Karl Jaspers - aus Distanz gesehen
Eine verpasste Chance? Zumindest zwei Ziele erreicht der gut dreihundertseitige Sammelband «Erinnerungen an Karl Jaspers» (Piper-Verlag, München, [1974]) nicht, obwohl sie auf der Rückseite des Schutzumschlags knapp formuliert sind: Weder wird der Mensch und Philosoph Jaspers «auch der jüngeren Generation» nahegebracht, noch zeigen die 34 Beiträge - zumeist mit dem einfallslosen Titel «Erinnerungen» und zumeist nach Jaspers' Tod am 26. Februar 1969 verfasst - «die philosophische und zeitgeschichtliche Dimension, aus der heraus seine Werke entstanden sind».
In ganz seltenen Fällen schimmern «die Tendenzen und Probleme der Epoche, mit denen Jaspers so eng verbunden war», auf. So etwa in einer für junge Leser unverständlich sich artikulierenden Auseinandersetzung von Eduard Baumgarten mit Jaspers über die Schuldproblematik oder in der Betrachtung Klaus Harpprechts.
Abgesehen von recht eindringlichen Schilderungen etwa von Renato de Rosa, Michael Landmann und vor allem Gerhard G. Knauss, bleibt die Persönlichkeit Jaspers' seltsam blass gezeichnet. Die meisten Beiträge geben die Beziehung Schüler beziehungsweise Student zu Professor wider. Sie sind von den Herausgebern Klaus Piper und Hans Saner mit Geschick und sinnvoll chronologisch geordnet. Manche damaligen Studienkollegen mögen Jaspers in den Skizzen wiedererkennen, doch für diejenigen, die Jaspers nie gesehen oder gesprochen haben, gewinnt sein Charakter wenig Profil. Das kann auch daran liegen, dass kein enger Freund des Ehepaars Gertrud und Karl Jaspers Zeugnis ablegt.
Gewiss gibt es ab und zu Sätze, die einen etwas kräftigeren Strich ins Bild bringen, etwas verklausuliert bei Gerhard F. Hering, informativ bei Thilo Kochs «folgenreichstem Interview», nämlich mit Jaspers im Frühling 1960 über die deutsche Wiedervereinigung, kritisch bei Xavier Tilliette, mit Stil in dem vierundzwanzigseitigen Briefwechsel mit Carl J. Burckhardt.
Das einzige Mal, wo die Distanz zwischen Schreibenden und Beschriebenem entfällt - die nicht zuletzt auf der Distanz der beiden legendären Ledersessel beruht, in denen Jaspers und seine vorwiegend allein geladenen Studenten und Gäste zu sitzen pflegten -, ist die nüchterne Darstellung der letzten Jahre und der Todesstunden durch seinen persönlichen Assistenten seit 1962, Hans Saner. Allein die wenigen Seiten über Jaspers' «langsames und mühevolles Sterben» mit «Souveränität und Würde» lohnen den Kauf dieses Bandes. Paradox fürwahr, sollten doch mit diesem Buch die «Lebensfreundlichkeit» (wie Rolf Hochhuth es nennt) des grossen Mannes und die Aktualität seiner Philosophie, der Rudolf Augstein allerdings «kaum Wirkung» zuspricht, der Nachwelt überliefert werden.
Erschienen im Tages-Anzeiger, 10. Mai 1974
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