wenn sie Plänen, Projekten und Prognosen aus der "Küche der Wissenschaft" ansichtig wird. Wieweit Wirtschaft und Politik von öffentlichen und wissenschaftlichen oder irrationalen Interessen gesteuert werden steht nochmals auf einem andern Blatt.
Noch spezieller ist die Frage: Welches genau sind die Probleme, welche Öffentlichkeit und Wissenschaft bewegen und in welchem Ausmass? Gibt es Mode-Probleme, die morgen schon wieder vergessen sind oder in zehn Jahren wieder auftauchen als wäre es zum ersten Mal?
Ja, die Sache ist noch komplizierter: Nicht nur dass Wirtschaft, Politik und Strategie, Wissenschaft und Ausbildung je verschiedene aktuelle Fragestellungen haben, junge Menschen gelangen zu andern als ältere, "Intellektuelle" zu andern als Arbeiter; auch regionale und fachliche Unterschiede sind manifest: Südamerikas Probleme sind nicht diejenigen der UdSSR, diejenigen der italienischen Psychologie oder Rechtssprechung nicht diejenigen der französischen, griechischen oder japanischen, diejenigen des Alltags in Kamerun oder Malaysia nicht diejenigen Schwedens und Tibets, usw.
Es scheint schon so wie Peter Atteslander in seinen "Letzten Tagen der Gegenwart" (1971) meint: Wir wissen gar nicht Bescheid über die Gegenwart, weshalb wir auch nicht über die Zukunft verbindliche Angabe oder Programme angeben können.
Jährlich erscheinen zwei Millionen Artikel und über eine halbe Million Bücher
Nicht einmal im Bereich der Wissenschaft herrscht diesbezüglich Klarheit. Probleme, die man längst gelöst geglaubt, stellen sich unter veränderten Bedingungen und Gesichtspunkten plötzlich wieder in alter Schärfe. Die Bedeutung eines Faches nimmt unversehens zu, möglicherweise aber schnell wieder ab, sei es durch Forderungen der Öffentlichkeit, Kongresse, Zeitschriftenartikel oder Promotion von Buchverlagen. Dass nicht einmal Spezialisten mehr Überblick über ihren engen Fachbereich haben, gilt als bekanntes Bonmot. Das ist nicht verwunderlich, wenn, wie die UNESCO annimmt, in 35'000 verschiedenen Fachzeitschriften von 750'000 Autoren in 50 Sprachen jährlich 2 Millionen Artikel publiziert werden und die jährliche Wachstumsrate 150'000 Aufsätze beträgt.
Wäre denn eine umfassende Orientierung leichter an Büchern möglich? Die jährliche "Weltproduktion" an Buchtiteln (Schulbücher, Belletristik, Sachbücher) beträgt weit über eine halbe Million, wovon etwa 50'000 allein in deutscher Sprache und davon beispielsweise etwa 1000 "Philosophie und Psychologie" betreffend. Auch auf dem Buchmarkt fällt also Übersicht schwer. Hinzu kommt das Problem der Gesamtauflage und der Neuauflagen. Bemisst sich Aktualität danach, ob ein Buch, wie im Falle von C. W. Ceram, Robert Jungk, Konrad Lorenz, Jean-Paul Sartre, Alexander Mitscherlich, Karl Steinbuch, Heiz Haber, Arthur C. Clarke, Alexander S. Neill oder Marshall McLuhan, Desmond Morris, Vance Packard, Peter Bamm, Walter Robert Fuchs, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Karl Jaspers, John Kenneth Galbraith, Jean Jacques Servan-Schreiber und Erich von Däniken Hunderttausenderauflagen. und zahlreiche Übersetzungen erfährt oder ob es Dutzende von Auflagen im Laufe von Jahrzehnten erreicht hat? Zudem bringt nicht jedes neu geschriebene Buch neue Erkenntnisse und oft trägt eines, von dem nur einige hundert Exemplare verkauft werden, mehr zur Analyse der gegenwärtigen Lage und Diskussion bei. Von der Information durch Massenmedien wollen wir hier schon gar nicht sprechen.
