HomeCharakterkunde als Systemtheorie

 

Zu einem neuen Band der "Sämtlichen Werke" von Ludwig Klages

Band 4: Charakterkunde I. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1976.

 

 

Die Tatsache, dass die japanische Übersetzung der "Grundlagen der Charakterkunde" (deutsch: 1910/26; 14. Auflage 1969) in den sechziger Jahren nicht weniger als acht Auflagen erreichte und in Buenos Aires eine spanische Ausgabe erschien, dokumentiert das Interesse an einem der zentralen Forschungsgebiete des umfangreichen theoretischen wie praktischen Werks von Ludwig Klages (1872-1956) auch in weit entfernten Kulturen.

Dasselbe Buch liegt auch auf Englisch (London; Cambridge, Mass.), Französisch und Holländisch vor. Eine italienische Übersetzung gibt es von der "Vorschule der Charakterkunde" - in erster Auflage unter dem Titel "Persönlichkeit" (1927) bekannt geworden.

Von den Vorträgen liegen die "Stammbegriffe der Charakterkunde" auf Französisch, die "Grundtatsachen der Charakterkunde" auf Spanisch (Tucuman) und "Wie finden wir die Seele des Nebenmenschen?" auf Japanisch vor.

Ein kürzlich in Japan erschienener Sammelband enthält schliesslich unter anderem einen der ersten Aufsätze, "Bahnsens Charakterologie" (1899), die erste Fassung der "Persönlichkeit" und den letzten von Klages selber gehaltenen Vortrag: "Probleme der Seelenkunde" (1952).

 

Provokative These

 

Über ein halbes Jahrhundert erstreckt sich somit die Beschäftigung einer der eigenwilligsten und umstrittensten Gestalten des deutschsprachigen Geisteslebens mit dem Wesen des Menschen und den Möglichkeiten seiner Erfassung und Deutung. So massiv und oft ebenso kenntnislos wie verunglimpfend Klages' provokative These vom "Geist als Widersacher der Seele" (1929/32) bekämpft wurde, so fruchtbar hat sie sich als Grundlage eines "Leitfadens der Menschenkunde" (so der Titel des erwähnten japanischen Sammelbandes) erwiesen.

 

Auch wenn in naturwissenschaftlicher Betrachtung der von Klages als ausserraumzeitliche, akosmische Macht gefasste Geist "nicht vom Himmel fiel", wie ein populäres Schlagwort heute lautet, ist doch im Menschen als voller Persönlichkeit ein häufig spannungsgeladenes Verhältnis von Vitalität und Geistigkeit kaum in Abrede zu stellen, mag man auch lieber vom psychovegetativen (emotionalen, affektiven und conativen) Geschehen auf der einen, von kognitiven (intellektuellen und volitiven) Leistungen auf der andern Seite sprechen.

 

Freilich hätte Klagen für sein Werk ungleich mehr Verständnis gewonnen, wenn er seine weitausgreifenden philosophischen Analysen etwa mit dem präziseren und zutreffenderen Motto "Der Geist als Chance und Verhängnis" gekennzeichnet hätte.

Als hypostasiertes absolutes Sein ist der Geist nämlich wirkungslos, sofern er sich nicht als "konstitutionelles Tatzentrum", Wille und Urteilsvermögen mit der "Lebenszelle" verbunden hat. Die Art dieser Verbindung entscheidet aber über Kultur oder Barbarei: Steht das Geistige im Dienste des Lebens, vermag es in Verein mit diesem das "Gute, Schöne und Wahre" zu schaffen, plant und operiert es jedoch in lebensfremder Selbstherrlichkeit, so ist sein Werk Unterdrückung, Marter und Zerstörung.

 

Der metaphysische Hintergrund ist nicht auszuklammern

 

Es ist immer wieder versucht worden, Klages' Charakterkunde und Ausdruckslehre und erst recht die Graphologie vom metaphysischen Hintergrund au lösen oder diesen völlig auszuklammern, um analog der an Konstanz, Variation und Kombination von Charaktermerkmalen orientierten Differentiellen Psychologie (seit William Stern) synthetische Persönlichkeitsbilder zu entwerfen.

