Eigenständigkeit der Ethik gegenüber Natur und Religion
Von Erich Brock
Einleitungskapitel zum Buch von Erich Brock: Befreiung und Erfüllung – Grundlinien der Ethik. Zürich: Artemis 1958, 5-14.
Alle Moral besteht aus Gebot und Verbot. Ethik ist Philosophie über Moral; ihre Aufgabe ist, das moralische Gebot und Verbot vernünftig zu begründen; das heißt vor allem, Gebot und Verbot auf ein Prinzip zurückzuführen. Denn alle Philosophie zielt auf Einheit, entweder durch die einfache Weglassung des sich ihr nicht Einfügenden, Verneinten, des theoretisch Verbotenen - oder durch seine irgendwie geartete Einbeziehung mittels Umschaffung ins Bejahbare. Das, was endgültig draußen bleibt, erscheint zum Schluß auf diese oder jene Art als das Nichtige, nicht Seiende, nicht Vorhandene. Allerdings gibt es auch philosophische Weltbilder, in welchen das Negative dauernd beharrt. Entweder handelt es sich dabei um Philosophien, deren Antrieb wider Willen, bloß praktisch, sogar vielleicht unbewußt in der Mitte hängen bleibt. Oder die Bescheidung erfolgt bewußt, aus einem Begriff vom Wesen der Sache heraus. Daß damit dann die Philosophie auf Erfüllung ihrer unnachlasslichen Aufgabe umfassender Einheitssetzung verzichtet, liegt daran, daß dies Weltbilder sind, die mehr oder minder auf Objektivation der Moral beruhen. Das Negative in solchem Weltbild ist somit im Kern das Böse.
Schon gar in aller Ethik, die bei sich selbst bleibt, ist das Negative das Böse, und damit unwegdeutbar. Wo dagegen die Einheit wirklich erreicht wird, gibt es kein Negatives, der Einheit Entgegengesetztes, Böses mehr. Weder in der Natur noch in Gott gibt es Böses. Kann daher die Ethik wirklich philosophisch sein? Muß sie nicht ein Teilbezirk bleiben, der nicht zum Ganzen ausgeweitet wird, und damit unphilosophisch?
Doch schon eine kurze Überlegung lehrt, daß die Philosophie selber in diesem Sinne unphilosophisch ist. Alle fruchtbaren Philosophien leben unterhalb ihres Vernunftprinzips; sonst sind sie zu Ende, ehe sie angefangen haben. Sie leben im Widerspruch, in der Prinzipien-Vielheit, oder näher: im Widerspruch zwischen Vielheit und Einheit - weil sie wissen oder fühlen, daß dieser Widerspruch nie rein rational aufzulösen ist. Trotzdem geben sie den Anspruch auf Einheit nicht auf; sonst wären sie gleichfalls zu Ende, ehe sie angefangen. Doch allerdings ist die Beschlossenheit im Widerspruch und im Gegensatz bei der Ethik ganz besonders stark. So stark, daß man zweifeln kann, ob nicht die Formel des theoretischen Widerspruchs Ja-Nein erst von dem ethischen Urbild des Widerspruchs Gut-Böse abgezogen sei. Wenn schon die theoretische Philosophie nicht, ohne ins Leere zu geraten, die ernstliche Durchdenkung und Durchkämpfung des Widerspruchs zu Gunsten der Einheit vernachlässigen darf, so hat sich die Ethik doppelt klar und lange von allem schlechthin Einen abzusetzen, um ihr Geschäft auf dem eigenen Boden, dem des Gebots und Verbotes, so weit wie möglich zu Ende zu treiben.
Die Einheit stellt sich, wie angedeutet, als Natur und als Religion dar. Die Ethik in Naturwissenschaft aufzulösen, ist größtenteils aufgegeben worden. Zwar kann und soll die Ethik aus Seelenkunde, Völkerkunde, Geschichte und Gesellschaftswissenschaft ungemein viel lernen; vor allem auch so viel über die Menschennatur, um zu erkennen, was bei aller Notwendigkeit, die Natur zu überhöhen, doch von jener überhaupt sinnvoller Weise gefordert werden kann. Daß aber Beschreibung von tatsächlich jetzt, hier, dort, dann geltenden sittlichen Forderungen etwas grundlegend anderes ist, als diese Forderungen wirklich zu erheben, zu begründen, anzuerkennen - das ist doch heute ziemlich allgemein eingesehen.
