Home Es scheint: Wir sind alle gespalten

 

Zu einer Tagung: „Erziehungsanstalten unter Beschuss“

 

erschienen in den Basler Nachrichten, 7. Dezember 1970

 

 

Mit gespalten ist etwas in Richtung "schizophren" gemeint, doch mit medizinischen Fachwörtern soll man nicht leichtfertig umgehen. Zwiespältig also präsentieren sich "die" Gesellschaft wie auch die etwa 450 Teilnehmer der reichbefrachteten zweitägigen Studientagung, die unter dem Patronat der Schweizerischen Landeskonferenz für Soziale Arbeit im Gottlieb Duttweiler-Institut in Rüschlikon stattfand.

 

 

Durch Berichte in Tageszeitungen und Zeitschriften wurden dieses Jahr verschiedene Missstände im Heim- und Anstaltswesen aufgedeckt, heftige Polemiken und politische Interventionen eröffnet. Eine gereizte Stimmung breitete sich aus.

Damit diese affektbetonte Kontroverse nicht weiter schwele und sich die Fronten nicht noch mehr verhärteten, traf man sich zur Aussprache. Das Interesse daran war so gross, dass infolge Platzmangel zweihundert Angemeldete "ausgeladen" werden mussten. Vorträge von Fachleuten und Podiumsgespräche in verschiedenster Zusammensetzung - von insgesamt etwa drei Dutzend Sprechern - sowie offene Diskussionen lösten einander in bunter Folge ab.

Ausserordentlich deutlich kam zum Ausdruck, was ein Initiant dieser Tagung, Professor Eduard Naegeli (St. Gallen), formulierte:

"In der Krise der Heimerziehung spiegelt sich die Krise der gesamten Menschheit wider."

 

Gesellschaft behandelt Dissoziale asozial

 

s ist unmöglich, die Fülle der Probleme, die zur Sprache kamen und die bis spät in die Nacht hinein diskutiert wurden auch nur zu skizzieren - die Vervielfältigungen, die verteilt wurden, ergaben fast hundert Seiten. Einige grundsätzliche Überlegungen können aber gemacht werden. "Die" Gesellschaft, zu der auch jeder der Anwesenden zu zählen war, benimmt sich den Asozialen - oder wie man nun sagt: den Dissozialen - gegenüber asozial: sie stösst sie aus, schiebt sie in Heime und Anstalten ab. Sie verlangt von ihnen Sühne und projiziert die Schuldgefühle auf die Anstalten, die als Sündenböcke unter Beschuss genommen werden. Prof. Naegeli bezeichnete das als irrationale Mechanismen der Öffentlichkeit. Prof. Ulrich Moser (Zürich) ging sogar soweit, Heime und ihre Insassen als Subkulturen zu bezeichnen, weshalb später ein Votant meinte, die Heimleiter und das Personal müssten sich eigentlich mit den Zöglingen solidarisieren.

 

Die Öffentlichkeit ist sehr wenig geneigt, Geldmittel für den Ausbau der Gebäulichkeiten und der menschlicheren Behandlungsmöglichkeiten bereitzustellen, auch nicht die Mittel für eine bessere Ausbildung und Entlöhnung des Personal. Auch den Helfern muss geholfen werden.

War im Plenum eine grosse Aufgeschlossenheit für Selbstkritik festzustellen, sich des Ungenügens des gegenwärtigen gesellschaftlichen Systems bewusst zu werden, so ging der Schuss hinten hinaus. Das zeigte sich erschütternd an zwei Beispielen. Als ein ehemaliger Tessenberg-Zögling bestimmt erklärte, die strenge Regelung in einer Anstalt müsse angenommen werden, da auch in der Gesellschaft "draussen" Ordnung herrsche und herrschen müsse, wurde mitleidiges Geraune laut. Ebenso als ein Amtsvormund beklagte, dass viele Heime nicht nur unter Angestellten-, sondern auch unter Insassenmangel litten, daher unrentabel seien und somit die öffentliche Hand belasteten. Die Gesellschaft zwingt ja Heimleiter, Behörden und Zöglinge in ihre Rollen.

 

Als Mensch anerkannt werden

 

Manche Diskussionen waren zäh, fanden in akademischer Höhe statt, zuckelten auf wackeligen Geleisen meilenweit an den Problemen vorbei. Das Gespräch ehemaliger Zöglinge (unter der Leitung von Dr. Willi Canziani, Zürich) führte auf den Boden der Realität zurück, und plötzlich sah alles ganz anders aus. Weder soziale Strukturen und Spannungsfelder, Orientierungs- und Zielkrisen der industriellen Wohlstands- und Konsumgesellschaft, die schon den Normalbürger weit überfordern, stehen im Fördergrund, sondern eines der tiefverwurzeltsten Bedürfnisse aller Menschen: als Mensch gesehen zu werden. Auch der Heiminsasse möchte als Mensch, nicht als Zögling anerkannt sowie in seiner Persönlichkeit gefördert werden. Er leidet darunter, dass sich niemand darum kümmert, wie es in seinem Innern aussieht, welche Ängste und Unsicherheiten er auszuhalten hat. Er möchte Vertrauen haben und geniessen können.