Damit wurde zweierlei verkannt:

  • erstens die ungemein innige Verflechtung und gegenseitige Befruchtung von Theorie (Metaphysik, Kulturphilosophie) und ausgedehnter Praxis (sowohl als graphologischer Gutachter wie Sprachforscher) im Entwicklungsgang von Klages selbst, was sich unter Anlehnung an eine Kantsche Formel dahingehend verallgemeinern lässt, dass Philosophie ihren Inhalt unter anderem aus der Anschauung, der Erfahrung, der psychologischen Forschung und Selbstbesinnung schöpfen muss, diese aber ohne philosophische Prinzipien und Begriffsklärungen blind sind.

  • Zweitens setzt Klagen sowohl in der Philosophie wie in ihrer Anwendung, der Charakterkunde - und wiederum in deren Anwendungen: Ausdrucksforschung und Handschriftendeutung - stets bei der individuellen Ganzheit, der lebendigen "erscheinenden Bedeutungseinheit" an.

 

Ausgehend von der Ganzheit

 

Von da her könnte Klages als Begründer einer modernen psychologischen Systemtheorie gesehen werden, geht doch gerade die Systembetrachtung stets von einer Ganzheit aus, die mehr als die Summe ihrer Teile darstellt und sich im Konflikt von je untereinander in vielfältigem Wechselspiel befindlichen inneren wie äusseren Bedingungen und Faktoren entfaltet und behauptet [1].

Blicken wir vom System in Richtung Umwelt, so gilt. "Der Charakter ist keine feste, sondern eine veränderliche Grösse oder, wenn es besser gefällt, ein System von Anlagen samt der zunächst uns unbekannten Abwandlungsbreite", an der sich die Entfaltungsbedingungen, die Lebensumstände und Kulturzusammenhänge betätigen, die ihrerseits streckenweise vom System selbst mitgestaltet werden.

In umgekehrter Richtung gesehen zeigt sich: "Das Wesen der Persönlichkeit liegt in der jeweils eigentümlichen Form des Zusammenhanges unwiederholbarer einzelner Seelen mit dem wechsellos beharrenden Geist: Persönlichkeit ist vom Geiste gebundene Seele."

 

Wie bildet sich der Charakter?

 

Sowohl in der Auseinandersetzung mit dem Goetheschen "Strom der Welt" bildet sich der durch das Erbe mit einem gewissen Spielraum vorgegebene Charakter als auch in der Ausprägung, Verknüpfung und Steuerung der beiden konkurrierenden Teilsysteme Vitalität und Geistigkeit durch das funktionell übergreifende Sub-"System der Triebfedern" oder Interessen.

Die rezeptorischen und effektorischen Funktionen der doppelpoligen Vitalität - Empfindung und Bewegungsantrieb (Leben), Schauung und Gestaltungsantrieb (Seele) - und der Geistigkeit - die Akte des Auffassens und Wollens - machen in ihrer oft widersprüchlichen oder paradoxen Verknüpfung als unterscheidbare, aber nicht von einander trennbare Funktionen die Persönlichkeit als Ganzes aus.

 

Über Korrelationen hinaus ...

 

Da diese komplexe dynamische Einheit, getragen vom Lebensstrom - daher "Person als Prozess" (Robert Heiss, Hans Thomae) - in einer unablässig im Wandel begriffenen Welt sich durch .Sinngebungen" nach aussen wie innen aufbaut und erhält, rückt gerade die Systemtheorie die Sinnfrage in den Vordergrund, wenn sie ihren Anspruch auf Gesamtbetrachtung erfüllt.

Daher sind auch die bislang mechanistisch und faktorenanalytisch ausgerichteten Verhaltensforscher und Persönlichkeitsdiagnostiker gezwungen, über die in Experimenten und Erhebungen erfassten Variablen und errechneten Korrelationsmatrizen sowie die daraus abgeleiteten Faktoren und Konstrukte hinauszugreifen und sich wie Klagen einerseits mit der "Weisheit der Sprache", anderseits mit der Beobachtung der realen Taten und Untaten des Menschen ausserhalb der Laborsituation zu befassen. Das bedeutet nichts anderes als die Ängste und Träume, die Leiden und Strebungen, Kämpfe und Versagen, Übermut, Neid, Liebe und Grausamkeit und deren Folgen ernst zu nehmen.

 

Neue Zürcher Zeitung, 18.7.1977

 

[1] In den "Prinzipien der Charakterologie" (1910) formuliert er gegen Ende des ersten Kapitels: "Man muss das Ganze haben, ehe man es mit Erfolg unternimmt, die Teile zu erforschen."

 




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