Ist also Ethik nicht in Natur auflösbar, so erhebt sich noch die oft bejahte Frage, ob sie letztlich in Religion aufgelöst werden kann und soll. Wenn man Religion als statutarisch offenbarte auffaßt und sich auf deren Standpunkt stellt, so ist die Frage positiv entschieden. Denn es gibt keine solche Religion, welche in ihren Formeln nicht auch ein Gefüge von moralischen Geboten und Verboten einschlösse, als deren Begründung eben dann der nicht weiter begründbare Willen Gottes gegeben wird. An diese Offenbarungen muß geglaubt oder nicht geglaubt werden; die Wissenschaft hat dabei nichts mehr zu tun. Ein solcher Glaubensakt in Bezug auf Einzelnes, das inhaltlich als übernatürlich eingeklammert wird, hat natürlich mit dem umfassenden Glaubensakt, dem Glauben an Sinn, fast nichts zu schaffen, auf dem alle Wissenschaft - und noch offenbarer alle eigentlichere Religion letztlich beruht. Was nun eine solche mehr esoterische, unmittelbar erfahrbare Form der Religion anlangt, so kann dabei die Ethik höchstens als eine Art Ausführungsgesetz zu einem allgenugsamen Grundgesetz der Gotteshingabe gelten. Ja, wenn Augustin sagt: Liebe und tue, was du willst- so bleibt der Ethik nicht einmal mehr die Rolle einer Einzeltechnik. Es gibt dann außer diesem einen keinen andern Imperativ mehr, sondern nur noch ein nachtwandlerisches Handeln aus einer zweiten Natur heraus.
Ethik aber soll gewiß immer aus einem Grundprinzip entfaltet werden, doch sie bleibt dabei auch immer ein Gefüge von Geboten und Verboten, die eine gewisse Selbständigkeit bewahren, mindestens in dem Sinne, daß für den Einzelfall erstens eine besondere, nicht nur eine logisch einordnende theoretische Besinnung, und zweitens ein praktisches, Gebot und Verbot erst ganz konkret machendes Herausringen dieser beiden Geltungen erforderlich wird.
Ethik aber bewahrt auch darin ihre Selbständigkeit gegenüber der Religion, daß diese, wie heute wohl auch weithin eingesehen ist, mindestens in ihren inständigeren Formen weithin Typus-Sache ist; von Moral dagegen ist niemand losgesprochen. Schuldigkeit und Schuld sind Tatsachen, die unterhalb jeder Frage einer Gottesbeziehung in Kraft stehen. Es ist unter Umständen erlaubt, die Frage der Existenz Gottes dahingestellt sein zu lassen, nie aber die Frage, ob man weiterleben und für sich wie auch für die Andern da sein solle. Ja, wenn nur so dieser Pflicht zu genügen ist, kann es zur nackten Schuldigkeit werden, an Gott zu glauben - was zu tiefgreifenden Dialektiken mit dem theoretischen Wahrheitsbegriff führen kann.
Abgesehen davon aber Religion denen aufzunötigen, die keinen eigentlichen Zugang zu ihr haben, wäre jedenfalls nur dann nötig, wenn dieselben darum durchschnittlich weniger moralisch wären. (Ob die Aufnötigung möglich wäre, bliebe noch eine Frage für sich.) Diese moralische Minderwertigkeit ist aber im allgemeinen nicht vorhanden. Ja, die Religion scheidet viele Gifte ab, gerade auch im Maße ihrer Inständigkeit, vor denen der irreligiöse (nicht: antireligiöse) Mensch bewahrt bleibt. Für frühere Zeiten denke man z. B. an die Ketzerverfolgungen mit allen ihren geistigen und materiellen Greueln; für die heutige an das ganze Gefüge geistiger Entartung, welches Nietzsche unter dem Titel «Sklavenaufstand» beschrieben hat. Tiefer führt es, wenn wir beachten, was denn der religionslose Typ positiv ist. Der spezifisch religiöse Mensch nimmt sein Ich absolut; denn um sein Ich absolut hinzugeben, muß man es zuerst absolutnehmen und absolut halten. Weil er letzteres tut, fürchtet er sich. Nur auf den höchsten Stufen wird das überwunden, und dann immer zunächst und für lange nur ausdrücklich und durch völliges Auf-den-Kopf-stellen des ganzen Weltverhältnisses. Erst die letzte Wendung bringt die Freiheit; und wieviele dringen so weit?