Orientierung an „Standardwerken“?
Siehe auch: Langlebige wissenschaftliche Standardwerke aus dem 19. Jahrhundert
Eine Bestimmung der "aktuellen Diskussion", global gesehen, nach Bereich und Stand, ist also ein an Sisyphus gemahnendes Unternehmen. Auch die Orientierung an. "Standardwerken" ist fragwürdig. Wenn sie von Studenten gebraucht werden, heisst das noch lange nicht, dass sie auch für die Öffentlichkeit oder die Wissenschaft noch massgeblich sind - oder umgekehrt. Wie lange haben doch „die Welt in Atem gehalten“:
Seit 1850-1889
Ludwig Büchner: „Kraft und Stoff“ (1855; 21. Aufl. 1904) Friedrich Albert Lange: „Geschichte des Materialismus“ (1866/73; 11. Aufl. 1926) Eduard von Hartmann: „Psychologie des Unbewussten“ (1868; 12. Aufl. 1923) Ernst Mach: „Die Mechanik in ihrer Entwickelung“ (1883; Nachdruck der 9. Aufl. von 1933 mehrfach seit 1963) Ernst Mach: „Analyse der Empfindungen“ (1886; 9. Aufl. 1922) Friederich Kohlrausch und Adolf Marten: „Anleitung zu Wettkämpfen“ (1883; 12. Aufl. 1924)
Seit 1890-1899
Julius Langbehn: „Rembrandt als Erzieher“ (1890; 90. Aufl. 1938) Erwin Rohde: „Psyche“ (1890-94; 10. Aufl. 1925) Ferdinand August Schmidt: „Anleitung zu Wettkämpfen“ (1896; 7. Aufl. 1921) Heinrich Rickert: „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ (1896; 5. Aufl. 1929) Stewart Chamberlain: „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ (1899; 26. Aufl. 1940) Johannes Reinke: „Die Welt als Tat“ (1899; 7. Aufl. 1925) Werner Sombart: "Sozialismus" (1896; 9. Aufl. 1920) und "Kapitalismus” (1902; 6. Aufl. 1924)
Seit 1900-1909
Ernst Haeckel: "Welträtsel" (1900, 410. Tausend, 1933) Georg Simmel: „Philosophie des Geldes“ (1900; 5. Aufl. 1930) Otto Weiningers "Geschlecht und Charakter" (1903; 28. Aufl. 1947) Carl Huter: "Menschenkenntnis“ (1904ff) Auguste Forel: „Die sexuelle Frage“ (1905; 17. Aufl. 1942) Adolf Damaschkes „Geschichte der Nationalökonomie“ (1905; 100. Tausend 1929)
Seit 1910-1922
Othmar Spann: "Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre" (1911; 27. Aufl. 1967) Hans Vaihinger: „Die Philosophie des Als-Ob“ (1911; 10. Aufl. 1927) Oswald Spengler “Untergang des Abendlandes” (I, 1918, 81. Tausend 1950; II, 1922, 62. Tausend 1941 - jetzt auch als dtv-Ausgabe) Max Weber (posthum): „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1922; 5. Aufl. 1972)
Naturwissenschaftliche und technische Handbücher
Wieviele Studentengenerationen lasen Max Plancks "Vorlesungen über Thermodynamik" (1897; 11. Aufl. 1964) und orientierten sich am Bernhard Bavinks "Ergebnissen und Problemen der Naturwissenschaft" (1914; ab 1930: „ ... Naturwissenschaften“; 10. Aufl. 1954), Max von Laues „Relativitätstheorie“ (1919; 7. Aufl. 1961), Max Plancks "Weltbild der neuen Physik" (1929; 16. Aufl. 1967), Ernst Zimmers "Umsturz im Weltbild der Physik" (1934; 13. Aufl. 1968) und Werner Heisenbergs „Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft“ (1935; 9. Aufl. 1959). Das Gefühl eines „Umsturzes“ im physikalische Weltbild hatte, so Béla Juhos („Die erkenntnislogischen Grundlagen der modernen Physik“, 1967, 149) zehn Jahre vorher noch niemand. „Mein Weltbild“ von Albert Einstein (1934) erschien in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen; Pascual Jordans „Physik des 20. Jahrhunderts“ (1936; 7. Aufl. 1949) erschien 1956 unter dem Titel „Atom und Weltall“ (2. Aufl. 1960).
