Wie aktuell ist die Philosophie von Ludwig Klages?
Festvortrag an der Centenarfeier In Marbach, 26.5.1972; abgedruckt in Hestia 1972/73, Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann, 1974, 11-20.
(am Anfang leicht gekürzt)
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Gebürtiger Hannoveraner, studierte Klages in München Chemie, besuchte nebenbei Psychologie-Vorlesungen bei Theodor Lipps, schrieb in Stefan Georges "Blätter für die Kunst" und promovierte im Jahre 1900 mit den Nebenfächern Physik und Philosophie. Fünf Jahre später errichtete er, bereits ein Jahrzehnt graphologische Praxis hinter sich, ein Seminar für Ausdruckskunde, das er nach seiner Übersiedlung in die Schweiz während des Ersten Weltkriegs 1919 in Kilchberg am Zürichsee neu eröffnete, wo er anfänglich in der Villa C. F. Meyers wohnte. Hier setzte er seine sich über ein halbes Jahrhundert erstreckende schreibende und vortragende Tätigkeit fort, die ihn durch ganz Europa führte und daselbst bekannt machte. Fast die Hälfte seines Lebens, nämlich die letzten 40 Jahre, verbrachte er in Kilchberg, wo er nun unweit von Thomas Mann, F. W. Foerster und C. F. Meyer ruht.
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Über die Aktualität der Klagesschen Philosophie zu sprechen ist kein allzu schwieriges Unterfangen. Aus dem einfachen Grund, weil Philosophie in ihrem Besten immer aktuell ist, aktuell sein muss, um ihrem Anspruch gerecht zu werden. Und dieser Anspruch besteht darin, dass sie "das Ganze", den Kosmos der Erscheinungen und gedanklichen Konstruktionen, das Insgesamt von Natur und Kultur, Leben und Geist in den Griff zu bekommen sucht. Dabei muss der auf sich selbst und den Lauf der Welt reflektierende Philosoph erfahren, dass die Probleme, auf die er stösst, ewige Probleme, seit Menschengedenken stets neu durchdachte und zu durchdenkende sind. Ihre Unlösbarkeit macht sie somit zu aktuellen Problemen, die sich Tag für Tag aufs neue stellen.
Kant sagte 2 000 Jahre nach Aristoteles, dass die Logik seit damals "keinen Schritt vorwärts hat tun können". Und wir sind heute, 200 Jahre nach Kant, auch noch nicht über Kant hinausgekommen. Das heisst, wir glauben zwar, fortgeschritten zu sein, doch wenn wir an dem neuerrungenen Standort der Erkenntnisspirale einhalten und hinunter oder zurück schauen, lernen wir, das Frühere neu zu sehen, in ihm Einsichten zu entdecken, die wir bislang übersehen haben, übersehen mussten, weil wir noch nicht so weit waren. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass wir unsere Erkenntnisse in die Werke Aristoteles' oder Kants "hineininterpretierten", sondern wir entwickeln nur, was schon in ihnen schlummerte (vgl. hierfür die ersten Seiten der Einleitung zum "Widersacher").
So steht es auch mit dem Werk von Klages, das bis heute überhaupt noch nicht ausgeschöpft worden ist, vielmehr als ein monumentaler "Tempel" des Lebens vor uns steht, den es in unserer bedrängten Zeit erst recht weit zu öffnen gilt. Was Max Bense in seinem "Anti-Klages" (1937) - der Titel ist wohl eine Anspielung auf Engels' "Anti-Dühring", C. F. Bachmanns "Anti-Hegel", A. Bolliges "Anti-Kant" oder G. E. Lessings "Anti-Goeze" - Klages vorwirft, nämlich das Aufgreifen einer "uralten These", eines "alten philosophischen Zopfes", erweist also gerade nicht die Obsoletheit von Klages' Werk, sondern vielmehr die Aktualität seiner Lehre als Philosophie. Klages ist überdies einer der letzten Philosophen, die das Ganze und unauslöschlich Fragliche mit meisterhafter, umfassender Gebärde zur Darstellung gebracht haben. "Wer die Wirklichkeit erforscht", sagt Klages, "der muss sich darüber klar sein, dass nicht sie es ist, die in eine Handvoll Wissenschaften auseinanderfällt oder auch nur die übliche Einteilung der Untersuchungsgebiete zwingend erfordert" (W. XI).