Unter den religionslosen Menschen gibt es solche, die von Natur nahezu ohne ausdrückliches Ich sind, und dies oft nicht im Sinne von Schwäche, sondern von Kraft. Es sind z. B. die sehr neuzeitlichen Typen, die Ernst damit gemacht haben, daß «Gott tot ist», und darum kein Ich haben: man findet sie etwa unter Seeleuten, Soldaten, Bergleuten, Arbeitern in gefährdeten Bereichen. Sie haben nur eine Religion, die Kameradschaft, und für diese können sie alles tun; ihr Ich ist nur Teil des Kollektivs - und ist eine Sache geworden, vielleicht auch darum, weil sie nicht anders ganz unter Sachen, Gegenständen, Artefakten und dem hemmungslosen Getriebe von deren Gemachtwerden existieren können. Und weil ihr Ich sich derart in anonymer Gliedschaft und in Dinglichkeit aufgelöst hat, fürchten sie sich nicht, sondern können im Ungesicherten leben. Abgesehen davon, daß solchen in der Freizeit etwas vom Ich wiederaufleben mag, so bietet sich doch auch sonst trotzdem ein Glück für sie, wie es sich gerade nur dem Ungesicherten gibt; ein nicht ganz ausdrückliches, denn sie greifen nicht so systematisch darnach, wie es der religiöse Mensch tut. Auch in der Wissenschaft gibt es ähnliche Haltungen.
Von anderer Art ist die Religionslosigkeit des Bürgers. Der Bürger hat ein Ich, aber es ist gesichert. Der Bürger, und das soll hier im guten Sinne gelten, lebt im Gesicherten, und diese Sicherung beruht auf dreierlei. Erstens darauf, daß im guten Falle, und ihn allein betrachten wir ja hier, eine unausdrückliche, eingefaltete, nicht zur Ausfaltung bestimmte Beziehung zum Transzendenten besteht, mittels einer inneren Selbstbeschränkung, die auf tiefen positiven Gründen ruhen kann. Zweitens, weil dieser Bürgertyp auch zu den äußeren Beschränkungen, die Sicherheit verbürgen, ja sagt. Sein Element ist ein gewisser Patriarchalismus, welcher in den festen, gleichbleibenden Elementen des Lebens, im Beruf, in Ehe und Familie, an dem gegebenen Wohnplatz ausharrt und sie nicht ausdrücklich nach ihrem täglichen Befriedigungswert befragt. Der neuzeitliche, entwurzelte Typ, der jeden Tag nachrechnet und aus allem flieht, was nichts Unmittelbares abwirft, ist der unmittelbaren, ausdrücklichen Religion verwandter als der Bürger. Wen hungert und dürstet nach Vergnügen, nach Lust, nach Lebensgefühl, nach Erfüllungen, Ausfüllungen - den wird (sicherlich häufig gar nicht, aber doch) vielleicht eher hungern und dürsten nach dem Reiche Gottes; und das ist jedenfalls ein sehr evangelischer Gedanke. Drittens ist der Bürger gesichert nicht nur durch Festhalten an den gegebenen Strukturen des äußeren Daseins, sondern auch durch Festhalten an einem geschlossenen System von ethischen und konventionellen Sinngebungen. Hierdurch wird jedes dialektische In-Bewegung-bringen der äußeren und der inneren Welt verhindert, was mindestens gegenüber allen eitlen Abgrundsphilosophien von restlos positiver Bedeutung ist. Dieses Abbiegen der Dialektik verhindert, daß eine spezifische Dämonie des Rationalen, des Vernünftigen und des Guten entstehe - oder mindestens die Einsicht in eine solche, womit unter Umständen eine Möglichkeit ihrer laufenden Selbstheilung offengehalten ist. Eine derartige Dämonie ist das Ende der bloßen Ethik, der Beschlossenheit in guter Festigkeit und in Festigkeit des Guten.
Wenn das Gute in eine eigentliche Dialektik mit dem Bösen eintritt, wenn es nur noch als die verstümmelte Hälfte des Seins erscheint, wenn allmächtige Sehnsucht nach dem Einen aufspringt, verbunden mit dem Gefühl, durch die Zerspaltung, zu welcher auch die Ethik gehört, vom Allumfassenden abgeschnitten zu sein, wenn eine Entzündung an den Schnittflächen dieses Einen auftritt - dann ist die Stunde der Religion gekommen, die auf diese Weise zum übervernünftigen, überguten Einen mit all seiner furchtbaren Problematik aufbricht. In der Religion gibt es keine Genüge unterhalb des seienden Guten; die Ethik macht halt beim geltenden Guten. Das geltende Gute ist gegen das Böse gestemmt, das seiende Gute hat kein Gegenüber mehr. Dieses Gute ist überrational, jenes ist rational.