Ist es nicht erstaunlich, dass Franz Boerners „Statische Tabellen“ (1904) 1957 die 14. Auflage, Otto Diels „Einführung in die organische Chemie“ (1907) 1966 die 21. Auflage, Hugo Miehes „Taschenbuch der Botanik“ (1909) 1961 die 18. Auflage, Oskar Schmidt-Hiebers „Chemie für Techniker“ (1909) 1959 die 60. Auflage und Otto Fricks „Baukonstruktionslehre“ (1910) 1972 die 24. Auflage, Ernst Grimsehls „Lehrbuch der Physik“ (1909) 1971 die 21. Auflage und Ernst Lechers gleichnamiges Lehrbuch (1912) 1962 die 12. Auflage, Ernst Rettelbuschs „Stilhandbuch“ (1914) 1969 die 8. Auflage, Karl Andreas Hofmanns „Lehrbuch der anorganischen Chemie“ (1918) 1969 die 20. Auflage, Carl Garrès und August Borchards „Lehrbuch der Chirurgie“ (1920) 1968 die 19. Auflage, Arnold Euckens „Grundriss der physikalischen Chemie“ (1922) 1962 die 12. Auflage, Alfred Kühns "Grundriss der allgemeinen Zoologie" (1922) 1966 die 17. Auflage (neuerdings auch als dtv-Bändchen erhältlich), John Eggerts „Lehrbuch der physikalischen Chemie“ (1926) 1968 die 9. Auflage, Konrad Hertes „Tierphysiologie“ (1927-28) die 4. Auflage 1966, Robert Wichard Pohls „Elektrizitätslehre“ (1927) 1967 die 20. Auflage, Paul Karrers „Lehrbuch der organischen Chemie“ (1928) 1963 die 14. Auflage, Wilhelm Heinrich Westphals Lehrbuch der Physik (1928) 1963 die 24. Auflage, Siegfried Edlbachers und Franz Leuthardts „Lehrbuch der physiologischen Chemie“ (1929) 1963 die 15. Auflage, Johannes Erich Heydes „Technik des wissenschaftlichen Arbeitens“ (1931) 1970 die 10. Auflage, Heinrich Remys „Lehrbuch der anorganischen Chemie“ (1931) 1970 die 13. Auflage, Reinhard Wendehorsts „Baustoffkunde“ (1931) 1970 die 19. Auflage und Georg Joos „Lehrbuch der theoretischen Physik“ (1932) 1970 die 12. Auflage erreichten.
Von geistesgeschichtlicher Bedeutung
Sind Karl Raimund Poppers "Logik der Forschung "(1935; 4. Aufl. 1971), Albert Einsteins und Leopold Infelds „Evolution der Physik“ (1938), Otto Heckmanns "Theorien der Kosmologie" (1942; 2. Aufl. 1966), Carl Friedrich von Weizsäckers "Weltbild der Physik" (1943; 11. Aufl. 1970) noch "aktuell"? Wie steht es mit Jean Piagets "Psychologie der Intelligenz" (1946, 3. Aufl. 1967), Elisabeth Plattners „Die ersten Lebensjahre“ (1935; 10. Aufl. 1968), Alfred Adlers "Menschenkenntnis", 1927; ca. 101. Tausend 1972), Ernst Kretschmers "Körperbau und Charakter" (1921; 25. Aufl. 1967), Eduard Sprangers "Lebensformen" (1914; 9. Aufl. 1966), C. G. Jungs "Psychologie des Unbewussten" (urspr. 1912) und Sigmund Freuds "Traumdeutung" (1900)?