Wenn das Verhältnis von Leben und Geist, von Wirklichkeit und Modell eine uralte Paradoxie ist, dann gebührt Klages das Verdienst, sie uns wieder ins Bewusstsein gerufen zu haben, indem er, was sonst selten vorkommt, beide Seiten sowohl je für sich und unvermischt als auch in ihrem leidvollen wie fruchtbaren Wechselspiel zu Wort kommen liess. Es ist die Globalität seiner Weltschau, seiner "Weltanschauung" (W. IX, XI), die heute mehr als je unsere Aufmerksamkeit verdient, wimmelt es doch nur so von Strömungen, die in ihrer erschreckenden Einseitigkeit wie Kurzatmigkeit die andern Seiten stets "auszuklammern", wenn nicht gar zu negieren bemüht sind, sei das hei den Theoretikern die Praxis oder Empirie, sei das bei den Positivisten der Aufschwung der Seele oder die Metaphysik im aristotelischen Sinne als das hinter der Wissenschaft Stehende, als "erste Philosophie".
Klages hat die beiden gestaltungsmächtigsten Kräfte der Weltgeschichte, das Leben und den Geist, auf unnachahmliche Weise aus allen Blickwinkeln beleuchtet. Er stieg dabei nicht nur in die Tiefen der Vergangenheit, der Kulturgeschichte, der Volks- und Völkerkunde, sondern berücksichtigte auch die Ergebnisse biologischer und ethologischer Forschung sowie von Humanmedizin und Persönlichkeitspsychologie. Zwar ist Klages weiten Kreisen als Graphologe wie als Ausdruckskundler und Charakterologe bekannt, … doch das überragende Hauptwerk bleibt "Der Geist als Widersacher der Seele" (1929/32). Völlig zu Recht schrieb der Bonner Philosophieprofessor Erich Rothacker 1954: "Neben Heideggers Sein und Zeit' und Nicolai Hartmanns Grundlegung der Ontologie' ist es die bedeutendste Leistung der Gegenwart".
In 16jähriger Arbeit, unter Aufbietung all seiner körperlichen Kräfte und seines geistigen Scharfsinns hat er den enormen Bestand an "ewigen" Problemen durchforscht und davon auf 1 500 Seiten beredt Zeugnis abgelegt. Kaum ein Bereich, dem er nicht in stets erneutem Ringen auf den Grund zu gehen sucht - mit Ausnahme vielleicht des Sozialen und Sittlichen. Fast alle bedeutenden Namen der Geistesgeschichte tauchen auf, und deren Lehren werden präzise analysiert, auf ihren Gehalt geprüft und dann entweder verworfen oder, wie im Falle von Goethe und Nietzsche, der Vorsokratiker und Romantiker in die höhere Einheit seiner Sicht aufgehoben. Mit seinen Zeitgenossen hat er verhältnismässig wenig in direkter Begegnung die Klingen gekreuzt, was sie ihm heimzahlten, indem sie sein Werk, meist ohne es gelesen zu haben, aufs energischste bekämpften oder sich einzig, ohne Nennung von Klages' Namen, dessen Rosinen aneigneten. Seine Klage aus dem "Vorwort für die Zeitgenossen" (1929, XVI) - "In einem habe ich Rekord: ich bin der am meisten ausgeplünderte Autor der Gegenwart" - hat auch heute noch ihre volle Berechtigung.