Soll das nun heißen, daß die Ethik als mindestens auf wissenschaftliche Weise behandeltes System undialektisch, einbahnig durchzubilden sei? Nun, auf dieser Bahn kann sie sehr weit führen. Sie hat dann den Vorzug, sich soweit in Reih und Glied mit dem volkstümlichen Bewußtsein zu halten, für welches die Sittlichkeit als kategorische durchaus an ihre in jeder Hinsicht geltende Eindeutigkeit geknüpft ist. (Dieses Verhältnis teilt sie übrigens weitgehend mit der Religion.) Aber indem wir die Erscheinung und das Bewußtsein des Moralischen so scharf wie möglich in sich selbst durchbilden, kommt unbedingt der Augenblick, wo die Begriffsbildung zu Polaritäten, Gegenseitigkeiten, Rückläufigkeiten, Rückbezogenheiten, immer erneuten durch den Gegensatz hindurchgehenden Bewegungen führt. Und es wäre verfehlt, sich diesen Eigenbekundungen des geistigen Stoffes zu versagen - um so mehr als System im letzten Sinne doch nur ein Kräftespiel, etwas dynamisch Dialektisches sein kann. Ein dialektisches System läßt sich zwar immer weitgehend in sich zurückflechten; auch hier werden wir uns nur dem letzten Zwang der Sache beugen, wenn wir schließlich doch gegen die Ränder getrieben werden, wo die polare Gabelung jedes Begriffs nicht mehr auf rationale Weise übergriffen werden kann. Diese Ränder beginnen selbstverständlich gerade da, wo das Zweiheitliche, Gegensätzliche, Viele in ein Verhältnis zum Einen gesetzt werden muß und will; und so wäre die Ethik auszuspannen zwischen dem Aufbruch ihres Gut und Böse aus der einheitlichen Natur und seiner Hinaufkunft in das Eine der Religion.
Würde dies so verstanden, daß die Ethik gegenüber der Religion eine niedrigere Stufe menschlichen Höherstrebens bedeute, so wäre das ein Mißverständnis. Das Göttliche ist über allem Menschlichen, und das gerade im Zusammenhang damit, daß es eins ist jenseits allen Gegensatzes. Aber Religion ist nicht göttlich, sondern menschlich; göttlich ist nur Gott. Das Menschliche ist gemischt und soll es sein; es baut sich zum Werte nur zwischen den Extremen, welche für sich und rein herauspräpariert sinnlos und zerstörend sind. «Reine» Religion als greifbare, menschliche will jenes Eine ins Leben hineinbilden. Sie strebt aus dessen zerreißendem Gegensatz von Gut und Böse hinaus zu der allumfassenden Einheit Gottes und will diesen Gegensatz ganz hinter sich lassen. Aber für menschliches Denken und Wollen wird die Einheit immer nur konkret, indem sie selbst wieder der Gegensatz zum Gegensatz ist. Menschliches Denken und Wollen kann den Ernst von Gut und Böse nicht überspringen.
In der Geschichte der Religion hat es dieses Überspringenwollen immer wieder gegeben, in dem amoralischen «Antinomismus». Er sucht einen andern Weg zur göttlichen Einheit als den durch den Ernst von Gut und Böse hindurch, welcher nie anlangt. Der «rein» religiöse Mensch ist ganz ohne die Verstrickung und Verfestigung in diesen Gegensatz; er besitzt die Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf einmal aus der Natur, aus der Sünde in die Einheit göttlichen Lebens hineinzuschwingen, von einem Extrem ins andere. Dies geschieht folgendermaßen. Natur und Sünde sind selbst schon Zustände der Einheit und Absolutheit bei ihm. Denn die Sünde betrifft hier nicht einzelne umrissene Fehler oder Fehltritte, sondern einen Gesamtzustand radikaler Verworfenheit und Schuld gegen alle und alles. Dieser Sündenstand nimmt dadurch, daß er erkannt und vor allem bekannt wird, durch die Selbsterniedrigung dabei eine Beweglichkeit und Verflüssigung an, die den Menschen mit einem Schwung in die Vergebung und dadurch in die göttliche Reinheit hineinschwemmt. Das Gefühl für die bloße Einheit des Zustands ist dabei gegenüber allem Inhalt zu ersehnt, bleibt aber ohne gegensätzlichen Wechsel des Inhalts doch zu wenig gegenwärtig - als daß der Mensch von da nicht wieder in die «Sünde» zurücksinken sollte. Er fällt also damit ja nicht aus der Einheit des Zustandes heraus, und nichts hindert dann, das weiterschwingende Hin und Her zwischen Sünde und Gotteinung mehr oder minder gewähren zu lassen. Praktisch kommt es da oft zu einer unscheidbar einheitlichen Mischung von Gut und Böse, die völlig naturhaften, gewissermaßen katzenartigen Charakter annimmt. Wer erkennt in dieser Einseitigkeit nicht den Christen etwa in Dostojewskis Schau wieder - aber dahinter auch gewisse, daselbst allerdings ethisch gemilderte Züge des Evangeliums?