Die Kontinuität von Rudolf Euckens „Lebensanschauungen der grossen Denker“ (1890; 18. Aufl. 1922; 20. Aufl. 1950), Theodor Gomperz’ drei Bänden über „Griechische Denker“ (1896-1909; 4. Aufl. 1922-31; Nachdruck 1973); David Hilberts „Grundlagen der Geometrie“ (1899; 9. Aufl. 1962), Wilhelm Diltheys „Das Erlebnis und die Dichtung“ (1906; ursp. 1877; 15. Aufl. 1970), Willy Hellpachs "Geopsyche" (1911; 7. Aufl. 1965), Georg Kerschensteiners „Arbeitsschule“ (1912; 12. Aufl. 1957), Emile Coués "Autosuggestion" (1913, dt. 1925; 164. Tausend 1963), Joseph Mausbachs „Katholischer Moraltheologie“ (1914-18; 10. Aufl. 1961), Rudolf Ottos "Das Heilige" (1917; 35. Aufl. 1963), Karl Barths "Römerbrief" (1918; 10. Aufl. 1967), Johann Huizingas "Herbst des Mittelalters" (1919, dt. 1924, 9. Aufl. 1965), Rudolf Bultmanns „Geschichte der synoptischen Traditionen“ (1921; 8. Aufl. 1970), Will Durants „Grossen Denkern“ (1926; 10. Aufl. 1958), Martin Heideggers „Sein und Zeit“ (1927; 11. Aufl. 1967, Ortega y Gassets "Aufstand der Massen" (1929, dt. 1929, 16. Aufl. 1965; 419 000 Gesamtauflage), Heribert Jones „Katholischer Moraltheologie“ (1929; 17. Aufl. 1961), Johannes Heinrich Schultz' "Autogenem Training" (1932; 12. Aufl. 1966), Alexis Carrels „Mensch – das unbekannte Wesen“ (1935; dt. 1936; 21. Aufl. 1950) und Karl von Frischs „Du und das Leben“ (1936; 18. Aufl. 1966) ist immerhin beachtenswert
Standardwerke der Philosophie
Dass sich die Philosophie auf recht alte Standardwerke stützt, ist naheliegender, man denke da etwa an Karl Prantls Geschichte der Logik (1855-70; Nachdrucke 1927, 1955, 1967), an die Geschichtsdarstellungen von Johann Eduard Erdmann (1866; Neuausgabe 1930; der 2. Bd. gekürzt als zwei rde-Taschenbücher, 1971), Wilhelm Windelband (1892; 15. Aufl. 1957), Karl Vorländer (1903 - auch als rde-Taschenbücher, 1963-67) und Ernst von Aster (1925; 15. Aufl. 1969), an Bernard Kälins „Lehrbuch der Philosophie“ (1922; 5. Aufl. 1957) oder an "den" „Zeller“ (1852/1883), „den“ Ueberweg (1862-66, letzte Bearbeitung 1923-28; Nachdruck 1967) und "den" Diels-Kranz (zuerst 1903).
Johann Eduard Erdmanns „Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie“ erschien erstmals in sechs Bänden 1834-53; er wurde noch 1931-34 in sieben Bänden nachgedruckt. Arnold Schweglers „Geschichte der Philosophie im Umriss“ von 1848 erschien in 17. Auflage 1950. Johannes Rehmkes „Grundriss der Geschichte der Philosophie“ (1896) erschien in 5. Auflage 1965, Curt Friedleins „Lernbuch und Repetitorium der Geschichte der Philosophie“ (1913) in 12. Auflage 1968.
