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Ein stiller Philosoph setzte kräftige Akzente
«Physiologie der Kultur»
Zum Tod von Hans Rütter
Zum Tod des Verfassers der „Physiologie der Kultur“
siehe auch die Website:
Neue Zürcher Zeitung, 10. September 1997
Vor wenigen Tagen [Vergangene Woche] ist der Zürcher Philosoph Dr. Hans Rütter im Alter von 72 Jahren am Pilatus zu Tode gestürzt. Er war ein leidenschaftlicher Sportler, Segler, Schwimmer und Bergsteiger. Fern vom hochschulmässigen Lehrbetrieb hat er in bewundernswürdiger Selbständigkeit und Originalität ein denkerisches Werk geschaffen, das der Schweizer Philosophie kräftige Akzente verlieh.
Wer sich zu den Empfängern seiner schnörkellosen Briefe und Essays zählen durfte, erhielt einen direkten Einblick in ein unablässiges Ringen um die Sache selbst. Seine Belesenheit und Kenntnis der aktuellsten geistigen Strömungen war staunenswert. Von Kritik liess er sich nicht nur verständig, sondern auch gemütsmässig bewegen. „Kritik bekommt mir gut, tut mir gut“, schrieb er einmal. Aber er ging unbeirrt seinen Weg.
Hans Rütter wurde 1915 in Wädenswil geboren. 1945 promovierte er an der Universität Zürich bei Eberhard Grisebach mit einer Dissertation über Fichte, Schelling und Hegel («Ein klassisches Gespräch»). Eine Habilitation schlug er aus, vielmehr arbeitete er über zwei Jahrzehnte in einem Industrieunternehmen. (Manche Jahre konnte er daher einen andern Stillen im Lande finanziell unterstützen: Ludwig Hohl). 1962 liess er seine «Gedanken eines philosophischen Lastträgers» (Origo-Verlag, Zürich) unter dem Pseudonym Hans F. Geyer erscheinen. Zwei Jahre später zwangen ihn gesundheitliche Gründe, sich fortan nur noch der Philosophie zu widmen.
[Zwischentitel:] Dialektische Übungen und Gänge
Die Früchte seiner praktischen Erfahrungen wie seines Nachdenkens ordnete er im sechsbändigen «Philosophischen Tagebuch» (Rombach-Verlag, Freiburg i. Br., 1969-74). Mit weitausgreifenden Gebärden bringt er darin Welten und Zeiten zusammen. Die heraklitische Enantiodromie, das Auseinanderstreben und Ineinanderumschlagen der Gegensätze, insbesondere von Leib und Geist, Logos und Mythos, Kunst und Natur, Aussen und Innen bildet ein Leitmotiv. Auf diesem Hintergrund werden so spannungsgeladene Titel wie «Biologie der Logik» (Bd. IV) oder «Dialektik der Nacktheit» (Bd. V) verständlich. Freilich nötigen seine eigenwillige Gedankenführung und die manchmal harte, manchmal unscharfe Sprache dem Leser einiges ab. Nicht Analysen oder Abhandlungen werden vorgelegt, sondern strenge dialektische Übungen und Gänge, die mitvollzogen werden müsse.
Die «Tagebücher» und einige Rezensionen verschafften Hans Rütter in den siebziger Jahren manche Anerkennung: Er wurde unter anderem von den jugoslawischen «Praxis»-Philosophen auf die Insel Korcula eingeladen, an die Universität Tübingen für eine Vorlesungsreihe verpflichtet und in den Vorstand des «Engadiner Kollegiums» gewählt.
Die Leiblichkeit liess ihn nicht mehr los. 1985 brachte der Insel-Verlag (Frankfurt) endlich seine «Physiologie der Kultur» heraus, einen naturphilosophischen Versuch, «die Brücke von den Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften und zurück» zu schlagen. Er hätte den Auftakt eines dreibändigen Werkes bilden sollen. «Die Kritik der neurophysiologischen Vernunft» und der «Sturz der klassischen Vernunft» liegen noch auf der Werkbank.
Am 16. September wäre Hans Rütter von Radio Bern zu einem einstündigen Gespräch über „Gedanken und Natur“ eingeladen gewesen.
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