Es ist tatsächlich eine unheimliche Wirkung vom "Widersacher" ausgegangen: Mit dem abschätzigen Hinweis auf den provozierenden Titel glaubte man sich um ein ernsthaftes Durcharbeiten dieses Riesenwerkes drücken zu können und den Wunsch aussprechen zu dürfen, Klages möge in der Versenkung verschwinden - dies obwohl er sich einer "sachlichen Kritik, hinter der als einzige Triebkraft der Wille zur Wahrheit steht" (W. XXVIf), ausdrücklich gestellt hat. Anderseits muss es einen mit Bestürzung erfüllen, dass man auch in der neuesten Fachliteratur auf Schritt und Tritt auf angeblich modernste Erkenntnisse stösst, die Klages schon vor 40 Jahren prägnant formuliert hat - besser jedenfalls als das oftmals hilflose Gestammel unserer orientierungslos gewordenen Theoretiker und angeblichen Zeit-Diagnostiker.
Wie dürftig erscheint doch, was im Zuge etwa der Aggressionsforschung, der Konflikt- und Friedensstrategie seit einigen Jahrzehnten über "Liebe und Hass", "Entfremdung und Frustration" geschrieben wird. Ob moderne Umweltspezialisten und Genetiker von "Anlage und Milieu" oder "Genom und Gehirn", ob Verhaltensforscher und Informationstheoretiker von "Regelkreisen in offenen Systemen", "Selbsterhaltung und Homöostase" oder ob die negative Theologie vom "positiven Nichts"; Teilhard de Chardin von Bio- und Noosphäre oder der englische Romancier C. P. Snow von den "Zwei Kulturen" spricht - allen hätte eine eingehende Lektüre von Klages gut getan, denn wie gesagt, es gibt keine neuen Probleme: Es sind die uralten Menschheitsfragen, die sich stets in neuem Licht zeigen. Oder, um es mit dem Vizepräsidenten der Klages-Gesellschaft Marbach, Albert Wellek, zu sagen: Was richtig ist, ist immer modern.
Was hat denn Klages eigentlich auf so unübertreffliche Weise gezeigt' Es ist die scharfe Scheidung von Geist und Seele, genauer der Tatnatur des Geistes von der in Wirken und Empfangen sich entfaltenden, nach Leib und Seele polarisierten "Lebenszelle". Leben und Geist sind nicht auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen, sondern der Geist ist "von aussenher" (Aristoteles) oder vom Himmel (Apostelgeschichte 2, 2; Schopenhauer) ins Leben, und zwar in das bereits individuierte Leben des Einzelwesen Mensch eingebrochen, "mit dem Bestreben, ... den Leib zu entseelen, die Seele zu entleiben und dergestalt endlich alles ihm irgend erreichbare Leben zu ertöten" (W. 7; ähnl.841).
Dass nun das Leben zu einem grossen Teil für den Einbruch des Geistes selbst Schuld trägt, bestreitet Klages nicht. Im Gegenteil, er weist immer wieder auf die "Veranlassungsbedingungen" sowohl des erstmaligen Geisteinbruchs in der Geschichte der Menschheit als auch der aktuellen geistigen Leistungen, der "stellenförmigen Besinnungstaten" und Willensbekundungen hin. Seltsam ist allerdings, dass er, obwohl er dies durchaus überzeugend zu schildern weiss - man denke an die "Substanzzersetzung", die "Selbständigkeit der Anschauungsgabe" und die "Spaltbarkeit der Antriebe" -, am Ende des Widersachers im "Rückblick" zugehen zu müssen glaubt: Es "ist uns nicht gelungen, zu erklären oder verständlich zu machen, auf welche Weise ehedem - also vor Jahrtausenden in irgendeiner Menschengruppe - der erste Einbruch des Geistes habe stattfinden können" (W. 1430). Wie Klages aber anschliessend sagt, ändert freilich die vorläufige Unerklärbarkeit eines Sachverhalts nichts an dessen Beweisbarkeit. Und dass der Mensch nun einmal den Geist trägt und damit zu Rande kommen muss, steht his auf den heutigen Tag fest, mag auch das "quälende Rätsel" (W. 609) uns belasten, immerfort aktuell bleiben.