Standardwerke der Psychologie
Aber auch die Psychologie kennt ähnliches: Gustave Le Bons "Psychologie der Massen" (1895, dt. 1908, 4. Aufl. 1966), Ernst Meumanns „Ökonomie und Technik des Lernens“ (1903; ab 1908: „ ...des Gedächtnisses“; 5. Aufl. 1920), Wilhelm Wundts "Einführung in die Psychologie" (1911; 7. Aufl. 1950), August Messers „Psychologie“ (1914; 5. Aufl. 1934), William Sterns "Psychologie der frühen Kindheit" (1914; 10. Aufl. 1971), die Dresdener Unterrichtsbriefe zu „Hypnose und Suggestion“ (1918; 760. Tausend 1961), „“Richard Paulis "Psychologisches Praktikum" (1919; 7. Aufl. 1972), Theodor Erismanns „Psychologie“ (1920-21; 3. Aufl. in vier Bänden 1965), Fritz Gieses „Psychologisches Wörterbuch“ (1921; seit 1950 bearbeitet von Friedrich Dorsch, 8. Aufl. 1970), Hermann Rohrschachs "Psychodiagnostik" (1921; 8. Aufl. 1962), Ernst Kretschmers "Medizinische Psychologie" (1922; 12. Aufl. 1963), Eduard Sprangers "Psychologie des Jugendalters" (1924; 28. Aufl. 1966), Heinz Werners "Einführung in die Entwicklungspsychologie" (1926; 4. Aufl. 1960), Paul Federn und Heinrich Mengs „Psychoanalytisches Volksbuch“ (1926; 5. Aufl.- 1957-64), Harald Schjelderups "Einführung in die Psychologie" (1927, dt. 1928, 2. Aufl. 1963), Karl Bühlers „Krise der Psychologie“ (1927; 3. Aufl. 1965), Oswald Krohs "Psychologie des Grundschulkindes" (1928; 22. Aufl. 1944; daraus die „Phasen der Jugendentwicklung“, 1958), Fritz Künkels "Einführung in die Charakterkunde" (1928; 15. Aufl. 1971), Wilhelm Lange-Eichbaums "Genie, Irrsinn und Ruhm" (1928; 6. Aufl. 1967), Hubert Rohrachers "Kleine Charakterkunde" (1934; 12 Aufl. 1969), Richard Meilis "Psychologische Diagnostik" (1937; 5. Aufl. 1965).
Standardwerke der Psychiatrie
Julius Raeckes „Grundriss der psychiatrischen Diagnostik“ (1908) erreichte unter der Bearbeitung von Hans Walter Gruhle mit dem Titel „Grundriss der Psychiatrie“ 1948 die 15. Auflage, Karl Jaspers "Allgemeine Psychopathologie" (1913) 1965 die 8. Auflage, Eugen Bleulers "Lehrbuch der Psychiatrie" (1916) 1969 die 11. Auflage, Oswald Bumkes „Lehrbuch der Geisteskrankheiten“ (1919) 1948 die 7. Auflage, Kurt Schneiders Studie über die „psychopathischen Persönlichkeiten“ (1923) 1950 die 9. Auflage, Kurt Kolles Lehrbuch „Psychiatrie“ (1939) 1967 die 6. Auflage.
Immer noch beliebt ...
Immer noch grösster Beliebtheit erfreuen sich die Schriften von Gordon W. Allport, William McDougall (z. B. "An Introduction to Social Psychology”, 1908; 30. Aufl. 1950, paperback 1960, Nachdruck 1967; "An Outline of Psychology“, 1923; 11. Aufl. 1968), Charlotte und Karl Bühler, Adolf Busemann, Martha und Hans Heinrich Muchow, Viktor Frankl, Arnold Gehlen, Hildegard Hetzer, Albert Huth, Martin Keilhacker, Philipp Lersch, Theodor Litt, Wolfgang Metzger, Gerhard Pfahler, Henri Piéron, Adolf Portmann, Otto Friedrich Bollnow, Max Hartmann, Max Pulver, Max Scheler, Helmut Plessner, Bertrand Russell, Werner Jaeger, Erich Rothacker, Friedrich Meinecke, Herman Nohl, Gustav Radbruch, Karl Löwith, Jakob von Uexküll, August Vetter, Viktor von Weizsäcker und Hans Zullinger, ferner der Soziologen Max Weber, Leopold von Wiese ("Soziologie", 1926; 8. Aufl. 1967), Emile Durkheim, William F. Ogburn, Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Pitirim A. Sorokin sowie der Ethnologinnen Ruth Benedict und Margaret Mead.