Dem gegenüber wird auch das andere Extrem, die «reine» Moral ihren allzumenschlichen, ungenügenden Charakter zeigen. Wenn der Gegensatz von Gut und Böse sich zum Absoluten verhärtet, so führt das zu einer Verholzung des gesamten Lebens, welche alles menschliche oder philosophische Stehenbleiben an diesem Punkte nur noch durch völlige Unempfindlichkeit gegenüber der eigenen Dämonisierung oder durch eine gewisse Heuchelei ermöglicht.
Die Fruchtbarkeit läge also in der Mitte, in der Zusammenfügung der beiden «reinen» Extreme; und insofern könnte man leicht auf den Verdacht kommen, daß eine reine Ethik wie eine reine Religionsphilosophie nur analytisch sinnvoll wäre. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß einerseits zunächst der rationale Bau des Geistes errichtet und durchgeführt werden muß, ehe seine höhere dialektische Bedingtheit in Erscheinung treten kann. Und das Eine kann dabei unterhalb der Dialektik bleiben. Denn es ist das Leben, welches in besonderem Maße den Stoff bedeutet, in dem die Ethik arbeitet; die unreflektierte Einheit des Lebens stammt aber weitgehend von der Natur her. Eine Ethik, welche die naturhafte Einheit des Lebens nur als das Böse behandelt, ist heute kaum noch in Frage. Infolgedessen hat es seinen wesenhaften Sinn, daß eher die Ethik als die Religionsphilosophie zunächst selbständig durchzuführen wäre; denn die letztere sieht sich vom ersten Schritt hineingezogen in die Dialektik zwischen dem Einen, wie es in sich ist, und dem Einen, wie es im Bereich des Menschlichen erscheint. Die Ethik dagegen kann mit gutem Recht in der Bahn jener undialektischen Eingleisigkeit antreten, die man, wenn man will, rationalistisch nennen mag.
In der Ethik gilt also zunächst und auf lange hin der Imperativ des Eindeutigen, Festen. Das kommt schon in der Wortbezeichnung zum Ausdruck. In diesem Sinne kommt Ethik von griechisch ethos, welches irgendwie Festes bedeutet: Besitz, Heimat. «Sitz» scheint etymologisch allerdings nicht unmittelbar mit «Sitte» zu tun zu haben. Gr. Ethos bedeutet weiter im Sinne des Festen Gebrauch, Gewohnheit (lat. suetus), ferner die tiefere Artung des Menschen (Eigenart, über idg. *se = sich), seinen intelligiblen, überindividuellen («Sippe») Charakter im Gegensatz zu vorübergehenden, zufälligen Leidenschaften und Affekten.
In all dem ist dreierlei schon durch die noch keimhafte Weisheit der Sprache angedeutet: Das Ausharren im Bleibenden, dessen Verfestigung zur Übereinkunft, daraus allmähliche Herausbildung der autonomen, mit dem innersten «Sich» des Menschen zusammenhängenden Normalität.
Der Übergang je vom tatsächlich Geltenden zur Sitte und von der Sitte zur Sittlichkeit ist stark an die gesellschaftliche Schichtung gebunden. Die Sitte (mores, Moral) wird von der Oberschicht diktiert und spiegelt deren Artung oder Wunschbild wieder. Die «besseren Leute» bestimmen dann auf lange Zeit über den Inhalt des Guten. Wer obenauf ist, hat ein Interesse, daß das so bleibe, daß die Verhältnisse fest, beharrend sind. Das Feste, Bleibende erweckt sofort das günstige Vorurteil des Rechtmäßigen, Gültigen. Das Feste, Tatsächliche allein genügt nämlich nicht. Es wird da immer einem angeblich oder wirklich regellos Wechselnden eine andere Instanz gegenübergestellt, die ihm aus höherer Würde zumutet, sich nach bestimmten, festen und damit einschränkenden Regeln zu verhalten. Einschränkungen sind es gegenüber der ganzen Breite des je Willkürlichen: also Verbote. Und so ist auch das Gebot zu bestimmten positiven Handlungen eine Einschränkung, ein Verbot gegenüber der allfälligen Laune, dies nun gerade nicht zu tun.
Also bestimmte Dinge werden gesollt, andere werden nicht gedurft.
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