Sehr schön und ausführlich hat Klages nachgewiesen, dass das Leben durchaus ohne den Geist bestehen kann, und es wird tatsächlich schwer halten, einer lebendigen Zelle oder einer Pflanze, dem Wechsel der Jahreszeiten oder dem naturhaften Werden und Vergehen Bewusstsein zuzuschreiben. Dass selbstverständlich mannigfaltige gestalterische Kräfte in der Natur am Werk sind, ist unbestritten. Sie in alter Tradition mit Klages als "Wesen" und "Mächte" darzustellen, womit das Leben recht eigentlich eine "Mythenwelt der Dämonen" (W. 187) wäre, ist jedenfalls nicht abwegig, sondern trifft die Wirklichkeit weit genauer als die Annahme von "Lebenskräften" im Sinne der vis vitalis oder Entelechie - die nach Klages alle nur den Geist meinen (W. 571 ff), was heute in den Ausdrücken "Bauplan", "Programm" oder "biologischer Code" deutlich wird; auch Physiker sprechen wie eh und je von einem "geistigen Prinzip, das sowohl mit den Gesetzen und Geschehnissen der materiellen Welt als auch mit unserer Geistigkeit zusammenhängt" (W. Heitler, 1961).
Das ist das alte Übel, das Klages zu bekämpfen nicht müde wurde. Von einem seiner geschätztesten Freunde, dem ungarischen Physiker Melchior Palágyi, stammt der diesbezüglich grundlegende Satz: "Die Quelle der Möglichkeit aller menschlichen Verirrung ist darin zu suchen, dass wir für geistig halten können, was bloss lebendig ist, und für lebendig, was bloss geistig ist" (W. 106). Diese Gefahr, die Vertauschung von Mächten der Wirklichkeit mit geistigen Regeln und umgekehrt von Begriffsgespinsten mit unbegreifbaren Erscheinungen ist es, welche auch heute noch sämtliche wissenschaftlichen Bemühungen in lebensblinde und seelentaube Artistik ausmünden lässt.
Klages formuliert die Möglichkeit des Irrens, die in beiden Bereichen, auf der Seite des Lebensnahen symbolischen Denkens ebenso wie auf der Seite des logischen Denkens schlummert, folgendermassen: "Hart neben der sinnbildlichen Wahrheit liegt der sinnbildliche Irrtum; aber auch hart neben der logischen Wahrheit der logische Irrtum. Es gibt in Hülle und Fülle echten ,Aberglauben', allein er entschwindet wie ein leichter Dunst neben den knotig zähen Hirngespinsten aus der Geschichte des Verstandes! Die Weisheit des Bilderdienstes schlägt um in den Wahn des Gespensterglaubens, sobald sie ihre Wirklichkeiten zu Dingen herabwürdigt; aber der Scharfsinn des Tatsachendienstes verkehrt sich in seeleverneinenden Stumpfsinn, wann immer er seine Recheneinheiten emporschraubt zu - Wirklichkeiten! Man frage sich, was hüben und drüben die Regel, was die Ausnahme sei, und man wird wissen, von welcher Seite die grösseren Schrecknisse drohen" (W. 394).
Einer der fundamentalsten Gegensätze ist hier deutlich profiliert, derjenige zwischen sinnebeglaubigter Erscheinung (Phainomenon) und Gedankending (Noumenon). Schon die Eleaten haben ihn in aller Schärfe gesehen, und Platon hat ihn in aller Breite dargestellt. "Damit aber war das Thema gegeben, das die Entwicklung der zivilisierten' Menschheit fortan ins Unabsehliche variiert und weiterführt: das Thema der Entmächtigung des Phänomenalen durch das Noumenale, des Wirklichen durch das Begriffliche, des zeitlich fliessenden Geschehens durch das ausserzeitliche Sein" (W. 59).
Wie weit diese "Phantomisierung der Bilder" heute gediehen ist, zeigt sich in der Sucht des Kinobesuches und Fernsehgenusses, wo eine zumindest sekundäre Wirklichkeit, ein fades Surrogat entschwundener Erlebnismächte geboten wird. Dass die zunehmende Umsetzung in zweidimensionale Bilder - man denke hier auch an Illustrierte, Comic-Strips und populäre Lehrbücher - auch eine Verarmung und Verhunzung der Sprache fördert, sei nur am Rande erwähnt. H. E. Schröder hat im "Einführenden Vorwort" zum Band "Hestia 1967/69" zutreffend darauf hingewiesen, dass diese Flucht vor der Sprache auch eine Flucht vor dem eigenen Denken samt dessen Sachlichkeit oder Logik bedeutet. Wie sagte doch schon Rilke: "Mehr als je fallen die Dinge dahin, die erlebbaren, denn, was sie verdrängend ersetzt, ist ein Tun ohne Bild", das heisst, können wir ergänzen: ein Vegetieren in flachen Abbildern.
