Home Was ist das: glückliches Leben?

 

Roche 1896-1971

Jubilee Symposium „The Challenge of Life“

Biomedical Progress and Human Values

Basel, August 31 to September 3, 1971

 

 

[Der schwergewichtige Tagungsband umfasst 456 Seiten und wurde herausgegeben von Robert Max Kunz und Has Fehr. Er erschien als Supplement 17 der Zeitschrift „Experientia“ im Verlag Birkhäuser, Basel, 1972.]

 

 

So gross der Aufmarsch wissenschaftlicher Koryphäen am Jubiläums-Symposium der Firma F. Hoffmann-La Roche in Basel war, so gross war die Enttäuschung über das, was herauskam - obwohl bereits im November letzten Jahres in Genf eine vorbereitende Konferenz stattgefunden hatte.

 

Das akademische Establishment war mit unter anderen vier Nobelpreisträgern und drei Lords fast - zum Beispiel ein Dutzend Mediziner, zwei Psychiater und vier Soziologen, aber kein Psychologe - vollzählig versammelt. Von den 37 "aktiven Teilnehmern" waren nur zwei, The Hon. Sir Roger Ormrod, Judge of the Royal High Court of Justice, sowie der 32jährige Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker nicht Professor, und von den 200 geladenen Gästen hatte nur jeder sechste (noch) keinen Doktortitel.

 

Es gelang, Fragestellungen zu klären und Problemfelder abzustecken, nicht aber, sich auf Lösungsmöglichkeiten zu einigen. Mehr konnte gerechterweise gar nicht erwartet werden - ein "Ereignis" wie das im Wortsinn "welterschütternde" Ciba-Symposium 1962 in London lässt sich nicht einfach wiederholen. Deshalb drückten der Forschungschef von Roche, Prof. Dr. Alfred Pletscher ("You called me auf of the bush"), und der Präsident des Verwaltungsrats, Dr. Adolf Walter Jann, abschliessend ihre Befriedigung darüber aus, dass wenigstens ein breites Spektrum von - allerdings nicht mehr ganz unbekannten - Problemen bewusst gemacht werden konnte.

Dies etwa unter den Stichworten: Konflikt, Paradoxie und Ungleichheit, Unwissenheit und Verwirrung, Kommunikation und Integration, Entscheidung und Ethos, Vorausschau, Vertrauen und Verantwortung.

 

Obwohl die Zeit wahrlich drängt und die Probleme uns bald über den Kopf wachsen, scheint man in der Bewältigung erst am Anfang zu stehen. Hat der Lernprozess, die Aufklärung und das Mündigwerden überhaupt schon eingesetzt?

Irgendwie scheint das alte Gesetz universell zu sein: Wir geben mit der einen Hand, was wir mit der andern nehmen. Nicht umsonst leitete der Chemiker Alexander Lord Todd die Schlusssitzung mit dem Faust-Zitat ein:

„Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“

 

Keine Auseinandersetzungen

 

Unter dern Vorsitz eines Moderators gaben etwa zwanzig Referenten eine je etwa viertelstündige Zusammenfassung ihrer vorwiegend in einem fast 200seitigen "Preprint" gedruckten Vorträge und diskutierten hernach mit ihren Kollegen auf dem Podium und aus dem Saal. Leider beschränkte sich das auf die Abgabe von Meinungsäusserungen, die meist wenig Bezug zum Votum des Vorredners hatten und oft in einer Wiederholung der im Referat aufgestellten Behauptungen bestanden.

 

Die Auseinandersetzungen können weder als sehr intensiv noch als hitzig bezeichnet werden, zumal sie sich gemäss der gediegenen Lokalität, in welcher sie stattfanden - in einem holzgetäferten, mit weichen roten Lehnsesseln ausgestatteten Hörsaal -, in einem gemessenen, in Wort und Gestik zurückhaltenden Rahmen abspielten.

 

Es blieb den weiblichen Teilnehmern vorbehalten, in die Behandlung des Themas "The Challenge of Life" etwas Leben zu bringen. Jeanne Hersch, die einst bei Karl Jaspers in Basel doktoriert hat, und Margaret Mead, die durch ihre Forschungen in Neu Guinea bekanntgewordene Anthropologin, schraubten die geistigen Höhenflüge auf menschliches Mass zurück, versuchten auch zwischen den starren Weltbildern zu vermitteln. Diese Frauen, unterstützt von Marie-Pierre Herzog von der philosophischen Abteilung der Unesco, Paris, zeigten echtes Engagement und betonten nachdrücklich, dass der Mensch mehr als nur ein physisches Objekt und ein psychischer Apparat ist.