Die Geschichtlichkeit der Wissenschaften
Diese Zusammenstellung soll nicht nur Kuriositätswert haben, sondern sie zeigt, wie sehr gewisse grundlegende Werke, entweder in permanentem unverändertem Nachdruck oder stets überarbeitet und ergänzt, oft noch lange nach dem Tod ihrer Verfasser, ihren Wert behalten. Was für einen Wert? Keinesfalls nur einen historischen, da man sich meist der ersten Auflage nicht bewusst ist. Gerade dieses Bewusstseins könnte einen aber über die Geschichtlichkeit der Wissenschaften in unserem Jahrhundert nachdenken machen. Trotz allen Fortschritten der Erkenntnis an den “Fronten" der Wissenschaften wird "das Alte" nicht ungültig. Verleger, die Vorkriegswerke noch und noch nachdrucken, tun dies kaum nur aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil dies anscheinend einem Bedürfnis entspricht. Einem Bedürfnis, das wohl darin besteht, verbindliche Schriften zur vergleichenden Lektüre und Verarbeitung bei der Hand zu haben. Dies wird nicht nur ein Bedürfnis des Studenten sein, sondern auch von Forschern in andern Wissenschaften sowie von interessierten Laien.
Wissenschaft weist also Kontinuität auf, weshalb die heute viel gehörte Behauptung mit äusserster Skepsis zu betrachten ist, es verdopple sich das "Wissen" alle fünf Jahre und die Hälfte des "älteren" Wissens erweise sich als überflüssig oder gar falsch.
Zahlreiche grosse Fragen, die zu beantworten wären
Die Besinnung über "Aktualität" führt also zu zahlreichen Fragen, die im Getümmel von Politik und Forschung kaum beachtet werden:
Nun, wir werden uns auf die folgenden Bereiche der "gegenwärtigen Diskussion" beschränken, was nicht ausschliesst, dass ab und zu auch andere Fragen angetippt werden:
1. Die Frage nach der Wissenschaft überhaupt, nach Denken, Erkenntnis, Modell, usw. 2. Die Frage nach der Evolution, nach der Entstehung des Alls, des Lebens und der Herkunft des Menschen. 3. Die Frage nach Gott, der Göttlichkeit oder Vernünftigkeit der Natur, der Weltordnung, nach Naturgesetzen, Kausalität, Ontogenese, Freiheit. 4. Die Frage nach der gegenwärtigen Lage der Menschheit. 5. Die Frage nach dem Können, Wollen, Dürfen und Sollen des Menschen. 6. Die Frage nach dem Leiden des Menschen, nach der Angst, der Ungeborgenheit, Manipulation und Überforderung des Menschen, welche zu Neurosen und psychosomatischen Störungen und Fehlhaltungen führt, zu Langeweile, Aggression, Konsum auch. 7. Die Frage nach dem Zusammenhang von allem, des Wissens, Glaubens und Vermutens und den Konsequenzen daraus für eine ganzheitliche, homogene Weltanschauung und sinnvolle Lebensgestaltung.
Zur Behandlung dieser eng miteinander verknüpften Fragen wollen wir nun Klages Gesamtwerk zu Rate ziehen, getreu unserer fünf Hypothesen. Dabei werden wir uns allerdings nicht vermessen, damit eine Aktualisierung dieses Werks im philosophischen Sinne der "Verwirklichung" zu leisten. Wir werden bescheidener sein und zusehen, was Klages der heutigen Zeit zu sagen hat.
Dass dies ganz im Sinne von Klages liegt, braucht nicht betont zu werden
Die Wirklichkeit zerfällt nicht in Untersuchungsgebiete
Auch dies werden wir später genauer vorstellen. Nur zwei Sätze zum Wort "interdisziplinär" seien hier bereits angeführt: Klages betont, dass er "die herkömmlichen Schranken, die man zwischen so eng zusammengehörigen Wissensbereichen gezogen, für künstliche Schranken halte, die nicht in der Natur der Sache begründet sind. Wer die Wirklichkeit erforscht, der muss sich darüber klar sein, dass nicht sie es ist, die in eine Handvoll Wissenschaften auseinanderfällt oder auch nur die übliche Einteilung der Untersuchungsgebiete zwingend erfordert" (W. XI).
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