Halten wir hier fest: Lebenswelt und Geisteswelt sind nun einfach zwei verschiedene Welten, wenn auch ein kompliziertes Verbindungsgefüge zwischen ihnen besteht. Das zentrale Problem aller Philosophie ist und bleibt: sauber unterscheiden müssen, obwohl keine Trennung möglich ist (trotz W. XI).
Deshalb drehen sich grosse Abschnitte des Widersachers um das Zusammenspiel der beiden wesensverschiedenen, im Laufe der Menschheit wie der individuellen Existenz mit- und gegeneinander wirkenden Schicksalsmächte, deren Koppelung zu entrinnen nur in der Ekstase möglich ist, wo die Seele sich vom Geist befreit ("Vom Kosmogonischen Eros", 1922), wo die Schale des Eigenseins, des Ichs gesprengt, ja das Ich völlig vernichtet (W. 1254) und damit eine Welt der Bilder Herr über die Dinge oder Tatsachen wird (W. 267), kurz, wo "das Leben aufersteht" (KE, 1922, 48). Sonst aber bleibt der Mensch in der Spannung zwischen Bild und Ding, womit es darauf ankommt, dass er daran nicht zerbricht, sondern sie lebenserfüllt und dennoch sachlich meistert.
Dies ist auch das Kernproblem unserer Tage: Die "Zwiespältigkeit der Person" (W. 61-76) des Menschen ist manifester als je geworden, und sowohl der "Wille zur Macht" als auch zur Leistung werden immer breiteren Kreisen verdächtig. Man hat gemerkt, was Klages vor 40 Jahren bereits erfasste, "dass der vermeinte Besitzer des Willens in Wahrheit der Besessene des Willens geworden, Fanatiker des Rekordwahns, Marionette am Drahte der Machtsucht, Narr der Erfolgsraserei, Rennmaschine, geheizt und getrieben vom Irrsinn des Glaubens an das Idol der - grössten Zahl!" (W. 765).
Ob wir dabei an Olympische Spiele oder den von Sitzung zu Sitzung gehetzten Manager, an den Leistungszwang der Schule oder die Profitmaximierung von Grossunternehmen, an die Ausbeutung der Rohstoffe und Energiequellen, an die Verschandelung von Landschaften und Siedlungen oder die Vernichtung von Naturvölkern samt deren Sprachen und Kulturen denken, immer stellen wir fest, "dass der Mensch als Träger des Geistes sich mit dem Planeten, der ihn gebar, zerworfen habe" (W. XIX). "Entledigt der Lebenshülle und spottend des Mutterschosses, entledigt am Ende sogar des Widerstands der Naturgewalten (ausgenommen die eine: den Tod!) erzeugt und bezeugt sich frohlockend das nackte Ich; allein das Frohlocken erstirbt, noch ehe es Stimme gewann" (W.705).