 

Statt Gott: Sozialkybernetik

 

Demgegenüber bereiteten die Theologen Franz Böckle (ein gebürtiger Glarner in Bonn) und Jürgen Moltmann dem Zuhörer Beklemmung - nicht nur wegen der hochgestochenen Formulierungen. Es ist vielleicht zu scharf, wenn man von einem Verrat der Religion an Soziologie, Psychologie und Philosophie spricht, doch scheint es in der aktuellen Theologie eine Tendenz zu geben, sich um Gott und Jesus zu drücken und mit Ergebnissen aus andern Wissenschaften zu hausieren, die zwanzig bis fünfzig Jahre alt sind - aber mit pastoraler Stimme.

 

Der Biochemiker Philip Handler, Präsident der amerikanischen National Academy of Sciences, war denn auch entsetzt und meinte, dieses Symposium habe ihm bedauerlicherweise gezeigt, dass die Theorie C. P. Snows von den "Zwei Kulturen", das heisst von der unüberbrückbaren Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften doch stimme.

 

Auf die kulturellen Barrieren zwischen Europa und den USA wurde von mehreren Teilnehmern hingewiesen. Mit der sprachlichen Verständigung hatten manche Mühe ("Versuchskaninchen" ist im Englischen "Meerschweinchen"), und ein breiter Graben zeigte sich zwischen Pragmatikern und Theoretikern wie zwischen Optimisten und Pessimisten.

 

Alt, aber völlig gaga

 

Die Hauptprobleme der biomedizinischen Forschung und ihrer praktischen Anwendungen können hier nur angetippt werden:

"Wir leben immer länger und schlechter", meinte der französische Bevölkerungsforscher Alfred Sauvy. Die Medizin-Technik verlängert zwar das Leben, kann aber nichts gegen Senilität und Freudlosigkeit tun, vergrössert zudem die Überalterung der Bevölkerung und verschärft damit die Generationenkonflikte.

Gerade am Alternsproblem entzünden sich die Fragen nach dem totalen (?) Sinn des Lebens und dem "glücklichen Leben". "Wir müssen Leben zu den Jahren, nicht Jahre zum Leben hinzufügen", das heisst nicht das Leben verlängern, sondern frühzeitiges Altern verhindern.

 

Forschungsfreiheit

 

Dem Postulat nach viel mehr, intensiverer und "möglichst wenig" eingeschränkter und reglementierter Forschung – einen "freien Markt der Ideen" forderte der Genetiker Joshua Lederberg - stehen die begrenzten Geldmittel und die geringen Fachkenntnisse der Politiker (so Lord Todd und der Anatom Solly Lord Zuckerman) entgegen.

Das Basler "Institut für experimentelle Gerontologie", bei seiner Gründung das erste auf der Welt und heute von internationalem Ansehen, hat eben seine Tore geschlossen. Die Universität interessierte sich nicht sonderlich dafür, und die Regierung verweigerte den Übernahmekredit.

 

Über den Wert von Werten

 

Beim Wertproblem herrschte wohl die grösste Konfusion unter den Votanten. Wir müssten eine professionelle Moral entwickeln, Werte haben und beachten, wissen aber gar nicht, was Werte sind. Sind es europäische Vorurteile (so der Basler Soziologie in Wien Robert Reichardt), heissen sie heute "Menschenrechte", zum Beispiel Gesundheit und Erziehung (so der spanische Rechtsphilosoph Joaquin Ruiz-Giménez Cortés) oder "Normalität" (so der Luftfahrtmediziner Charles A.Berry) und "Wandel" (Margaret Mead, Jeanne Hersch) und lösen die "wirtschaftliche Produktivität“ beispielsweise die Markt- und Profit-Orientierung eines pharmazeutischen Unternehmens wie Roche ab (so der US-Soziologe Talcott Parsons)?

 

Macht heute die Suche nach Wahrheit (Wert: "Wissenschaft") einer Suche nach Hilfereichung (Service, Therapie, aber auch Prävention und Rehabilitation) Platz? Kommt nach dem "Kampf ums Dasein" das Streben nach Selbsterfüllung und "Friede im Dasein" (Jürgen Moltmann) oder der Kampf einerseits um die Individualisierung von Mann und Frau, anderseits um das Überleben der Menschheit als globaler und solidarischer (so der holländische philosophische Theologe Michael F. J. Marlet) Schicksalsgemeinschaft (Margaret Mead und der Biologe Salvador Eduard Luria)?

 

Prioritäten und Kontrolle

 

Eng damit in Zusammenhang steht die Frage nach dem Entscheiden: Wie setzen wir Prioritäten, Ziele, Massstäbe und Toleranzgrenzen, und zwar für die Forschung und Therapie wie für den einzelnen?