 

Am meisten bedauert wurde, dass der Anstaltsinsasse keine Vorbereitung auf das Leben "draussen", in der vermeintlichen Freiheit, in der vorgegaukelten "heilen Welt", wo man alles Schöne kaufen kann, erhält. Doch wie kann man ihn in eine Gesellschaft integrieren - oder resozialisieren -, die voll der widersprüchlichsten Anforderungen und Möglichkeiten ist, die von manchen als krank betrachtet wird, die sowohl den Traditionalisten wie den Revolutionär auslacht, den Überangepassten wie den Nichtangepassten bedauert und sich über Schönfärber wie Schwarzmaler, Sonderlinge, Kritiker und heftig sich Wehrende mockiert? Es besteht der Verdacht, dass da einem Kult der schweigenden oder schlafenden Mitte gehuldigt wird.

 

Erlenhof geht voran

 

Ein ausgezeichnetes Referat des Psychologen Gerhard Schaffner, der seit drei Monaten Leiter des Landheimes Erlenhof in Reinach ist, fand solche Zustimmung, dass die elf Thesen daraus für eine Resolution gewählt wurden, die, lange diskutiert, schliesslich nur noch um einige wenige Punkte ergänzt werden musste (siehe unten). Es sind Minimalvoraussetzungen für Reformen, die - unter Beachtung des bisher an einigen Orten bereits Geleisteten - verwirklicht werden müssen. Sie stellen einen eindringlichen Appell an die Öffentlichkeit und die verantwortlichen Behörden dar und verdienen unbedingt grösste Beachtung. Die Tagungsteilnehmer stimmten ihr mit vier Gegenstimmen und bei sechs Enthaltungen (vorgängig meldeten etwa vierzig Teilnehmer ihre Ablehnung an) applaudierend zu, im vollen Bewusstsein, dass es mit Proklamationen nicht getan ist, sondern den Worten sofort Taten zu folgen haben, ein ganzer Einsatz jedes Teilnehmers, den direkt Betroffenen zu helfen.

 

Paradoxe Forderungen

 

Einige Paradoxien verdienen jedoch Beachtung: Zwar wird die Presse zur breiten Unterstützung aufgefordert, doch wurde ein Antrag auf Erlaubnis unangemeldeter Besuche ausgewiesener Presseleute in Heimen und Anstalten stark abgelehnt - die Presse hat anscheinend eine sehr schlechte Presse. Hinzu kommt, dass ein Teil der Presse die Experimente ablehnt, die von einem andern Teil der Presse gefordert werden.

 

Wie bei den meisten Tagungen wurden auch diesmal die entscheidenden Probleme erst wenige Minuten vor Schluss erwähnt: Wir kurieren an Symptomen herum, statt nach den Ursachen zu fragen. Und diese Wurzeln jugendlicher Verwahrlosung und Renitenz liegen vorwiegend in gestörten Familienverhältnissen. Dass hierüber nicht gesprochen wurde, mag der Grund sein, dass der Vorschlag auf Einführung kostenloser Ehevorbereitungskurse mitleidig belächelt unterging.

 

Seltsam mutet auch an, dass in der Resolution die Intensivierung der Entwicklung alternativer Lösungen gefordert wird, der sehr ausführliche und begründete Katalog des Journalisten und Kommunemitglieds Rolf Thut (Herrliberg) aus der "Arbeitsgruppe für Heimzöglinge" jedoch auf wenig Gegenliebe stiess. Er verlangte die Unterstützung von jugendlichen Selbsthilfeorganisationen, von Jugendhotels und autonomen Jugendkollektiven.

 

Bedauerlich war ferner, dass weder die eingeladenen Vertreter der Behörden zahlreich erschienen, noch die vielgeschmähten Heimleiter sich rege zum Wort meldeten. Auch wenn ihnen mit den vielen kritischen und teilweise sicher unberechtigten Angriffen die Arbeit schwergemacht wird und die Massenmedien der Öffentlichkeit ein unerfreuliches Bild gemalt haben, hätten sie doch hier Gelegenheit gehabt, korrigierend einzugreifen.

 

Eines der grössten Dilemmas der nächsten Zukunft wird überdies sein: Wir müssen rasch entscheidende Schritte unternehmen. Um aber „die" ausstossende, autoritäre und rollenbefangene Gesellschaft - wie vielfach gefordert -, ihre Konzepte (deren Existenz auch bestritten wird) und die Heimerziehung zu ändern, brauchen wir noch viele und eingehende Forschungen der Soziologie, Sozialpsychologie, -psychiatrie, -pädagogik . Da steckt die Wissenschaft aber - von einigen Ansätzen abgesehen, die überdies vorwiegend unbeachtet blieben - noch in den Kinderschuhen.