In der Tat kommen dem heutigen Menschen Lobpreisungen des ingeniösen Geistes nicht mehr so leicht über die Lippen. Die Appelle zum Masshalten haben sich als wirkungslos erwiesen, und weder der Computer und die Pille noch die Mondlandung haben der Menschheit Frieden, ja nicht einmal Gleichberechtigung und Aufhebung von Armut und Hunger gebracht. Die heutige Welt ist erfüllt von pessimistischen Prognosen, stammen sie nun aus Büchern von verantwortlichen Wissenschaftern oder von Jugendlichen, welche sich aus Verzweiflung in Brutalität, Kriminalität oder den Drogenkonsum stürzen. Es ist bedauerlich, dass die Warnungen, die Klages seit seinem Vortrag am Fest der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meissner am Vorabend des Ersten Weltkriegs unbeirrt ausgesprochen hat, nicht beherzigt worden sind. Der Scherbenhaufen ist heute so gross, dass laut einem Essay vom 13. März dieses Jahres im amerikanischen Nachrichten-Magazin "Time" der Weisheit letzter Schluss zu lauten scheint: "Denken ist eine schlechte Gewohnheit" - Rettung bringt allein der neue Kult der Verrücktheit (madness); die Menschheit proklamiert erstmals ehrlich das Zeitalter der Unvernunft (The Age of Unreason [Diese Formel stammt freilich von Franz Alexander, der sich über den Zweiten Weltkrieg Gedanken machte (1946 dt.: "Irrationale Kräfte unserer Zeit")]).
Man kann schon sagen: Trotz oder gerade wegen aller Kybernetik und freien Marktwirtschaft, Ethologie und Linguistik - herrlich weit haben wir es gebracht.
Dabei hat Klages ganz deutlich den Weg gewiesen, was in unserer apokalyptischen Lage zu tun wäre. Es ist nicht nur ein Umdenken oder Neu-Überdenken, was Staats- und Wirtschaftsführer so gerne, modisch, fordern, es ist die "Umkehr". Damit ist kein "Retour à la nature!", nicht ein Zurücksinken in hemmungslose Triebhaftigkeit oder eben Irrationalität gemeint, sondern eine Besinnung auf die ungebrochene Fülle des Lebens, auf unsere Herkunft und unsere Fähigkeiten, auf die Möglichkeiten und Grenzen unseres Geistes.
Wir erleben heute eine Wiedererweckung fast aller Strömungen, welche die wechselvolle Geschichte der Menschheit je in Unruhe versetzt haben, seien es Natur- und Satanskulte, theosophische Bewegungen oder magische Praktiken, sei es die "Blut-und-Boden"-Mentalität oder plumpe Gewalt, sei es die Weltmathematik à la Raimundus Lullus und Leibniz - heute Systemanalyse und Operations Research genannt -, seien es Beat oder Pop oder eben der neue Verrücktheitskult der "radikalen Therapeuten" in den USA. Bald wird auch die Parapsychologie hoffähig sein, und Elektronik sowie Meinungsforschung werden unsere intimsten Sphären der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben. Was bei allem fehlt, ist die Verantwortung und der tragende Grund. Und diesen nun hat Klages bereitgestellt. Er ist, das muss deutlich gesagt werden, weder dem Irrationalismus noch dem Rationalismus verpflichtet (W. 1419), sondern er steht im Bereich der "Ehrfurcht vor dem Leben" (Albert Schweitzer).
Am Tag der wissenschaftlichen Begegnung, den die Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Basel 1970 veranstaltete, im selben Jahr, das dem Europäischen Naturschutz gewidmet war, wurde fast einstimmig gefordert: "Wir sollten wieder Herzensdenker werden". Das ist genau das Entscheidende: Dem Herzen mit seiner leidenschaftlichen Liebe des Lebens und zum Mitmenschen gehört gegenüber dem Kopf der Primat. Das bedeutet aber kein Verfallen in Schwärmerei und Träumerei, noch in ein mystisches Geraune und unverbindliches Fabulieren, sondern ein Denken, das unter der Leitung des Lebens steht. Das ist die von Klages angestrebte "Umkehr": dass der Geist wieder in die Dienstbarkeit des Lebens trete, dass der Mensch ein von Leben erfüllter Denker, Dichter und Schöpfer werde und sich aufs neue dem "Muttertum der Erde", dem unermesslichen Reichtum der Naturschätze und -schönheiten verpflichtet fühle.