 

Der Biokybernetiker und Friedensforscher Ernst Ulrich von Weizsäcker sprach vom Ertragen von Unsicherheiten: "In komplexen Systemen muss mit einem Vertrauensvorschuss gearbeitet werden". Doch das fällt dem Wissenschafter, Politiker und Patienten schwer, wenn er einfach Beteuerungen hört, alle hätten ihr "very best" getan und seien sich der Probleme fast über-bewusst (so Philip Handler), manches müsse allerdings noch "verbessert" werden.

 

Auf Grund welcher Antriebe, Erwartungen und Interessen hilft der Arzt, wird geforscht und werden Kontrollen ausgeübt? Gibt es gar keine Manipulation, auch keine Moden? Wer weise um die Vielzahl der körperlichen, seelischen und sozialen Nebeneffekte?

 

Information und Kommunikation

 

Das Gespräch schon unter Wissenschaftern ist also sehr schwierig. Es zeigte sich auch in den USA, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit kaum realisierbar ist und in der Praxis wenig Anklang findet (Salvador Eduard Luria und Philip Handler), Zwischen Industrie, Hochschule, Regierung, Parlament und Verwaltung scheinen die Beziehungen in Grossbritannien am weitesten entwickelt zu sein; da wimmelt es nur so von Komitees (laut Max Lord Rosenheim).

 

Die Aufklärung der Öffentlichkeit über sich selbst (Alfred Sauvy), über die Wissenschaft, ihren Sinn, ihre Methoden, Auswirkungen und Gefahren, wie auch über die ärztliche Betreuung, ist wohl dass zentralste Problem. Der Kölner Soziologe René König prägte das Wort vom "Arzt als Droge". Selbst-Medikation, das heisst die eigenmächtige Einnahme von Beruhigungs- und Schmerzmitteln über lange Zeit, wird abgelehnt, aber resigniert als ständig zunehmend konstatiert.

 

Also muss man die Menschen über den Sinn, die Notwendigkeit von Leid und Widerstand aufklären: Der Mensch soll lernen, besser mit sich selbst und seinen kleinen Beschwerden .- zum Beispiel einer Erkältung -, Ängsten und seelischen Belastungen umzugehen. Aber wie? Genügt es, dass karrierestrebige und "ethisch mangelhaft ausgebildete" Ärzte und Forscher (so der US-Soziologe Bernard Barber) von oben herab sagen: „Ihr müsst eben mit Konflikten, mit entgegengesetzten Werten, mit Drogen leben“?

 

Wissenschafts-Journalisten fehlen

 

Über die Zusammenfassungen, welche eine Journalistengruppe im sonst gutgeführten Pressezentrum ausarbeitete und in hektographierten Blättern verbreitete, sollte des Sängers Höflichkeit schweigen, wenn nicht der Futurologe Robert Jungk und Joshua Lederberg die Finger gerade auf diesen wunden Punkt: die Beziehung Wissenschaft - Öffentlichkeit gelegt hätten,

 

Alles in Frage gestellt

 

Wenn man einen Spitalpatienten für eine Forschungsreihe heranziehen möchte, braucht man sein Einverständnis. Man spricht von "informed consent" und verlangt, dass er als Erwachsener - sowas musste ausdrücklich betont werden - verständlich und umfassend informiert werde.

 

Die erschütternde Fragwürdigkeit all des Oben Erwähnten, von Werten, von Mündigkeit und Freiheit wird in folgender kleiner Anekdote klar: Ein Forscher schrieb aus dem Lexikon alle möglichen schädlichen Wirkungen von Aspirin heraus, las sie den Patienten vor und fragte nach ihrer Zustimmung, sich einem Experiment mit dieser "Substanz" zu unterziehen. Fast hundert Prozent lehnten ab. Dann erst eröffnete er ihnen, dass es sich um Aspirin handle - worauf alle zum Mitmachen bereit waren.

 

Bildlegenden

 

Frauen retteten das Roche-Symposium: die 60jährige Genfer Philosophin Jeanne Hersch und die 70jährige Anthropologin Margaret Mead. Ihre Beiträge waren von echtem Leben und Besorgnis nicht nur um den Menschen, sondern auch um die Menschheit getragen.

 

Das mit diesem Symposium eingeweihte 250plätzige Auditorium der F. Hoffmann-La Roche & Co. AG. Ob die viertägige Veranstaltung dauerhafte Impulse gegeben hat, bleibt abzuwarten.

 

 

(erschienen unter dem Haupttitel „Roche Jubiläums- Symposium: Der Mensch und die Wissenschaft“ in den Basler Nachrichten, 9. September 1971;

der etwa gleichlange einleitende Bericht auf der gleichen Zeitungsseite stammte von Markus Merz)

 


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