 

Weiter ist die Schwierigkeit gross, für alle Beteiligten eine gemeinsame Sprache zu finden. Das hängt damit zusammen, dass von jedermann ein Doppeltes verlangt wird: fachliche Kompetenz, also Spezialistentum, und gleichzeitig die Fähigkeit zur Zusammenarbeit.

 

Die Wunden sind noch offen

 

Dass mit dieser hochinteressanten Tagung die vergiftete Atmosphäre geklärt wurde, ist erfreulich. Der Redaktor des "Beobachters", Josef Rennhard (Basel), versprach zur grossen Beruhigung der einsichtigen Teilnehmer, dass hiemit ein Schlussstrich unter die Hetze gezogen werden soll. Er plädierte für die Einrichtung eines Informationsdienstes, der von der Landeskonferenz für Soziale Arbeit getragen werden könnte. Zudem sollen die aufgeworfenen Fragen in Arbeitsgruppen weiterbehandelt und in einer erneut einzuberufenden Tagung vorgetragen werden.

 

Wie der Zürcher Psychiater Dr. Berthold Rothschild betonte, soll allerdings keine Einmütigkeit vorgetäuscht werden; die Auseinandersetzung muss mit allem Ernst und Einsatz weitergetrieben werden - die klaffenden Gräben sind noch keineswegs geschlossen. Es geht aber nicht an, dass der Schwarze Peter weiterhin im Kreis herumgeschoben wird.

 

 

 

«Erziehungsanstalten unter Beschuss»: Resolution

 

Die rund 450 Teilnehmer der Studientagung «Erziehungsanstalten unter Beschuss» stellten grundsätzlich fest,

  • dass Erziehungsheime Spiegel gesellschaftlicher Problematik sind. Es besteht die Gefahr, dass Erzieher und Institutionen zu Trägern überholt Systeme werden. Diese Tendenzen müssen daher reflektiert, kritisiert und bekämpft werden.
    Die Studientagung fordert zur Lösung der dringendsten Probleme.
  • dass Erziehungseinrichtungen für Jugendliche im Einzugsgebiet grösserer Städte liegen und nicht in ländlicher Abgeschiedenheit,
  • dass die Erziehungsarbeit in baulich überschaubaren Wohngruppen geleistet werden kann,
  • dass Bau und Betrieb entsprechender Einrichtungen gesamtschweizerisch - mindestens aber Bereich der Konkordats-Kantone – koordiniert werden sollten,
  • dass mehr fachlich qualifiziertes Personal bewilligt wird,
  • dass die Mitarbeiter mit den verschiedensten Spezialausbildungen in interdisziplinärer Weise zusammenarbeiten,
  • dass risikofreudige Mitarbeiter angefangene Experimente zu Ende führen,
  • dass grössere Projekte nicht mehr allein von der Privatinitiative, sondern vom Verständnis der Behörden und Aufsichtskommissionen getragen werden müssen,
  • dass die Massenmedien, insbesondere die Lokalpresse, die Arbeit unterstützt,
  • dass auf die Mitarbeit der Hochschulen und damit auch auf die Forschungsergebnisse nicht verzichtet werden kann,
  • dass das Wohlwollen der Gesellschaft und die Mitarbeit eines Einzelnen nötig sind,
  • dass unsere Heime und Anstalten auf eine vernünftige finanzielle Grundlage gestellt, mithin die Beiträge von Bund, Kantonen und Gemeinden ganz erheblich erhöht werden,
  • dass jugendliche Verwahrloste als sozialinfirm von der IV erfasst werden und Institutionen und Organisationen, die hier betreuend wirken, die gleichen Leistungen erhalten, wie die vom Bundesamt für Sozialversicherung unterstützten Institutionen und Heime der IV,
  • dass der Ausbau der ambulanten Beratungs- und Betreuungsdienste sowie die Entwicklung alternativer Lösungen intensiviert wird,
  • dass baldmöglichst die im revidierten Gesetz vorgesehenen Spezialheime (Therapieheim, Trainingsanstalt) geschaffen werden,
  • dass auf gesamtschweizerischer Ebene eine behördliche Planungskommission eingesetzt wird und
  • dass das Heimpersonal erheblich besser entlöhnt wird.

 

Diese Punkte werden auch als Minimalforderungen für sämtliche Institutionen, die sich mit Kindern befassen (also auch Kinderkrippen und -heime) bezeichnet.

 

Die Tagung fordert ferner die Abschaffung aller menschenunwürdigen Zustände und aller brutalen Formen von Disziplinarmassnahmen, Schikanen, Demütigungen und Kränkungen (wie Haareabschneiden, Dunkelhaft, Isolier- und Besinnungszelle, Kostschmälerung, C-Gruppen-System und ähnliches).

Die Heimzöglinge müssen ab sofort spüren, dass diese Tagung engagierter Menschen stattgefunden hat.

 


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