Wohlverstanden, Klages ist weder Irrationalist noch Geistfeind. Was er bekämpft, ist die Loslösung des Geistes vom Leben, wenn sich dieser in den Dienst von Zwecken stellt, die wir unter den Bezeichnungen Macht, Gewinn, Besitz, Erfolg und Ansehen kennen und die vom Willen dem Leben abgezwungen werden. Diesem rücksichtslosen Streben nach Wachstum und Rekord - um den andern zu übertreffen -, diesem Geltungstrieb und Bemächtigungswillen setzt Klages den Wahrheitswillen und den Willen zum Werk entgegen, wobei der erstere nach Sachlichkeit trachtet und der zweite nach Vollkommenheit. Hören wir uns das in seinen Formulierungen an:
"Wir haben gezeigt, dass es ein geistesabhängiges und aber auch ein lebensabhängiges Denken gibt oder mit andern Worten ein geistesabhängiges und ein lebensabhängiges Urteilsvermögen. Das Urteilsvermögen ist beidemal dasselbe; aber die vitalen Impulse, die zu den entscheidenden Urteilsfällungen veranlassen, sind beidemal andre.
Wir haben ferner gezeigt, dass die auf höchster Ebene urteilender Besinnung allein noch mögliche Form der Lebensabhängigkeit des Geistes Logik oder Sachlichkeit heisst ... und dass nur mit ihrer Hilfe, niemals dagegen ohne sie Wahrheiten ermittelt werden ... Wir haben endlich aber auch dieses gezeigt: so gewiss Wahrheit niemals Wirklichkeit ist, so gewiss vermögen wir zu erkennen, zu wissen und folglich zu urteilen, der Zustand des Verflochtenseins in die Wirklichkeit sei unvergleichlich vollkommener als der des Suchens nach Wahrheit und des Findens von Wahrheiten oder, anders umschrieben, zum Erleben der Wirklichkeit verhalte sich das Finden von Wahrheiten ... wie zur Fülle der Mangel. Nur Wahrheit statt Wirklichkeit - das ist der geringste, darum nicht minder schmerzliche Preis, den wir dafür bezahlen müssen, dass wir dank dem Einbruch des Geistes ins Leben zur Haltung sachlich urteilender Besinnung ... befähigt wurden" (W. 1418 f).
Dies wäre gewissermassen die Seite des Denkens; die andre wäre die des Herzens, also des Gefühls und des Schaffens. Klages betont mehrfach, dass er den Schlüssel zum Wesen des Geistes nicht im Intellekt, wo das Auffassen, Begriffprägen und Urteilen stattfindet, sondern im Willen sehe: Mit dem Wachsen der Selbstherrlichkeit des Geistes muss die Sachlichkeit das Feld räumen, da das Denken mehr und mehr in den Dienst des Willens tritt, wobei "der Wille, je mehr er sich freimacht, desto mehr mit absoluter Willkür zur Deckung gelangt und ... demgemäss endlich der Geist schlechthin als die Tat an sich', der Geist im Organismus des Menschen als konstitutionelles Tatzentrum bestimmt werden muss; womit alles dahinfällt, was ... gegen die Auffassung vom Geist als dem Widersacher der Seele aus dem Gesichtspunkt vorgebracht wurde, es handle sich dabei um die Verwechslung eines Kampfes gegen ephemere Verstandeskulte mit metaphysischer Einsicht" (W. 1420).
Nicht also gegen den Intellektualismus tritt Klages auf, "denn der Intellekt in der Bedeutung des streng sachlich urteilenden Besinnungsvermögens bildet ja, im Gleichnis gesprochen, ein Zwischenreich, wo sich der Geist nur dank erheblichen Einräumungen an das Leben behauptet" (W. 1420). Wenn der Intellekt aber dem Willen geopfert wird, dann nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Das ist so weit gediehen, dass die "logisch absehbare Vernichtung des Lebens der Erde" bevorsteht - sofern nicht ein "Wunder" geschieht. Dieses Wunder, das Klages zu erhoffen wagt, da das Leben glücklicherweise nicht logischen Gesetzmässigkeiten gehorcht, ist die erwähnte Umkehr. Hierfür gibt es weder Programme noch Rezepte. Wir können nur festhalten, dass, gemäss Hölderlins Formel "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch", die Möglichkeit der Erneuerung besteht. (Otto Huth hat freilich vor kurzem darauf hingewiesen, dass jedoch der Einzelmensch die Atomisierung der Menschheit - W. 74 -, die Auflösung der symbiotischen Verbände - W. 1202 ff - nicht zu ändern vermag; auch Klages' Appell an die "führenden Schichten" im "Rückblick" des "Widersachers" vermochte das nicht.)
Wie sähe diese Wiedergeburt aus, die kein menschlicher Verstand voraussehen kann? "Indem der Träger des Umkehrwunsches grade nicht sich bestimmen liesse von Zukunftsgedanken (abgerechnet die jedesmal nächste, zu der ihn der Alltag verpflichtet), könnte er unmöglich auf dem Felde der Taten pflügen und nähme die unumgänglichen Fristen des blossen Wollenmüssens nur 'in den Kauf'. Er täte die Arbeit nie um der Arbeit willen, sondern, soweit sie nicht zu vermeiden wäre, zwecks Ermöglichung eines Daseins, das auf die meisten ,Ansprüche' zu verzichten vermöchte ausser auf den: periodische Stunden der Musse [vgl. KE, 1922, 160 f, 19303, 204f, 19687, 190f]. Dagegen hätte er einen Ehrgeiz, wenn anders das Ehrgeiz heissen darf: alles, was er tut, so vollkommen wie möglich zu verrichten. Denn, wie ihm die Tat gleichgültig oder nichtswürdig wäre, so wüsste er, dass mit dem Werk und mit ihm allein dem Menschen die Möglichkeit wurde, auf den Wegen des Tuns hinzugelangen zu einer, ob noch so bescheidenen, Art der Vollendung. Die Augenblicke des grossen Erlebens kommen oder kommen nicht, und sind sie gekommen, so gehen sie wieder: kein Wollen, keine Tätigkeit zwänge sie her. Allein jedes vollendet Geleistete beschenkt mit einer Minute des Glücks, das weit nicht das höchste und tiefste Glück, doch aber ein lauteres Glück, und zumal das einzige ist, das zu erwirken dem Menschen verliehen wurde" (W. 1424 f).
H. E. Schröder spricht in seinem Aufsatz "Der Tatmensch" ("Hestia 1963/64", 69) von der besonderen Aktualität, die Klages' Werk "innewohnt" und er betont, es "enthalte ein reiches Material zur Lösung von Gegenwartsfragen, aber nicht die Darstellung oder Behandlung irgendeines Zeitproblems. Nie entzündet sich sein Denken, Forschen und Schaffen an Aktualitäten; deshalb bleibt er ihnen gegenüber stets souverän. Aber er umgeht sie nicht, wo sie ihm begegnen. Und was er dann zu ihnen zu sagen hat, übertrifft an Tiefe der Einsicht, an Blickweite und an Aufdeckung ursächlicher Zusammenhänge alle anderen Beiträge zur Zeitproblematik. ... Seine Einsichten sind nicht bequem. Sie sind nicht geeignet, Sorgen zu beschwichtigen, über bestehende Gefahren hinwegzutäuschen, falsche Zuversichten zu wecken oder zu bestärken. Im Gegenteil, sie weisen auf Gefährdungen hin, die von anderen noch kaum erkannt worden sind!" So weit H. E. Schröder. Ihm ist vollumfänglich zuzustimmen: Die Aktualität einer jeden Philosophie erweist sich nicht in Zukunftsprojektionen, Lehr-Plänen oder moralischen Maximen - hierfür haben wir heute die Systemanalyse und mannigfache Weltverbesserungs-Ideologien -, sondern darin, dass sie einerseits mit der Ausbreitung, Sichtung und Deutung des unermesslichen Erbes der Menschheitsgeschichte - im Guten wie im Bösen -, anderseits mit Skepsis und permanenter Kritik sowie dem Entwurf von Alternativen (bei Klages bio- und logozentrisch; Kunst und Forschung) und Korrektiven (die Dienstbarkeit des Lebens, der Erde) den schwankenden, aber fruchtbaren Boden bereitet, auf dem der um Einsicht und Verantwortlichkeit Ringende, jeder einzelne, seine Saat pflanzen kann.
Dr. phil. Roland Müller,
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